Freitag, 13. Oktober 2023

Dissident Carl Gibson landet in Frankfurt: Die Ankunft in Deutschland ... vor 44 Jahren, ausgereist aus Ceausescus roter Diktatur - und heute ... immer noch ein "Gast" im deutschen Vaterland!? Der 13. Oktober - ein persönliches Jubiläum - mit Auszügen aus dem Testimonium "Symphonie der Freiheit", 2008!

 

 

Dissident Carl Gibson landet in Frankfurt: Die Ankunft in Deutschland ... vor 44 Jahren, ausgereist aus Ceausescus roter Diktatur - 

und heute ... immer noch ein "Gast" im deutschen Vaterland!?

Der 13. Oktober - ein persönliches Jubiläum -  

mit Auszügen aus dem Testimonium "Symphonie der Freiheit", 2008!

 

Es war im Jahr 1979 - Frankfurter Flughafen: 

Der Dissident Carl Gibson geht von Bord, von Bukarest aus in die Freiheit gestartet.

Am 4. Oktober 1979 war ich aus dem Gefängnis in Temeschburg entlassen worden.  

Vater, Mutter und Bruder waren bereits im August ausgereist.

Meine Ankunft und das politische Wirken danach 

(als Kronzeuge der UNO-Klage gegen die Regierung Ceausescus) schildere ich in meinem Testimonium

 

"Symphonie der Freiheit", 2008.

 

(Ich hatte, abgelenkt durch andere Dinge, das Datum vergessen - wurde aber daran erinnert ... und bringe nun diese Auszüge, für Leser, die es interessiert!)

Eine Neuauflage ist seit Jahren überfällig. 

 

 


Carl Gibson, 

Natur- und Lebensphilosoph, ethisch ausgerichteter Zeitkritiker, politischer Essayist,

Naturfotograf, im März 2022



Mehr zu Carl Gibson, Autor,  (Vita, Bibliographie) hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)



https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/

 Bücher von Carl Gibson, zum Teil noch lieferbar.



Copyright: Carl Gibson 2022.

 

 

Hier Auszüge aus dem - seit vielen Jahren vergriffenen - Werk:

 

4. Satz: Fuga - Reaktion




Allegro con spirito

 Die letzte Reise nach Bukarest


Nie wieder Bolero! Acht Tage nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis begab ich mich in Begleitung meines Neffen Günther auf die letzte Reise in die Hauptstadt. Während der Bolero im Ohr seinem Höhepunkt zustrebte, wurde es im ganzen Schädel so laut, als müsse er zerspringen. Das Tosen der Musik folgte der Anspannung der Sinne. Je näher ich dem Ziel kam, endlich für immer auszubrechen, desto höher wurde der Innendruck. In der Hauptstadt angekommen, war ich nur noch ein Nervenbündel. Ein letztes Mal besuchte ich die Deutsche Botschaft in der Rabat Straße und ließ mir jenes Einreisevisum in den Pass stempeln, das mir ein Von - Bord - Gehen in Frankfurt ermöglichte. Nachdem ich meine früheren Gesprächspartner in der Botschaft über den Verlauf der Gewerkschaftsgründung und die Folgen der Aktion informiert hatte, übernachtete ich noch einmal in einem der großen Hotels der City, um dann am nächsten Tag Bukarest und dem Land für immer den Rücken zu kehren. Mit Günther fuhr ich hinaus zum internationalen Flughafen Otopeni. Dort verabschiedete ich mich von ihm, vorausahnend, wir würden uns bald wiedersehen und machte mich daran, einzuchecken. Vor dem Abflug wurde ich zunehmend unruhiger.

Befürchtungen kamen auf. Was konnte noch passieren? Obwohl alles nach Plan verlief, fühlte ich mich wie eine Maus, deren unmittelbares Entweichen aus der Mausefalle bevorsteht, die aber befürchtet, dass draußen vor dem Türchen doch noch eine böse Katze warten könnte mit scharfen Zähnen und einer angeborenen Lust zu töten - eine traumatische Konstellation, die Spuren hinterließ. Noch viele Jahre später, nach einer abenteuerlich riskanten Geschäftsreise in die unsichere Ukraine, sollte ich bei der Ausreise die gleiche kafkaeske Situation und den gleichen Alpdruck noch einmal erleben.

In den intensiven Jahren meiner regimekritisch oppositionellen Tätigkeit in Rumänien hatte ich soviel Negatives erfahren, dass eine grundsätzliche, negativistische Skepsis ins Blut übergegangen war. Da ich als intuitiver Kartesianer sowieso an allem zweifelte, auch wenn die Dinge ihren normalen Verlauf zu nehmen schienen, zweifelte ich auch jetzt, getreu Murphys Gesetz - alles was schief gehen kann, gehe auch schief.

Nun stand ich da, mitten in der Abflughalle, zwanzig Jahre alt, im graugestreiften Anzug wie ein Versicherungsvertreter, glatt rasiert, nur schlecht genährt und ohne Frisur, in der Rechten einen dünnen, schwarzen Diplomatenkoffer mit Silberrand- und reiste wie Zenon: unbeschwert mit kleinem Gepäck. Ach, könnte ich doch das ganze Leben hindurch so leicht bepackt reisen!

Wertsachen durfte ich keine mitnehmen, weder Kulturgüter, Gemälde, alte Bücher, noch Schmuck, Geld oder sonstige Werte materieller Natur. Alles, was von Generationen erwirtschaftet worden war, das Geburtshaus, die konservativen Stilmöbel, die Fotoalben mit den Erinnerungen, all dies musste zurückbleiben im Tausch gegen die Freiheit.

Doch ich war immer bereit gewesen, diesen Kuhhandel einzugehen - bis zuletzt. Also reiste ich wie ein antiker Zyniker, dessen zeitliche Güter in den Fluten versunken waren und der nicht mehr besaß, als die Fetzen am Leib. Hatte Gandhi, dessen Widerstand mich stets inspirierte, eigentlich mehr besessen? Eine Brille vielleicht und einen Stock, um die tollwütigen Hunde abzuwehren und giftige Schlangen. Vermutlich wollte es das Schicksal, dass auch ich leichter bepackt auf Fahrt ging, nur mit etwas Konterbande befrachtet wie der Wahlfranzose Heine an der deutschen Grenze.



Kent


Meine Schmuggelware reiste mit, gut versteckt und kaschiert von aromatisierten Glimmstängeln in einer fast unscheinbaren Zigarettenschachtel, die ich in meiner linken Brusttasche verstaut hatte. Das Corpus delicti, Ursache einer immer noch vorhandenen Nervosität, das waren zwei wichtige Dokumente, die ich unbedingt aus dem Land zu schmuggeln gedachte; eine Abschrift jenes sonderbarenUrteils, welches nach dem obskuren Prozess ausgefertigt worden war als seltene Rarität rumänischer Rechtssprechung und der Haftentlassungsschein, ein Schriftstück, das mir am Tag der Entlassung ausgehändigt und mit auf den Weg gegeben worden war, um mich vor einer spontanen Verhaftung an der erstbesten Ecke zu schützen. Formal bestätigten die Papiere Dissidenz und Haft. Wurden sie entdeckt, konnte es mächtigen Ärger geben.

Jetzt waren wieder schauspielerische Qualitäten gefragt. Mehrfach hatte ich als Schüler Rollen einstudieren müssen. Nun konnte ich die erworbenen Fertigkeiten austesten. Kurz vor der letzten Kontrolle kramte ich suchend in den Taschen, würde fündig, klopfte aus dem nur an einer Ecke angerissenen Päckchen eine Zigarette hervor und zündete diese mit gespielter Seelenruhe an.

„Kent, Sie rauchen Kent?“ sprach mich ein jüngerer Zöllner an, der alles mit Argusaugen beobachtet hatte. „Gestatten Sie, dass ich zugreife … “ Sein Tonfall wirkte freundlich schüchtern, fast unterwürfig. Die Gier des Abhängigen war nicht zu verkennen. Offensichtlich erwartete er etwas für sein Wohlwollen bei der Abfertigung.

„Bitte, bitte“, erwiderte ich mit gespielter Souveränität und hielt ihm das Päckchen mit den drei herausragenden Zigaretten entgegen: „Bedienen Sie sich!“

Er griff auch sofort zu, entnahm zitternd eine Zigarette, zündete sie an und sog mit einem tiefen Zug befriedigt den giftig blauen Dunst in die Lunge.

„Nehmen Sie noch ein paar … “ schob ich gleich hinterher, um ihn gänzlich zu gewinnen, klopfte wieder auf das Päckchen und bot ihm großzügig noch einige der begehrten Stängel an.

Selbst ein Zöllner rauchte nicht täglich Kent: „Ich habe schon viele Zigaretten geraucht …Ich habe auch schon Kameeel geraucht … Aber diese Kent, die schmecken mir einfach am besten - naaa, bitte!“

Diese ulkigen Worte eines fernen Bekannten aus Siebenbürgen fielen mir sofort wieder ein, als das markante Wort fiel. Kent- das war keine Provinz in Südengland, nicht die Gegend, wo meine väterlichen Wurzeln vermutet wurden, nein: Kent - das war ein Mythos, mächtiger noch als jener von Freiheit und Abenteuer! Kent, das war ein Zauberwort, eine Magie, die selbst in Zigeunerliedern besungen wurde. Eine Mărăşesti im Zigeunermund, das war Identität und Heimat, während die Zigarette Kent - hergebracht aus dem Okzident - nicht weniger verkörperte als die Kultur des Abendlandes!

Die Wunderwaffe Kent, das beliebte Universalzahlungsmittel im Osten, verfehlte auch diesmal ihre Wirkung nicht. Der Bursche ließ mich passieren, ohne den Päckcheninhalt näher zu überprüfen und wünschte mir selbst noch eine gute Reise.



Von der grenzenlosen Freiheit über den Wolken


Wieder einmal hatte ich Glück gehabt. Äußerlich ruhig, doch innerlich hochgradig angespannt wie ein Agent auf der Flucht, durchschritt ich den letzten Kontrollposten und begab mich in den Bus, der alle abfliegenden Passagiere zum Flugzeug brachte. Gleich fand ich den gebuchten Patz und nistete mich ein. Aufgeregt rutschte ich auf dem Sessel herum und sah gelegentlich verunsichert zur Fronttür hin, immer noch befürchtend, jemand könne mich in letzter Sekunde unter irgendeinem Vorwand aus dem Flugzeug holen.

Bange Minuten folgten - Ewigkeiten. Nach wie vor war die Angst übermächtig. Befürchtungen und Unsicherheit verdrängten die Zuversicht. Was konnte jetzt noch auf mich zukommen? Was konnte jetzt noch schief gehen?

Endlich wurden die Türen geschlossen. Es ging los. Das gut besetzte Flugzeug der staatlichen Fluggesellschaft rollte auf die Startbahn, verharrte wieder, drehte dann aber lärmvoll auf, beschleunigte mit Schub, schoss immer schneller werdend über den festen Asphalt und hob ab. Schon nach wenigen Sekunden durchstießen wir die graue Wolkendecke und erhoben uns in das Blau des Himmels. Erst in freieren Lüften beruhigte ich mich etwas. Bald darauf konnte ich erleichtert aufatmen. Geschafft? So vollzog sich der Ausbruch in die Freiheit?!

Die Begrüßungsworte des Piloten rauschten an mir vorbei wie die gestikulierenden Erläuterungen der tänzelnden Stewardessen. Unbestimmte Gefühle übermannten mich. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schienen zusammenzufallen. Woran sollte ich denken? War ich überhaupt in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen? Ich fühlte den Rausch der Euphorie und den Teekessel im Innenohr. Fühlte sich so aufkommendes Glück an? Erst als die freundlich sonore Stimme des Bordkapitäns verklungen war und angenehmere Töne an mein Ohr drangen, wachte ich aus der Selbstumkreisung auf. Der Bolero war fast verklungen - und der Puls ging etwas zurück. Im Rundumblick gewahrte ich die aufgehellten Gesichter anderer Passagiere, die wohl froh waren, auch in diesem Flugzeug zu sitzen. Einige reisten ins Glück.

Doch was ertönte da aus dem Lautsprecher? Genauer hinhörend vernahm ich die ersten Takte eines deutschen Chansons, dem ich schon mehrfach vergnügt gelauscht hatte. Und auch das Thema, das mich hier und jetzt in angenehmes Erstaunen versetzte, war mir mehr als vertraut. Wir alle hörten, harmonisch und unmissverständlich deutlich, jenen auch heute noch sehr populären, gerne vernommenen Song von Reinhard May über die unendliche Freiheitder höheren Sphären mit dem vielsagenden Refrain: Über den Wolken, Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, Alle Ängste, alles Sorgen, sagt man, Liegen darunter verborgen … War das ein Zufall oder gar die leise Dissidenz eines Piloten?

Wer des Deutschen kundig war, konnte verstehen, welche Idee hier in den Himmel gehoben wurde. Noch traute ich dem Gehörten nicht ganz und nahm trotzdem das eine heilige Wort auf wie ein Abhängiger die lange vermisste Droge. Und das Gefühl erlebter Freiheit schaffte mir Linderung. Allmählich sank der seelische Druck, der noch auf mir lastete, weiter ab und mit ihm die Aufregung. Versteckt tastete ich nach dem Puls. Das Rasen beruhigte sich; Adrenalinspiegel und Herzfrequenz gingen ebenfalls zurück - Ruhe kehrte ein, trotz gesteigerter Erwartungen und ein Hauch von Normalität kam auf. Ich war gerettet und konnte es noch nicht glauben.

Man hatte mir einen Fensterplatz zugewiesen. Von dort aus schweifte der Blick hinab in die Landschaft und hielt mühevoll nach einigen Orientierungspunkten Ausschau. Aus der Höhensicht sah alles anders aus. So sah der Adler die Welt. Was unten vorüberzog, musste gedanklich erschlossen werden. Menschen, die verstehend hinuntersahen, entdeckten noch mehr - riesige Rechtecke, die bunt erscheinenden Feldparzellen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und der Staatbetriebe, hohe Erdölbohrtürme, wuchtige Industrieanlagen, Flüsse mit Kraftwerken, Städte, Siedlungen, kleine Marktflecken, isolierte Höfe und manches, was nicht zugeordnet werden konnte, ferner viel Natur, unendliche Wälder und Gebirgszüge - ein schönes Land, auch von oben. James Joyce hätte viele unterschiedliche Begriffe eingesetzt, um das alles festzuhalten.

Wir überflogen die Gipfel der Karpaten, historische Gegenden, die Burgen Siebenbürgens, die Banater Tiefebene mit Temeschburg und Sackelhausen, dann das Grenzland zu Ungarn, die ungarische Puszta, schließlich die letzte Grenze des Eisernen Vorhangs, das Burgenland der Österreicher, den Donaustrand an der deutschen Grenze, um kaum zwei Stunden später in Frankfurt am Main zu landen - ohne Zwischenfälle und ohne besondere Vorkommnisse.



Frei! Die Heimkehr



Immer noch berauscht von einer eigenartigen Glückseligkeit ging ich von Bord und betrat erstmals deutschen Boden!

Ein mythisches Erlebnis - der Sohn der Gaia, der die heimatliche Erde berührt, um aus ihr neuen Kampfesmut und neue Lebenskraft zu ziehen! Schiller hatte dies so plastisch geschildert. Dies war meine Heimkehr! Jetzt war ich in gleicher Situation, wenn auch nicht mehr im Überlebenskampf. Der kaum erst gewählte Papst wäre hier niedergekniet und hätte die deutsche Erde symbolisch geküsst. Mir, dem gesunden Patrioten von Anfang an, reichte das Bewusstsein, im Land der Väter angekommen zu sein. Urplötzlich fühlte ich mich gelöst; zugleich aber auch zutiefst gerührt. Ein Gefühl von Vertrautheit kam auf, ganz so, als wäre ich schon oft hier gelandet. Gedanken suchten sich ihre Bahn … Einiges hatte das Gehirn bereits vorweg genommen. Erst mit der Erfüllung des Glücksmoments verrauschte allmählich auch die Freude. Ich fühlte mich emanzipiert und erstmals unendlich frei, mit großen Erwartungen, aber ohne Diskrepanz und Frust wie andere, die später kamen, obwohl sie eigentlich nicht wirklich kommen wollten. Endlich war ich dort, wohin ich immer schon wollte! Nicht im Land, wo Milch und Honig flossen, aber in einem Raum, wo die persönliche Bedrohung wegfiel, wo die Angst aufhörte und der staatliche Terror. Lenau hatte nicht anders gefühlt, als er erstmals Metternichs Wirkungsbereich entfloh und den liberalen Boden Badens betrat - und Heine jenseits der preußischen Grenze! Und ich war gerne da, hatte deutschen Boden unter den Füßen und war glücklich! Ja, ich war angekommen. Ein Teil der Wanderschaft war zu Ende. Fürs erste war ich am Ziel.


Der Flughafen in Bukarest war verglichen mit den menschenüberströmten Terminals der Mainmetropole ein beschaulicher Ort. In Frankfurt pulsierte das Leben. Wohin ich auch blickte, sah ich Menschen, die sich frei bewegten und die ungehindert und unbeobachtet ihre Ziele verfolgten. Mitten in der Menge hielt ich inne und betrachtete den wuselnden Ameisenhaufen um mich herum. Dabei entdeckte ich keinen Einheitsmenschen, nur hundert Typen und Charaktere; Krumme und Gerade, Alte und Junge, Fette und Magere, Menschen in Rollstühlen und Schwestern aus Madagaskar, die Kranke vor sich her schoben. In dieser Gesellschaft wurden die Behinderten anscheinend nicht versteckt wie in der Welt, aus der ich kam. Offensichtlich war Kranksein keine Schande. Das alles ließ ich an mir vorüberziehen, ohne Details aufnehmen zu können, gleich Bildern auf der Kinoleinwand. Haften blieben Empfindungen und Impressionen.

War ich nicht gerade aus einer Höhle hervorgetreten und sah nun erstmals Menschen, nachdem ich bisher nur Schatten gesehen hatte? Meine Blicke schweiften neugierig beeindruckt durch die Hallen. Die meisten Beschriftungen, Symbole, Werbebotschaften, Läden, Kioske, Restaurants, Bars, kurz alles, was sich dem Auge darbot, erschien mir farbenfroh, hell erleuchtet, voller Lebensfreude. Selbst der Kitsch kam mir nicht kitschig vor, sondern dazugehörig, als Teil der Buntheit. Vieles wirkte vertraut, ganz so, wie ich es aus den Zeitschriften kannte und auch erwartet hatte. Nach dem vielen Grau konnte es mir nicht bunt genug sein. Darüber hinaus konnte ich alles lesen und verstehen. Selbst das Neudeutsche, die paar Brocken Englisch dann und wann. Obwohl alles neu war, kam keine Fremdheit auf, kein Widerspruch. Dementsprechend fühlte ich mich auch gleich wohl; so wie man sich fühlt, wenn man von einer langen Reise wieder glücklich zu Hause ankommt oder von guten Freunden willkommengeheißen wird.

Die kurze Zeit, die mir zur Verfügung stand, nutzte ich, um mich im Vorhallenbereich umzusehen. Da war eine Buchhandlung mit tausend Titeln von Autoren, deren Namen ich noch nirgendwo gehört hatte; mit Büchern, deren Überschriften in Goldlettern darauf hindeuteten, dass mit dieser Art Literatur gutes Geld zu verdienen sei. Eine Flut von Zeitungen aus allen Winkeln der Erde in den großen Sprachen der Welt fiel mir auf, darunter auch einige exotische. Hier rätselte ich - das war vermutlich Türkisch! Ganze Heerscharen von Zensoren hätte man engagieren müssen, um ihre Inhalte zu beschneiden.

Der reiche Pluralismus selbst im Zeitschriftenregal. Welch eine Vielfalt auch hier! Welch eine Auswahl! Welch ein Angebot! Da war manches über Geld und Immobilien, über Yachten und Boote! Ja selbst über Uhren, über alte und neue. Gerade hatte ich ein halbes Jahr ohne Zeitmessung verbracht. Und hier? Hier wurde sogar die Chronologie der Zeit erforscht! Da lagen die großen Magazine, nach deren Inhalten ich so lange gegiert hatte; und nur einen Handgriff daneben andere Magazine, in denen die physiognomische Erscheinung des weiblichen Körpers bis in die letzten Details studiert werden konnte, naturalistisch und in Hochglanz. Das war die Freiheit der Vielfalt. Marx hatte nicht zufällig gern eine alte Mönchsweisheit zitiert - suum cuique, jedem das Seine. Wie wahr! Hier herrschten die Gesetze des Marktes, der Geschmack und die Kaufkraft der Vielen.

Auf dem Weg in den Außenbereich, wo es im Bus weitergehen sollte, kam ich an einem Blumenladen vorbei. Unbewusst hielt ich an. Frühlingszauber mitten im Oktober? Galten die alt gewohnten Regeln der Jahreszeiten nicht mehr? Zählten nur noch Nachfrage, Angebot und Preis? War inzwischen alles mit allem vernetzt in einer grausamen Welt der Globalisierung? Traten ihre Selektionsprinzipien jetzt an die Stelle sozialer Strukturen? Bestimmten ihre Auslesekriterien jetzt auch den wirtschaftlichen Überlebenskampf zwischen den Nationen?

Wirre Gedanken … Die Rosen um mich herum waren irgendwie anders; herrlicher, praller und kraftvoller als jene zart morbiden in unserem Hof, mit fester Blüte, so als sei der Tau kaum erst verflogen! Glühend rote Rosen aus dem Kühlschrank? Mit festem Stil, fast ohne Dornen. Rituell bückte ich mich zu ihnen hinab, um mein Riechorgan, das in den letzten Monaten nicht gerade verwöhnt worden war, in das Meer der Düfte einzutauchen, um etwas von dem teuren Rosenöl einzuatmen, das in den Blüten verborgen lag. Um mit feinen Sinnen, diskret und unauffällig ein neues Aroma einzufangen; ganz so wie wenn man zum ersten Mal den Wein probiert, der aus einer neuen Rebzüchtung stammt. Nur konnte ich nichts empfinden, gleich dem Prächtigen in Florenz. Hatte mein Geruchsinn gelitten? Die roten Rosen dufteten nicht. Lag es an mir? Verunsichert wandte ich mich zu den anderen hin in Rosarot, zu den scheußlich Gelben, dann zu den keuschen Weißen und schnupperte frivol daran, prüfend wie ein Hund ein Exkrement beschnuppert. Selbst diese Rosen hatten keinen Duft. Nur Schönheit, stille, keusche, kalte Schönheit - wie eine vollendete Jungfrau im Operationssaal. Schön, doch abweisend steril. Die Wesenheit fehlte, die das Leben ausmacht. Diese Feinheiten waren im Grunde nur etwas für ganz sensible Poeten. Sie dämpften meinen Enthusiasmus zwar etwas, konnten aber die zahlreichen positiven Impulse, die ich noch eindeutiger fühlte, nicht abwürgen. Immer noch glühte und sprühte ich vor Optimismus und ganz großen Erwartungen.


Von Frankfurt nach Franken - Im Gleichschritt … Marsch!



Das Vaterland empfing mich mit einer perfekten Organisation. Die Wehrmacht war jüngst erst über Europa gerollt wie einst die römischen Legionen. Etwas von dieser mich faszinierenden Logistik war wieder da. Die Deutschen verstehen etwas vom Organisieren; es ist systematisch bis ins letzte Detail - wie das Denkgebäude jenes Philosophen aus Königsberg, dessen Grab heute von Russen in Ehren gehalten wird. Der empfundene Kontrast konnte nicht größer sein. Wer in einem Land aufwächst, wo nie etwas richtig funktionierte, wer stets und in allem dem Walten des Zufalls ausgeliefert war, dem fällt es auf, wenn alles geregelt ist - und funktioniert!

Auch der Empfang der Neubürger war geregelt und schien zu klappen. An einem der Flughafenausgänge stand ein Omnibus bereit, der meinen Weitertransport nach Franken übernehmen sollte. Karl der Große, mein Namensvetter, hatte Spuren hinterlassen - in Frankfurt und in Franken.

Mit mir waren noch andere Menschen ausgereist, für die ich keine Augen hatte. Tausend neue Eindrücke lenkten mich ab - Impressionen wie in einer Bildergalerie mit immer neuen Farbkonstellationen und Motiven. Auch war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt im Versuch, mein Denken nunmehr zu kanalisieren, zu ordnen.

Endlich fuhr der Bus los und kämpfte sich durch den dichten Verkehr des Ballungsraums. Ungeduld beherrschte mich. Das Neue jagte das Neue. In der Ferne war die Skyline des Finanzzentrums zu sehen mit den Wolkenkratzern der Geldinstitute, deren Größe an der Marktkapitalisierung der Aktiengesellschaften abzulesen war. An Fuß der Glasberge lag wohl auch die Börse, der Puls des Kapitalismus. „Wie stehen die Aktien“, witzelten wir früher beim Zusammentreffen in der Stadt, ohne recht zu wissen, was Aktien sind, wie man an sie herankommt, wie man mit ihnen reich wird - oder, wenn es die falschen sind zur falschen Zeit - wie man, endgültig ruiniert, verzweifelt aus dem Fenster springt. Meine Gedanken schwirrten ab. Geld-Institute … Bankinstitute, das hatte ich bereits im Flughafen gelesen? War die Bezeichnung Institutnicht dem akademischen Sektor vorbehalten, der freien Forschung und Lehre? Nutzten die Banken die euphemistische Umschreibung, um von ihrem unsittlichen Profitstreben abzulenken? Hatte Brecht doch Recht? War es nicht wirklich ein größeres Verbrechen, eine Bank zu gründen oder zu besitzen als eine zu berauben? Anarchische Hirngespinste - so kombinierte ich nun hin und her. Einmal Anarchist - immer Anarchist, einmal Dissident - immer Dissident, einmal Rebell - immer Rebell?

Doch was konnte ich dafür, wenn ich von Freiheit, von Nonkonformismus und von kritischer Auflehnung bestimmt wurde? Immer und überall! Auch im Westen? In der Welt Amerikas, in der Welt der Freiheit. Irgendwann hatte ich aus einem Gefühl heraus A gesagt und immer daran festgehalten. Jetzt musste ich konsequent bleiben, B sagen, zumindest bis zur Gegenprobe, und zunächst voll und ganz zu diesem System stehen, in der Hoffnung, das viel vermisste humane Antlitz einer Gesellschaftwenigstens hier vorzufinden.

Der Bus wurde schneller, fuhr über einen Zubringer auf die Autobahn und entfernte sich mehr und mehr vom Main und von Mainhattanin die Richtung des Ursprungs, hin zur Quelle ins Fränkische. Frankfurt? Das war wohl die amerikanischste der deutschen Städte? Hatten sie die Freiheit hier eingeführt - oder war sie ein endemisches Produkt, das schon früher am Fluss gedieh? War nicht Goethe hier geboren, in der alten Freistadt? Stand hier nicht irgendwo auch die Paulskirche? Das erste deutsche Parlament? Ein erster Hort politischer Freiheitund Demokratie? Bald wollte ich wiederkommen, alles sehen, erfassen, vertiefen …

Kurz darauf gewahrte ich ein großes Schild am Straßenrand mit der Aufschrift Freistaat Bayern: Die Republik in der Republik - fiel mir ein. Vom reichen Wappen Bayerns erkannte ich nur die weißblauen Farben und den bayerischen Löwen. Es war ein schönes Gefühl, in einen Freistaat einzufahren!

Jedes Wort, in dem die Freiheit steckte, klang in meinen Ohren wunderbar wie Mozartsche Musik - und erinnerte an den Geist seiner Zoten, die er in einem Anflug von Überdruss seiner unfreien Zeit entgegenschmetterte. Freiheit und Musik, das passte irgendwie gut zusammen. Viva, viva, la liberta!

Der Bus rollte weiter durch den Spessart; durch einen Märchenwald mit Wirtshäusern und zottigen Räubern. Irgendwo rechts, an einer der zahlreichen Windungen des Mains auf seinem Weg in den großen Strom, nahe Wertheim lag der kleine Ort Urphar mit seinem Wehrkirchlein aus karolingischer Zeit, ein Ort, an dem ich später einmal leben sollte wie in Würzburg, das gerade in Sicht kam.


Weinland Würzburg



In einem Bilderbuch war ich auf einige Ansichten der alten Stadt gestoßen. Jetzt lag sie unter mir und breitete sich aus. Während der Bus die riesige Autobahnbrücke überquerte schaute ich zunächst nach vorn und hinauf. Dabei fiel mein Blick auf eine abstoßende Anhäufung von Plattenbauten, die in den Himmel zu ragen schienen. Das gab es auch überall im Ostblock. Sozialistische Einheitsarchitektur im vielgeliebten Grau. War das Würzburg? Das fragte ich mich für einige Augenblicke lang. Nein, es war das andere Mainhattan!

Noch bevor Enttäuschung aufkommen konnte, schaute ich hinab ins Tal und nahm die Konturen der Altstadt wahr. Vor mir lag eine weite Landschaft mit unzähligen Kirchtürmen, aus welchen die Zinnen des Domes und der Turm der Alten Universität herausragten. Das Meer von roten Ziegeln an das Feuer des Südens erinnernd, erwärmten mir das Herz und logen mir vor, in einer mediterranen Stadt angekommen zu sein, irgendwo in den Hügeln der Toskana oder in der Provence. Dann schweifte mein Blick nach links auf ein sakrales Kleinod der Architektur. Am Hügel klebte das Käppele; ich blickte auf ein Heiligtum, ohne zu wissen, was ich sah. Und dahinter über allem thronte die gewaltige Marienfestung, die Stadt über der Stadt, deren Ausstrahlung das gesamte romantische Deutschland früherer Jahrhunderte einzufangen schien. Jetzt fuhr ich durch ein anderes Märchen und ahnte natürlich noch nichts davon, dass ich nur ein paar Jahre später in den prachtvollen Räumen des schönsten Pfaffenhofs Europas meinen Studien nachgehen, viele Jahre unter den Fresken Tiepolos philosophieren und - wie einst die Fürstbischöfe und Napoleon - vergnügt im Residenzgarten lustwandeln und promenieren würde.

Gerne hätte ich verweilt, um den schönen Augenblick zu genießen; doch der Busfahrer hatte einen anderen Auftrag. Während er beschleunigte, um die Steigung zu schaffen, kamen die flurbereinigten Weinberge von Randersacker in Sicht, die Lagen Ewig Leben und der Marsberg, wo der Silvaner wuchs, jene alte Rebsorte aus Siebenbürgen, die schon Jahrhunderte vor mir angereist war; ich blickte nach rechts - ein paar Kilometer weiter deuteten sich weitere Winzerorte an, die dem Frankenwein zum Weltruf verhalfen, zunächst Eibelstadt, dann das reiche, sonnenverwöhnte Sommerhausen und, gleich gegenüber, das arme, kalte Winterhausen. War da um die Ecke nicht auch Sackelhausen?

Erneut blickte ich hinab ins tiefe Tal. Dort floss ruhig der träge Main und reflektierte das Licht und die Wärme seiner zarten Wellen nach oben an die Hänge, wo die Trauben ihrer Vollendung entgegen strebten. Der Fisch, dessen Ahnen hier aus Würzburg, aus dem nahen Bamberg und aus Mainz nahe der Mündung in das Banat gepilgert waren, um Freiheit und Wohlstand zu finden, war wieder am alten Fluss angekommen, der schon lange gemächlich dahinströmte. Sein Bett lag unter mir mit der Kulturlandschaft, die es beheimatete. Alles schien miteinander verwoben zu sein, mein Ich, meine Identität mit der Landschaft und mit dem Fluss, der auf die Ewigkeit hindeutete.

Es herbstete sehr … Befiehl den letzten Früchten voll zu sein, gib ihnen noch zwei südlichere Tage ….Die letzte Süße des schweren Weins war auf meiner rechten Blickseite zu vermuten, wo sich gerade die gipsernen Hänge des Steigerwalds andeuteten mit den Spitzenlagen von Iphofen, Rödelsee, Castell und anderen Bocksbeutelzentren der urwüchsigen Art. In meinen Taschen kramend, zog ich den Abriss des Flugtickets hervor und las das Datum: 13. Oktober!

Ankunft. Zeit der Reife. Die Zeit der Weinlese. Und die Zeit der Ernte! Eine gute Zeit, die den Menschen mit Freude und Dankbarkeit erfüllt; die er freudig feiert, wenn die Früchte der mühevollen Arbeit Scheuer und Keller erreicht haben.

In der alten Heimat, im Banat, wo man lange Zeit im Schweiße des Angesichts sein Brot verdiente und es manchmal auch mit Tränen aß, feierten die Menschen jetzt Kirchweih, Kerwei, ihr zentrales Fest im ganzen Jahr, das für viele Jugendliche existentielle Bedeutung hatte und ihnen wichtiger war als Weihnachten und Ostern zusammen; eine Feier, die von anderen aber als faschistisches Fest denunziert worden war!

Der Bus fuhr jetzt schneller. Aus den Lautsprechern über den Köpfen rieselten Schlagermelodien herab mit dummen Texten, die mich zwangen, wegzuhören. Doch plötzlich war da eine tiefe, kräftige Frauenstimme, die etwas anderes sang. Ihr Singen, aus dem ich die geschulte Stimme mit einen leichten russischen Akzent herauszuhören glaubte und etwas von den wehmütigen Harmonien in Moll, hob sich vom bisher Vernommenen deutlich ab; und auch das, was sie sang:

Freiheit in meiner Sprache heißt Liberta!

Gibt es ein schönres Wort als Liberta!

Überall wo Menschen leben

stehst DU an erster Stelle Liberta!

Es war Milva- eine feurige Italienerin, eine Grande Dame des Genres. Das fand ich erst später heraus. Jetzt war ich nur überwältigt. Zunächst Reinhard Mays Eloge auf die Freiheit in höheren Sphären - und jetzt Milva! Und das alles am Tag meiner Heimkehr!

Der Dichter, der die freiheitlichen Worte erdacht und auf Papier gebracht hatte, schrieb Millionen Freiheitssuchenden aus der Seele, überall auf der Welt. Ich war nur einer von ihnen.


Nürnberg - Aus dem Gefängnis ins Lager



Nachdem wir die Aischgründe passiert hatten, wo Karpfen und andere Fische sich wohl fühlen, bevor sie im weihnachtlichen Kochtopf landen, kündigte sich bereits Nürnberg an- die Stadt Dürers, die Stadt der Reichsparteitage - und die Stadt der Prozesse. Wer so in der Geschichte gefangen war wie ich, konnte sich der historischen Betrachtung nicht entziehen. Die Geschichte, mit deren Interpretation das Hineinschlittern in die oppositionelle Tätigkeit begonnen hatte, war nach wie vor das Thema schlechthin.

Merkwürdig. Nach dem Knast landete ich jetzt - im Land der Freiheit - wieder in einem Lager!? Aus dem Regen in die Traufe? Ein sonderbares Willkommen! Offiziell war der überaus belastete Begriff bereits eliminiert worden, richtig abgeschafft; in den Köpfen der Menschen jedoch hielt er sich weiter: „Wenn du in Deutschland ankommst“,wussten erfahrene Ausgereiste zu berichten „musst du zunächst ins Lager“.

Dieses Aufnahmelager, das amtlich als Durchgangsstelle für Spätaussiedler und Flüchtlinge bezeichnet wurde oder so ähnlich, war nur ein erster Anlaufpunkt für Neuankömmlinge, der nach der Erledigung einiger Formalitäten schon nach wenigen Tagen verlassen werden konnte. Auch das spätere Übergangswohnheim galt als Lager. Es war ein Provisorium, das eigentlich nur solange zur Verfügung stehen sollte, bis die Neubürger eine eigene Wohnung gefunden hatten. In Wirklichkeit aber wurde es von raffsüchtigen Landsleuten über Jahre blockiert; so lange, bis sie ein Grundstück erworben hatten, ein Haus errichtet und in das eigene Heim einziehen konnten. Kaum jemand nahm Anstoß an der makabren Bezeichnung. Das Nachdenken über Sprache und das sprachgemäße Sprechen, das ich früher schon kläglich vermisste, war bei vielen Leuten immer noch nicht angekommen. Aber zumindest ich war da - im Aufnahmelager und gleich mitten im Kreislauf bundesdeutscher Bürokratie, wo ich zunächst einigen deutschen Angestellten überantwortet wurde. Im Gleichschritt … Marsch!?

So lernte ich bald auch diesen Typus Mensch kennen; und nach ihm den noch gründlicheren deutschen Beamten, der in vorauseilendem Gehorsam und mit vorbildlichem Pflichtbewusstsein in meinen Augen noch besser funktionierte als ein schweizerisches Uhrwerk - und dies im schroffen Gegensatz zum rumänischen Funktionär, der stets in Lethargie und Nichtstun versank, ganz im Geist einer langen Tradition, die seit Gontscharows literarischem Wirken als Oblomowereibekannt ist.

Nun durchlief ich jenen Ritus, den schon Millionen anderer Menschen aus dem Osten vor mir durchlaufen hatten: Heimkehrer, Vertriebene, Flüchtlinge und selbst Asylsuchende. Zunächst wurde ich offiziell registriertwie ein Schaf. Nur die Ohrenmarke blieb mir erspart. Während dieses formalen Prozesses, der mir im laxeren Land meiner Vorväter, in England, wo es nicht einmal Personalausweise gab, bestimmt erspart geblieben wäre, durfte ich eine Reihe von persönlichen Fragen beantworten, die zum Teil in einem Registrierschein festgehalten wurden. Ästhetische Komponenten, die, wie es mir auffiel, alle Lebensbereiche des neuen Umfelds durchzogen, spielten bei diesem Dokument keine Rolle. Es war ein eindeutig schäbiges Papier mit der unpersönlichen Note eines Formulars, in welchem einige Details aus meinem Vorleben in einer engen, undifferenzierten Terminologie festgehalten wurden. Das Kästchen, das für die Berufsbezeichnung des Einreisenden vorgesehen war, vermerkte - nach einigem klärenden Hin und Her: Reparaturschlosserhelfer - und verwies damit auf die wortkombinatorische Leistungsfähigkeit der deutschen Sprache. Worte wie Obertsturmbanngruppenführerhatten schon in der frühen Kindheit unsere Phantasie beflügelt, wenn sie als unübersetzbare Untertitel über den Bildschirm huschten und uns motivierten, über verdichtete Sprache und monströse Wortzusammensetzungen nachzudenken. Hugo von Hofmannsthals Essay über den Wert unddie Ehre deutscher Sprache kam mir dabei in den Sinn, speziell der dort exemplifizierte Aspekt der sprachlichen Verwahrlosung und Sprachverhunzung, zu der nicht nur Dichter und schlechte Literaten fähig sind, sondern auch unreflektierte Sprachanwender wie jene, die ich vor mir hatte.

Da ich aus einem Raum kam, wo ein anderes Deutsch gesprochen wurde, ein Deutsch, das eine Weile stagniert hatte wie das Französisch in Quebec, bemühte ich mich um ein möglichst korrektes Deutsch, wobei die individuelle Sprachmelodie, die sogar mit dem Bildungsniveau des Vaterhauses zusammenhängen konnte, nicht ganz zu verdecken war. Doch je deutlicher mein Bemühen wurde, desto krasser fiel mir der sorglose Umgang mit Sprache bei anderen Personen auf. Der Genitiv, den ich eindeutig favorisierte und recht häufig gebrauchte, kam in der vernommenen Sprache kaum noch vor. Er wurde mit komischen Dativkonstruktionen umschrieben -und wenn er in seltenen Augenblicken doch noch auftrat wie ein rar gewordner Vogel, kam er gleich in doppelter Form. Und das bei Personen, die, ausgehend von ihrer Stellung, einen höheren, bisweilen sogar einen akademischen Bildungsabschluss aufzuweisen hatten. War das ein Hinweis auf die Qualität des deutschen Schulsystems, auf die Wertschätzung, die der deutschen Sprache allgemein entgegengebracht wurde?

Als ich auf die Zeit der Haft zu sprechen kam, fragte mich jene steife Dame mit dem überschminkten Gesicht und den strahlend lackierten Fingernägeln, die meine Aussagen protokollierte und diese auf einer laut ratternden, mechanischen Schreibmaschine nieder schrieb recht forsch: „Aus welchem Grund sind Sie überhaupt in Rumänien verurteilt worden?“

„Wegen Anarchie“, gab ich prompt zurück. „Dieses Urteil hier verweist auf die Gründung einer antisozialistischen Vereinigung mit anarchistischem Charakter“, fügte ich leicht ironisch hinzu, annehmend, der müde Sarkasmus würde verstanden und kramte dabei nach dem sonderbaren Dokument. „Oooh!“ entgegnete die Dame etwas verunsichert, und fast schon entsetzt: „Auch hier in der Bundesrepublik werden Anarchisten verurteilt!“

So? Wunderte ich mich empfindlich berührt. Welch eine Gleichsetzung! Wir bekämpften ein totalitäres System, andere wollten eine parlamentarische Demokratie abschaffen. War da nicht irgendwo ein kleiner Unterschied, der selbst von bescheidener Warte aus hätte gesehen werden müssen? Und gab es da nicht noch ein paar Anwälte und Blätter, die Terroristen und Mörder stützten und deren Sache ideell und formaljuristisch verteidigten? Bei diesen Gedanken unterließ ich das Kramen nach dem Urteil und versuchte den Kloß im Hals unauffällig hinunterzuwürgen. Das Unverständnis schockierte. Ich war getroffen und betroffen. So viel Unwissenheit über die tatsächliche Situation hinter dem Eisernen Vorhang hatte ich nicht erwartet, schon gar nicht hier, an der Mündung des Menschenstromes aus dem Osten, wo täglich bestimmt auch Opfer der totalitären Verhältnisse einreisten und ihre Vita offenlegten wie Frauen ihren Körper im Stripteaselokal. Gerade hier an der Pforte zur künftigen Freiheit hatte ich mit einem anderen Erfahrungshintergrund gerechnet. War das eine erste Desillusion, eine frühe Destruktion des hohen Ideals?

War das kein böses Omen? Wenn ich hier, am Eingangstor zur neuen Gesellschaft, schon mit soviel Unverständnis konfrontiert wurde, reflektierte ich, was würde erst bei einer Konfrontation mit den vielen Ahnungslosen, mit den noch weniger und undifferenzierter informierten Bürgern auf mich zukommen? Es war ein erster Hinweis darauf, dass ich die offenen Ohren für die freiheitliche Sache der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang künftig nicht in der erwarteten Art antreffen würde.

Nachdem ich den Initiationsritus zum Bundesbürger aufgenommen und einige Vorkammern dieser angenehmeren Hölle passiert hatte, stand ein kurzes Tête-à-Tête mit dem Repräsentanten der Geheimdienste bevor, der wissen wollte, ob in meiner Person ein gedrillter Perspektivagent anreist, ein Schläfer und Saboteur, der jederzeit aktiviert werden konnte wie der Held jenes Spionagethrillers mit Charles Bronson: „Hat der rumänische Geheimdienst versucht, Sie anzuwerben?“fragte der Beauftragte direkt. Ob der unscheinbare Herr für den Bundesnachrichtendienst tätig war, für den Verfassungsschutz oder für einen noch geheimeren Dienst, blieb mir verborgen. Ich war zunächst irritiert. Was für ihn Pflicht war, erschien mir als Ungeheuerlichkeit. Von der Securitate angeworben wurden eher junge, angehende Schriftstellerinnen, die der Partei nahe standen und ihre Führungskraft anerkannten, nicht notorische Antikommunisten von Anfang an.

„Nein!“antwortete ich deshalb ebenso direkt wie resolut und ergänzte entrüstet: „Aber die Securitate hat mir gedroht, wie sie jedem droht, der nach langer politischer Opposition das Land für immer verlässt und von dem anzunehmen ist, dass er auch im Westen politisch aktiv bleiben wird.“

Verkehrte Welten? Wo war ich gelandet? Die routinehaft gestellte Frage nach einem möglichen Auftrag seitens der Kommunisten galt der Absicherung des Rechtsstaates und war als solche notwendig. Das leuchtete ein. Trotzdem befremdete sie mich sehr, da ich davon ausgegangen war, dass die bundesdeutschen Geheimdienste- über die Botschaften und das Auswärtige Amt - aber auch über andere Quellen, etwa durch das Auswerten von Berichten und Veröffentlichungen ausgereister Dissidenten, von unseren jahrelangen, existenzbedrohenden Auseinandersetzungen mit dem totalitären Regime wissen mussten. Ob es so war? Das konnte es nie wirklich herauskriegen. Jedenfalls sah der Beamte in mir keine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik - und der Verfassungsschützer aus Stuttgart, der später kam, auch nicht. Der Rotschopf mit dem Sommersprossengesicht drückte mir seinen Stempel in das entsprechende Kästchen auf den Laufzettel und überließ mich dem Eintritt in die freie Welt. Dieser wurde dann auch von Stunde zu Stunde angenehmer.

Es folgte als typisches Merkmal des Wohlfahrtsstaates, der an alles denkt, ein Antrittsbesuch in der Kleiderkammer. Es war eine karitative Einrichtung, eine Klamottenkiste der Wohlstandsgesellschaft, wo sich Bedürftige aus den Fernen Sibiriens oder sonst woher einige Kleidungsstücke aussuchen konnten; wohl noch ein Relikt aus der bitterarmen Nachkriegszeit, als jede Wollhose und jeder warme Pullover überlebenswichtig waren. Im Kapitalismus wird niemandem etwas geschenkt, pflegten die Ideologen des Marxismus laut zu verkünden. Jetzt stand ich vor einer textilen Schatzkammer und konnte frei wählen - unter Jacken und Hosen.

Vorsichtig klopfte ich an wie einer, der seit Jahren immer wieder anklopft, dann die Tür öffnet und halb verunsichert, halb servil auf das Unbekannte blickt: „Kommen Sie ruhig näher“, begrüßte mich eine ältere Dame mit natürlicher Freundlichkeit. Sie verwaltete die Kleiderspenden. Während ich noch ein paar Schritte auf sie zuging und dann abwartete, was nun folgen würde, sah sie mich an wie unser Dorfschneider, wenn er Maß nahm, um einen Anzug anzufertigen; sie überflog mein Äußeres, den grauen Anzug, das steif gebügelte, immer noch frisch wirkende weiße Hemd, dem man den Angstschweiß der Ausreise noch nicht ansah; sie sah die silberne Krawatte mit glitzernder Krawattennadel und meine tadellos blank glänzenden, schwarzen Lederschuhe, die meine Mutter noch vor der Ausreise nach alter Sitte gewichst hatte; schließlich blickte sie mich einen Augenblicke lang an, um dann festzustellen: „Wie Sie aussehen, können Sie wohl kaum etwas von dem gebrauchen, was ich hier anzubieten habe. Ich glaube Sie sind hier im falschen Raum.“

Eine realitätsbewusste Frau - Temeschburg im Banat war kein Sibirien. Zwar sah ich ausgemergelt aus, kam aber nicht aus dem Gulag, sondern aus einer Zivilisation jenseits von Sodom. Auch war ich weit davon entfernt, mich mit Plunder zu beladen und Kram oder Güter anzuhäufen. Nach wie vor reiste ich mit leichtem Gepäck, das Kapital in der Denketage verstaut; und so sollte es auch bleiben. Artig bedankte ich mich und ging mit Genugtuung.

Meine Physis schreckte nicht ab. Und dies, obwohl alles Körperliche noch angeschlagen wirkte und ich nahezu kahl geschoren und bis auf die Knochen abgemagert dastand. So war ich auch salonfähig, um in die Stadt zu gehen. Keine üble Idee. Nachdem im Röntgenraum festegestellt worden war, dass die offene Tuberkulose einiger Zellgenossen nicht auch meine Lungen kolonisiert hatte, hielt mich nichts mehr zurück.

Neugierig die berühmte Stadt zu sehen, ließ ich die Baracke hinter mir, ging los und sah mich um, die Bilder des zu Ruinen zerbombten Nürnberg aus dem Gedächtnis aktivierend. Neunzig Prozent der Innenstadt waren seinerzeit im Bombenhagel und in der Feuersbrunst zerstört worden. Davon war jetzt kaum noch etwas zu erkennen. Lücken verwiesen auf das verflogene Inferno und deplatzierte Zweckbauten, die in den Jahren des Wiederaufbaus schnell und billig errichtet worden waren.

Wissbegierig ging ich quer durch die Straßen der Altstadt, ohne genaues Ziel, an der Burg vorbei und an den Resten mittelalterlichen Fachwerks, das die Flammen überdauert hatte, bis hin zu jenem ausgedehnten Gelände, wo einst - zum Schrecken der Welt - SA und SS mit Standarten und Fahnen aufmarschiert waren; wo der Führer, seinen makaber-dämonischen Kult der Selbstverherrlichung und des Todes zelebriert hatte. Ein weites, weites Feld … In Gedanken versunken ging ich auf und ab … Und dachte, die Paraden vor den Augen und das Grollen des Führers im Ohr, wie so oft in den letzten Jahren, an Größenwahn und Hybris, an menschliche Bosheit, an vielfachen Terror und Leid, an Tod und Vernichtung, an Geschichte, an die Vergänglichkeit der Dinge und an das Zerfallen ganzer Weltreiche. Immer hatte ich an einem geschichtsträchtigen Ort leben wollen, in der Aura des Geistes früherer Jahrhunderte. Jetzt war ich an einer solchen Stätte: In Nürnberg, in der einst freien wie wohlhabenden Handelsstadt, im späteren roten Nürnberg, das die Nationalsozialisten um jeden Preis hatten umkrempeln wollen, um ihm eine neue Identität, eine braune Identität, zu geben - und dies auch schafften.

Die Nürnberger Gesetze waren hier verabschiedet worden, die Rassengesetze, juristische Vorstufen der Wannsee-Beschlüsse, die Nürnberger Prozesse waren hier abgerollt, vor den Augen der Welt. Jetzt war ich an einem Ort - mit fast schon zuviel historischer Schwere. Hier befand ich mich an einem Ort deutscher Vergangenheit, den man in der Welt besonders gut kannte und in dessen Namen sich die jüngste deutsche Geschichte noch eindeutiger verdichtete als in der Hauptstadt Berlin. Deutschland … Schweres Schicksal - Jetzt war ich ein Teil von ihm. Und bereit, es mitzutragen.



Sonntag - oder: von der Freiheit eines Christenmenschen




Der nächste Tag war ein Sonntag. Ein trauriger Sonntag? Ein Sonntag mit zuviel Einsamkeit und Melancholie? Ein Sonntag, an dem man sich nach verrauchter Zigarette von der Brücke stürzte, weil das Leben keinen Sinn mehr machte? Nein! Die traurigen Töne der Geige waren weit. Ein neuer Tag des Glücks sollte es werden! Aber auch ein Tag der Einkehr und der Selbstfindung, so ähnlich wie ich ihn nach meiner Entlassung in der Michaelskirche erlebt hatte, den Blick dankbar zum Himmel gerichtet. Ich war davongekommen und entsprungen - gerettet. Bevor es am Montag weiterging hinein ins Ländle und hindurch bis in das badische Land nach Rastatt unweit des Rheins, gab es nichts mehr zu tun. Mit einem Zwanzig-Mark-Schein Begrüßungsgeld im Portemonnaie war ich kein armer Mann und frei. Ein kleines bisschen reicher wäre auch nicht schlecht gewesen. Doch ich stand ja erst am Anfang meiner kapitalistischen Lebensphase. Nutze den Tag, dachte ich wie Generationen von Mönchen vor mir und ging wieder los, vom Zufall gesteuert und ohne bestimmtes Ziel auf die menschenleere Altstadt zu.

Was war los in Deutschland? Wo war der Corso? Wo waren die Menschen? Ausgestorben? Wie nach einem Atomschlag oder nach dem Wüten einer neuzeitlichen Pandemie? Solch eine Leere hatte ich noch nie erlebt. Die Einsamkeit muss groß sein in diesem Land, dachte ich. Wurde es doch ein trauriger Sonntag? Wo war die nächste Brücke oder der höchste Turm? Die gesamte Gesellschaft schien mir auf Einsamkeit ausgelegt und auf Vereinzelung. Saß jeder in seiner Stube und brütete vor sich hin?

Mein Weg in die Mitte der Stadt führte mich zur Lorenzkirche, wo gerade ein evangelischer Gottesdienst abgehalten wurde. Orgelmusik drang an mein Ohr. Viele Gründe hätte ich gehabt, mit einzutreten und ein Dankgebet zu sprechen; in das Singen von Psalmen einzustimmen, zu frohlocken und zum Kreuz hochzublicken, das mein Symbol war und mein Weg im Hoffen und Erleiden; ein Zeichen, das bisher den Kampf definiert hatte und die Passion. Doch ich verzichtete darauf. Nicht aus Missachtung und oberflächlicher Ignoranz, die einen beschleicht, wenn man eine schwierige Situation überwunden hat und einen dabei die metaphysische Hilfestellung undankbar vergessen lässt, sondern als Freigeist, der sich unmittelbar zum Höheren hin definiert, das er in sich trägt.

Die Freiheit des Christenmenschen vor Gott, die den Nürnberger Protestanten seit Luthers Zeiten vertraut ist, die direkte Verantwortung vor dem Gewissen und der höchsten metaphysischen Instanz war mir, dem zum Katholiken erzogenen Menschen, näher als die Mediation der Institution Kirche. Das protestantische Gotteshaus vor meinen Augen erschien mir als ein Ort der Glaubensgemeinschaft, wo andere, die tiefer in der Religion verwurzelt waren, Trost suchten, während für mich, den Einsamen auf Wanderschaft, die Kirche nicht mehr war als ein Ort der stillen Einkehr, ein Refugium, das den Weg der Freiheit zu Gott und somit den Dialog mit Gott mit ermöglichte.

Wie oft hatte ich, den Blick zu den Sternen erhoben, jene Fidelio-Passage vor mich hin gesummt: wir wollen mit Vertrauen, auf Gottes Hilfe bauen Wir werden frei, wir finden Ruh! Rettung! Jetzt war es soweit: Ich stand mitten in einer großen Stadt, die fremd war und doch heimisch und genoss den dumpfen Klang der Glocken aus der Ferne, die anderswo das Ende eines Gottesdienstes einläuteten.

Doch Gott war überall. Und wenn er im Herzen war, das lehrte schon Meister Eckhart, bedurfte es der Kirche nicht. Also blieb ich draußen vor der Schwelle und lauschte der musischen Andacht der Anderen. Als sie verklungen war und die ersten Messebesucher aus dem Gotteshaus strömten, zog auch ich weiter und kehrte kurz danach in ein typisches Gasthaus ein, das mir ein entgegenkommender Kirchgänger, ein freundlicher Franke in Sonntagstracht, empfohlen hatte.

In der Gaststätte tätigte ich meinen ersten kapitalistischen Umsatz, indem ich die mich mild anblickende Tucherfrau, die mir als pekuniäres Begrüßungsgeschenk gereicht worden war, in einen Schweinebraten mit Kloß und in ein fränkisches Rauchbier umwandelte. Wie gewonnen, so zerronnen! Alles Schall und Rauch, auch hier? Andere Landsleute hätten mit dieser stolzen Summe gleich einen Bausparvertrag abgeschlossen oder ein Grundstück anbezahlt, während ich der Sinnlichkeit frönte und die Vergänglichkeit aller Dinge zelebrierte. Vielleicht war ich tatsächlich nur eine unstete Existenz, ein Libertin des Geistes, ein verkappter Künstler und Ästhet, der nie zum bürgerlichen Leben taugte?

Dann suchte ich aber doch nicht nach der ersten Brücke, sondern ich ließ mich, körperlich und seelisch gefestigt, von der Atmosphäre der Stadt berauschen, an deren Universität ich kaum zwei Jahre später meine Studien aufnehmen und in deren Historie ich mich noch mehrfach vertiefen sollte.

Reste der großen Zeit im Spätmittelalter waren noch zu erkennen; ein paar Hinweise auf Hans Sachs … Auch einige, noch nicht ganz vernarbte Wunden des letzten Krieges, die entsprechende Assoziationen wachriefen, von den traumatischen Aufmärschen auf dem monumentalen Parteitagsgelände bis zu den Nürnberger Prozessen, die den Endpunkt einer langen Politik- und Kriegstradition markierten. Hatte der Krieg als Mittel der Politik ausgedient? Waren die Eroberungskriege der Weltgeschichte, die ganze Völker in die Versklavung gestürzt hatten, endlich vorüber? Und brach nun endlich das Zeitalter der Menschrechte an, die Zeit des Völkerrechts und der friedlichen Konfliktlösung? Die Zeit des ewigen Friedens, an der schon Kant laborierte?





Kleine Welt




Als ich am Spätnachmittag in die Baracke zurückkehrte, traute ich meinen Augen nicht. Bekannte Gesichter! Und dazu noch aus Sackelhausen! Vor mir standen zwei Brüder aus der Hauptgasse unseres Heimatdorfs, ehemalige Sympathisanten unserer Freien Gewerkschaft in Temeschburg. Sie hatten die Gründungsurkunde zwar nicht unterzeichnet; doch hatten sie sich in einer mündlichen Solidarisierungsbekundung der Bewegung angeschlossen, vermutlich erst dann, als ich schon verhaftet war.

Viele waren damals noch mit aufgesprungen auf den fahrenden Zug in die Freiheit, mit dem sicheren Gespür, so die Ausreise erzwingen zu können. Ganz andere Trittbrettfahrer der Bewegung meldeten sich erst nach vielen Jahren, nach dem Umsturz, als jede Gefahr gewichen war.

Das beherzte und solidarische Mitwirken hatte den beiden Brüdern eine bakschischfreie Ausreise ermöglicht. Welch ein Zufall, Helmut und - wie sollte er anders heißen- Hans hier und jetzt anzutreffen! Ich war verblüfft und zugleich erfreut. Sie hatten einiges gewagt; und sie hatten auch einige Ohrfeigen im Securitate-Verhör erdulden müssen, auch Psychoterror, Drohungen und Ängste aller Art. Doch dafür waren sie nunmehr frei - und frei von Schulden! Eine schöne Begegnung - ein erfreuliches Wiedersehen mit Menschen aus der Heimat, die ich eigentlich nie richtig kennengelernt hatte. Nun gab es Gelegenheit, ein paar Stunden miteinander zu verbringen und noch einmal die Stunden in der Folterkammer der Securitate Revue passieren zu lassen.

Den jüngeren der Brüder hatte ich das letzte Mal gesehen, als man ihn während meines Verhörs kurz in den Raum schob, um mich zu identifizieren. Damals hatte er feuerrote Ohren und zerzauste Haare, wirkte eingeschüchtert und ängstlich wie ein zierliches Kaninchen beim Anblick der Schlange. Jetzt stand er als freier Mann vor mir. Er wirkte glücklich. Das Durchstehen der Maulschellen hatte sich gelohnt! Alle Wege standen ihm nun offen.

Also hatte sich die Widerstandsaktion, unser gesamter Einsatz, auch praktisch gerechnet! Auch für andere. Das war späte Genugtuung für die erduldete Haft. War doch alles gut eingerichtet in der besten aller Welten?

Gegen Abend besuchte ich mit den Brüdern einen ihrer Bekannten in Nürnberg, der ebenfalls aus einem Banater Dorf stammte und in einem Hochhaus lebte. Es wurde ein gemütliches Beisammensein. So vollzog sich während eines rustikalen Abendessens bei ungarischer Salami, eingelegter Paprika und pappig süßem Rotwein, umgeben von Menschen aus der alten Heimat, in kaum erst verflossene Reminiszenzen vertieft, der Eintritt in die neue Gesellschaft. Allzu viele Details konnten wir nicht vertiefen. Doch ließ mich der Umstand dieser schnellen Ausreise beider Sympathisanten auch für alle anderen Zurückgebliebenen hoffen, speziell für Erwin, der noch als eine Art Geisel festgehalten wurde, vielleicht auch als eine Versicherung der rumänischen Machthaber, die mich dadurch von aufklärerischen Aktivitäten abhalten wollten.




Rastatt - Freiheit und Revolution




Von Nürnberg aus reiste ich mit der Bahn quer durch den Süden Deutschlands nach Rastatt, an jenen Ort, wo der Kampf deutscher Patrioten für Freiheit und Menschenrechte im Jahr 1849 als Badische Revolution bereits in die Geschichte eingegangen war. Dort hat das Land Baden-Württemberg sein provisorisches Aufnahmelager für Heimkehrer, Vertriebene und Flüchtlinge eingerichtet, auch für mich. Die unerquickliche Nacht verbrachte ich in einer Massenunterkunft in einem Raum zusammen mit drei frei gekauften Personen aus der DDR. „Hast du Mal einen Zwanni für mich? Wir wollen ausgehen und haben noch kein Begrüßungsgeld erhalten?“ sprach mich einer der beiden stark tätowierten Burschen an, ein jovialer Rüpel, der nach langer Abstinenz gerade eine turbulente Nacht mit der Freundin verlebt hatte. Man gab sich emanzipiert. Der unfreiwillige Voyeur störte keinen. Die beiden ehemaligen Häftlinge schienen ganz gewöhnliche Kriminelle zu sein. Sie hatten einige Jahre im Gelben Elend zubringen müssen, bevor sie für einen stattlichen Betrag von der Bundesrepublik freigekauft worden waren. Hunderttausend Deutsche Mark und mehr konnte der Arbeiter- und Bauernstaat Honeckers für einen gewöhnlichen Strafgefangenen erlösen, der aus der Sicht der Bundesrepublik Deutscher und immerhin ein Mensch war. Der Betrag entsprach dem Zehnfachen dessen, was der geldgierige Ceauşescu für einen Banater Schwaben oder einen Siebenbürger Sachsen erlöste - modern times, auch hier. Kannte ich meine Pappenheimer? Der einzige wesentliche Unterschied zu den Straftätern aus dem Temeschburger Knast bestand darin, dass diese hier deutsch redeten - und ihnen die langen Mähnen und Schnurrbärte nicht wegrasiert worden waren. „Wie stellt ihr euch das neue Leben in der Bundesrepublik vor, eure Zukunft?“ wollte ich wissen, so von Knacki zu Knacki.

„Bundesrepublik?“höhnte der große Blonde mit dem buschigen Schnauzer. „Hier haben wir keine großen Pläne. Wir brauchen nur noch Papiere. Dann geht’s ab nach Djibuti!“

„Nach Djibuti?“ wunderte ich mich und fragte ungläubig nach:„Nach Djibuti in die Wüste, im Golf? Was wollt ihr denn in Djibuti?“

„Mäuse machen, richtig Mäuse machen … Kohle machen … Asche machen!“ ereiferte sich der kleine Stämmige künftige Freuden schon auskostend.

Asche? Kombinierte ich. War das nicht ein Symbol der Reinigung, des Verfalls, des Nullpunkts. Christen reinigten sich mit Asche an Aschermittwoch, als Erinnerung an Jesus! Asche, das war doch jene Essenz, die zurücklieb, wenn das Feuer verbrannt und die letzte Glut verglüht war; wenn die Liebe tot war und die Leidenschaft; ein Mittel, mit dem Agni sich einbalsamierte, der Feuergott der Hindus - und sie war das Element, aus dem Phönix, mein Lieblingsvogel, zu neuem Leben emporstieg! Konsterniert blieb ich zurück. Das war wieder einmal eine Lehrstunde über die Ambivalenz der Symbole - und über die Botschaft, die im Mythos liegt.

Geld, immer nur Geld - Mittel zur Freiheit oder Voraussetzung zur Versklavung? Die Werte rotierten wie die Wahrheiten. Geld. Auch das war eine Motivation, in die Bundesrepublik einzureisen - oder, dies schien mir wahrscheinlicher - nur aus der DDR auszureisen. Selbstverwirklichung über Geld?

Was gab es eigentlich in Djibuti, was so verlockend klang? Erdöl, andere Kohlenstoffe, Diamanten? Exotische Tiere, deren Schmuggel in den Westen so lukrativ war? Oder gar die französische Fremdenlegion, die dort eine Basis unterhält? Die, nach formaler Läuterung, alles Gesindel aufnimmt, das bereit ist, alle Brunnen zu vergiften und auf Befehl jeden zu töten? Ich fand es nie heraus. Schließlich war es unwichtig. Das Kohlemachen hatte für mich überhaupt keine Priorität.

Freiheit für Geld - wie tief konnte ein Mensch sinken oder eine Gesellschaft, die den Mammon verabsolutierte? Der Tanz um das goldene Kalb - war er nicht schon einmal schwer bestraft worden?

Die wenigen Tage in Rastatt waren schnell verrauscht. Neben der Besichtigung der Schlossanlagen mit rascher Rückbesinnung auf die Ideale der Freiheit und der Badischen Revolution erledigte ich noch jene Behördengänge, die aus mir in nur wenigen Tagen einen vollständigen Bürger der Bundesrepublik Deutschland machen sollten.

Eltern und Bruder lebten inzwischen im Remstal, genauer in Schorndorf, dem Geburtsort des genialen Konstrukteurs Gottlieb Daimler. Dort sahen wird uns wieder, ohne viel Pathos. Schorndorf blieb dann auch für einige Jahre parallel zu den Studienorten Erlangen, Tübingen und Freiburg ein zweitheimatlicher Fixpunkt mit zahlreichen freundschaftlichen Kontakten und kulturellen Aktivitäten. Kaum ein Jahr nach ihrer Umsiedlung aus Sackelhausen zogen meine Eltern für viele Jahre in das nahe, auch an der Rems gelegene Plüderhausen, das gleich neben Waldhausen liegt. Wie sich die Dinge fügten. Von Hausen nach Hausen. Formal hatte sich fast nichts verändert. So schien es.

In kurzer Zeit neigte sich der Verwaltungskram, der mehr und mehr meine neue Identität festigte und mir vermittelte, wer ich eigentlich sein sollte, seinem Ende zu. Schon nach Tagen wurde mir ein Personalausweisausgehändigt; dann bekam ich einen Reisepass gültig für alle Staaten der Welt, eine Einbürgerungsurkunde; einen lindgrünen Flüchtlingsausweis; dann folgte die Anerkennung als Heimkehrer, dank derer - in der Art einer ausgleichenden Gerechtigkeit für die Haft - mir der anstehende Dienst an der Waffe erspart blieb; schließlich die Anerkennung als ehemaliger politischer Häftling. Für meine Haftzeit wurde mir eine stattlich staatliche Entschädigung zugesprochen, eine Mark pro Tag - das ergab die stolze Summe von 182 Mark. Dieser Betrag reichte gerade aus, um ihn gleich in ein so genanntes Tramper-Ticket der Bundesbahn zu investieren, das mir die Möglichkeit bot, bald darauf ausgiebig und weit durch die Bundesrepublik zu reisen und auch Ecken zu erkunden, die ich sonst nie angesteuert hätte.

Einige Zeit später stockte die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge den bescheidenen Betrag auf und bewilligte mir, dem Abiturienten und angehenden Studenten, eine Eingliederungsbeihilfe von 2200 Mark, Mittel, die ich dankbar annahm und auch gut zur Finanzierung weiterer Menschenrechtsaktivitäten gebrauchen konnte. Nachdem ich alle Formalitäten erledigt und alle Dokumente in einem Ordner verstaut hatte, war ich endlich ein vollwertiger Mensch und Bürger, der in die Gesellschaft eintreten konnte. Jetzt konnte ich endlich auch antreten, lange erstrebte Freiheiten zu genießen und das künftige Leben frei und sinnvoll zu gestalten, ganz so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Eigentlich hatte ich mir viel vorgenommen. Doch vor den egoistischen Interessen erwartete mich die Pflicht. Einigen Leidensgefährten hatte ich gewisse Dinge versprochen - und diese Zusagen gedachte ich auch zu halten.

Die eigentliche Aufgabe war noch nicht abgeschlossen; sie ging weiter.

Ich war froh und dankbar, dass alles so eindeutig war; und dass ich in meinem bisherigen Widerstand, klar positioniert auf einer Seite stand, die mir die Richtige erschien - und nicht im Zweifel und Selbstzweifel wie viele deutsche Widerstandskämpfer, wie Graf Schenk von Stauffenberg, der sich vor seiner mutigen Tat zwischen Werten entscheiden musste, zwischen Gehorsam und absoluter Loyalität und der von einer Notwendigkeit diktierten Pflicht, handeln zu müssen. Welcher Patriotismus ging vor? Den Führer am Leben zu lassen, wozu der Eid verpflichtete oder die Pflicht, das Vaterland zu retten, indem er auch gegen eines der höchsten Gebote des Christentums verstieß? Stauffenberg handelte; und er handelte nach immensen Gewissenskonflikten - richtig! Mir war dieses Dilemma erspart geblieben. Dafür war ich sehr dankbar.

Während manche linke Idealisten aus meinem früheren Umfeld die offiziellen Linken bekämpfen mussten, die Staatskommunisten, die im Gegensatz zu den Weltverbesserern bereits zu strammen Rechten mutiert waren, war unser Widerstand einfacher einzuordnen, mit einem klaren externen Feindbild wie bei Partisanen oder der Résistance.

Die Pflichtethik hatte mein gesamtes bisheriges Handeln bestimmt. Das Erreichen des persönlichen Glücks war nur ein erster Antrieb gewesen, ein Stimulans zum Hinauf. Der Weg selbst hatte dann aber gezeigt, dass egomanisches oder egozentrisches Handeln nicht alles ist - und dass ein utilitaristisches Glück, das Individuum und Welt miteinander versöhnt, auch über die Pflicht erreicht werden kann. Manchmal wird aus Freiheit Pflicht. Manchmal aus Pflicht auch Unfreiheit! Dagegen erkannte ich in meiner Freiheit ab jetzt die Chance, noch höher zu steigen und im Überindividuellen, im Altruistischen der eigenen Existenz noch mehr Sinn zu geben. Doch nicht als Pflicht gegenüber dem Staat - dem kältesten aller Ungeheuer - sondern als Pflicht gegenüber dem Menschen. Das war meine Schlange, die sich in den Schwanz biss; meine Ewige Wiederkehr des Gleichen - und definitiv meine Versöhnung von Christentum und Philosophie.



In freiheitlicher Mission - beim Sender Freies Europa in München



Innerhalb einer Woche war das Gröbste an Formalitäten erledigt. Jetzt begann der Alltag in einer neuen Welt, der Alltag desehemaligen Dissidenten. Während andere, einmal im Westen angelangt, unter ihren Aufruhr von gestern, der nur ein Mittel zum Zweck war, einen Schlussstrich zogen, um sich künftig eigenen Interessen zuzuwenden, machte ich noch eine Weile weiter, ein Weile, aus der dann noch zehn Jahre wurden.

Über Stuttgart reiste ich zunächst nach München, um beim Sender Radio Freies Europa anzuklopfen. Für den Fall, dass ich dort Interviews zu geben beabsichtigte, hatte mir die Securitate mit Vergeltung gedroht. Der lange Arm der Revolution werde mich auch in der Bundesrepublik zu erreichen wissen, wie er bereits einige Mitarbeiter des Senders und einzelne Exilintellektuelle erreicht hatte. Das Land werde es nicht hinnehmen, öffentlich diffamiert zu werden. Man werde hart durchgreifen und die zurückgelassenen Freunde zur Rechenschaft ziehen. Was sollte ich jetzt tun?

Ein Gewissenskonflikt bahnte sich an. Sollte ich nun aus Furcht vor einem potentiellen Mordkommando wie der feige Wolf im Märchen den Schwanz einziehen und mich memmenhaft verkriechen? Sollte ich aus Rücksicht auf Freund Erwin und andere gute Bekannte aus meiner Jugend schweigen und abwarten? Das entsprach nicht unserem bisherigen Handeln. Bisher hatten wir uns nicht einschüchtern lassen und waren gut damit gefahren. Jetzt kam es darauf an, diese Linie beizubehalten und konsequent weiterzumachen. Dabei war mir bewusst, dass eine solche Haltung auch im Sinne des Streitgefährten war. Auch Erwin, der noch in einer Art Geiselhaft für die Zeit eines weiteren Jahres im Land gehalten wurde, musste daran interessiert sein, die Erinnerung an die gerade erst unterdrückte freie Bürgerbewegung wach zu halten, um dabei nicht wieder in lähmende Anonymität zurück gedrängt zu werden.

Nachdem ich mich an der Pforte des Senders, wo bald darauf eine Bombe hochgehen sollte, angemeldet und in einem der Sessel im Empfangsbereich Platz genommen hatte, dauerte es nicht lange, bis der Direktor der rumänischen Abteilung auf mich zukam und mir noch etwas unsicher die Hand reichte: „Noel Bernard“, stellte er sich vor. Den wohlklingenden Namen kannte ich seit Jahren. Ein Pseudonym? Vielleicht! Jetzt stand ein kleines, schwaches Männchen vor mir mit brauner Gesichtsfarbe und schwarzen Haaren. Er trug einen tiefblauen Anzug und zeigte eine nervöse Grundhaltung, meinem Temperament nicht unähnlich. Vom Typus her erinnerte er fern an den Barden Charles Aznavour und war vermutlich armenischer oder kaukasischer Herkunft. Prometheus war dort an den Berg geschmiedet worden, lange vor der Sowjetdiktatur. Doch dieser Titan des freien Wortes vor mir war seit Jahren entfesselt und leistete der Freiheitgute Dienste. Tabakgeruch drängte sich auf und vermittelte mir den Eindruck, mit einen notorischen Kettenraucher konfrontiert zu sein, mit einem hypernervösen Charakter, dessen Wesen die Hektik war.

„Wie ist die Versorgungslage im Land?“ erkundigte sich der Programmchef spontan, hoffend, ich werde ihn mit allerneuesten Nachrichten aus Temeschburg oder der Kapitale versorgen. Die Frage überraschte mich etwas und ließ mich verlegen ausweichend reagieren. Was hätte ich antworten sollen? Eine Katastrophe? Wartete er darauf?

„Ich weiß es nicht genau!“ gab ich knapp zurück, ohne Lust zu heucheln: „In den letzten sechs Monaten saß ich in einer Zelle und habe keine genaue Vorstellung davon, wohin die Gesellschaft in dieser Zeit steuerte und wie sie sich entwickelt hat. Allerdings war vielfach zu vernehmen, es würde täglich weiter bergab gehen. Selbst genuine Rumänen hätten kaum noch Lust, bis zum Sanktnimmerleinstag in der Diktatur auszuharren und auf positive Veränderungen zu hoffen. Ceauşescu, von dem die Menschen sagen, er würde langsam verrückt werden, soll damit begonnen haben, die immensen Auslandsschulden forciert zu tilgen, um sich auf diese Weise dem Würgegriff und der Abhängigkeit westlicher Geldgeber zu entziehen. Autarkiestreben nenne man das neuerdings, Emanzipation von Moskau und Abkehr vom Westen. Man spricht aber auch von autistischer Selbstisolation und von progressivem Wahnsinn!“

Damit bestätigte ich lediglich Gewissheiten. Bernard saß an der Mündung der Informationsflut aus dem Land und wusste genau, wohin die Reise ging. Ceauşescu wollte wirklich frei sein. Frei wie Enver Hoxha, frei wie Kim, frei zum Gang auf dem Holzweg in die Sackgasse.

Während wir uns weiter über die jüngsten oppositionellen Bestrebungen in Rumänien unterhielten und intern überprüft wurde, wer ich überhaupt sei und ob ich glaubwürdig sei, kam ein leitender Mitarbeiter des Senders hinzu, ein Redakteur, der mir namentlich als Moderator eines Jugendmagazins bekannt war. Er stieg mit in eine Diskussion ein, die zunehmend lebhafter und emotionaler wurde. Das Eis war inzwischen gebrochen - und das gegenseitige Vertrauen da. Hier hatte ich es mit Vollblutjournalisten zu tun, die ihren Beruf mit Leidenschaft und aus weltanschaulichen Überzeugungen heraus ausübten. In ihrem Engagement war viel innere Wahrhaftigkeit. Und weil dies so war, kam ihre Botschaft nicht nur bei mir an - sie erreichte auch die nach objektiven Informationen dürstenden Menschen an den Radiogeräten im Ostblock.

Nach einer guten Viertelstunde beendeten wir das Vorgespräch indem wir uns darauf einigten, am folgenden Tag zwei längere Interviews aufzunehmen. Das erste zum Thema Freie Gewerkschaften in Rumänien, speziell über die Abläufe der SLOMR-Gründung in Temeschburg; das zweite über mein noch junges, aber schon wechselreiches Leben im real existierenden Sozialismus rumänischer Prägung; speziell über das langsame Hineinschlittern in oppositionelle Tätigkeiten und über das genuine Hineinwachsen in eine Menschenrechtsbewegung, die inzwischen europäische Dimensionen anzunehmen schien. Die Charta 77 tschechoslowakischer Intellektueller bestand immer noch -und in Polen regte sich eine breit fundierte Gewerkschaftsbewegung, die, moralisch vom polnischen Papst unterstützt, bald Millionen Menschen unter einem Ideal vereinen und unter dem Namen Solidarnoscin die Geschichte eingehen sollte. Vor diesem Hintergrund sollte ich in einer Retrospektive zurückblenden.







Münchner Freiheit




Daraufhin verließ ich das Sendergebäude und schlenderte dem Innenstadtbereich zu. Die späten Nachmittagsstunden verbrachte ich dann wieder in der milden Herbstatmosphäre des Englischen Gartens und genoss die Einsamkeit und Freiheit der vergehenden Natur inmitten der Großstadtgesellschaft. Gegen Abend nahm ich jene Adresse ins Visier, die ich im Sender erhalten hatte und wanderte vorbei an der Münchner Freiheit zu einem kleinen Gasthof in Schwabing, wo der Sender seine Gäste einzuquartieren pflegte. Dort aß ich eine Kleinigkeit und streckte mich dann zufrieden auf einer bequemen Matratze aus, bereit in einen geruhsamen Schlaf zu sinken.

Jetzt war ich in der Stadt an der Isar, in der Stadt der Olympiade, wo unlängst erst Schüsse gefallen und Blut geflossen war. Unterschiedlichste Assoziationen drängten sich auf; historische Bilder, die weit zurückreichten, makabre Sequenzen mit revoltierenden Bauern- und Soldatenräten mit einem dagegen putschierenden Obergefreiten und einem bombenlegenden Attentäter Elser im Löwenbräukeller, der- als aufrichtiges Gewissen seiner Zeit- das falsch laufende Rad der Geschichte zurückdrehen wollte! Nicht nur hohe Offiziere revoltierten gegen den Tyrannen, sondern auch kleine Leute wie Elser: Brandauer verewigte ihn im Kino!

Und hier, im Herzen der Weltstadt München, hatten in unbarmherziger Zeit die Geschwister Scholl ihren Widerstand gelebt. Und die Stimme der Göttin Libertaserschallte hier auf diesen Straßen und in den Räumen an der nahen Universität. Wie schwer es doch war, einige Augenblicke im Leben aufrecht zu gehen und dem Gewissen folgend zu handeln? Was war von diesem Geist noch übrig?

Gab es Bekannte in dieser Stadt? Menschen aus meiner Vergangenheit, sonstige Namen, Geistesgrößen, Personen, die ich damals unmittelbar kontaktiert hätte? Ein alter Kumpel fiel mir ein, mit dem ich einst in Temeschburg über die Münchner Freiheit philosophiert hatte. Es war der alte Casanova, der unersättliche Libertin, der wohl immer noch nach dem Ewig Weiblichen suchte, ohne es je zu finden? Sollte ich jetzt nach seiner Nummer suchen und ihn anrufen? Er, der Bon vivant, kannte die Stadt bestimmt schon gut, ihr Nachtleben, ihre Diskotheken? Wäre das keine gute Gelegenheit, zusammen in Freiheit einmal richtig die Sau heraus zu lassen, wie wir es doch immer vorhatten? So nach der barocken Art Mozarts und seines ewig balzenden Don Giovanni, aus tiefster Seele und Kehle die Worte herausschreiend:Viva, viva, la liberta! Welche auch immer! Eine köstliche Verlockung!

Doch ich widerstand. Schließlich sollte ich mit kühlem Kopf zum Interview antreten, nicht mit umnebelten Sinnen. Über mich selbst amüsiert und über geheime Wünsche, versuchte ich einzuschlafen. Als der Schlaf nach längerem Herumwälzen trotzdem nicht einsetzen wollte, blickte ich mich um und erspähte ein kleines Radio, das unauffällig in einer Ecke stand. Es war ein altes Modell, nicht viel größer als der legendäre Volksempfänger, der in den letzten Tagen des Krieges - an den Durchhalteparolen eines Goebbels vorbei - oft nur noch zum Hören von Feindsendungen eingesetzt worden war, obwohl dies mit der Todesstrafe geahndet werden konnte.

Dann schaltete ich das Radio ein und drehte vorsichtig am Drehknopf herum, so lange bis endlich einige klare Klaviertöne an mein Ohr drangen. Es klang nach Chopin oder Debussy, was ich da aufschnappte. Nach dem Verklingen der unbekannten Komposition wurde eine Echtübertragung aus dem Münchner Gasteig angekündigt. Bruckners Achte stand auf dem Programm - die Apokalyptische. Eine symphonische Rarität, die ich noch nie gehört hatte. Und am Pult, welch ein Zufall - ein Meister aus Rumänien: Sergiu Celibidache, der Philosoph unter den Dirigenten der Neuzeit.

Er war der Geist, der in der Nachfolge seines Lehrers Furtwängler und in der Tradition Husserls, das innerste Wesen der Musik ergründen und die Substanz selbst aus der wahren Musik herausholen wollte. Bruckners Achte bot ihm das Medium dazu. Kaum wagte ich es noch zu atmen. Die mir bekannte Fünfte, die Romantische, ließ mich Großes erwarten. Neugierig gespannt, dann immer gelöster, doch von innerer Erregung erfüllt, ergab ich mich dem symphonischen Fluss, der immer mächtiger, tiefer und dunkler wurde und ewig anzuhalten schien, über eine Stunde hinaus. Entrückt vernahm ich eine Symphonie, wie ich sie noch nie gehört hatte. Mahler hatte mich stark beeindruckt. Doch dies ging darüber hinaus. Irgendwann, als sie verklungen und nur noch ein stiller Nachhall im Ohr fortwirkte, schlief ich besänftigt ein.




Ein Lockruf des Goldes




Nach einer ruhigen, traumlosen Nacht und einem mageren Frühstück in der Schwabinger Pension machte ich mich wieder auf den Weg quer durch den Englischen Garten, zum Sender. Dort traf ich den Redakteur und Moderator wieder, den Noel Bernard mir vorgestellt hatte. Er hieß ganz zufällig und vielleicht symptomatisch für sein bayrisches Umland Max.

Wir begaben uns in das Aufnahmestudio, in einen kleinen sterilen Raum, in dem es nichts weiter gab als ein Tischchen, zwei Stühle und ein Mikrophon. Die Technik war jenseits des Fensters untergebracht. In dieser unerquicklichen Atmosphäre, von der ein ferner Hörer nichts ahnt, sollte ich nun enthemmt über mein Leben reden, über die Erfahrungen, die ich gemacht hatte, unmittelbar und frei. Gleich stiegen wir in die Diskussion ein, nachdem Max Bănuş mich in einer Vorrede seinem Publikum vorgestellt und darauf verwiesen hatte, dass ich als noch relativ junger Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien kaum Rumänisch-Unterricht gehabt hätte und aus diesen Gründen das Rumänische nicht umfassend beherrsche. Dann ging er zügig und professionell zur Sache über. Max fragte geschickt und lenkte das Gespräch so, dass alle Essenzen gut verständlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurden. Die Interviews, die noch vor dem Senden bearbeitet wurden, zogen sich einige Stunden hin. Schließlich waren wirklich alle Entwicklungsstationen ausgeleuchtet und alles Wichtige gesagt. Erleichtert atmete ich auf.

Nach der erledigten Arbeit setzten wir uns in der Kantine des Hauses noch einmal zusammen, aßen etwas und sprachen über verschiedene Themen, auch über künftige Dinge. In diesem Kontext machte mir Max ein Angebot: „Das war eine schöne Story“, summierte er jovial. „Wenn du das willst, können wir noch viel mehr daraus machen!“

Etwas verblüfft horchte ich auf. Noch bevor ich seine unbestimmten Perspektiven ergründen konnte, fuhr er fort: „Es wäre denkbar, aus deiner nicht alltäglichen Vita eine Serie zu machen, die wir dann über Wochen verteilt ausstrahlen wie die Sendung Thesen und Antithesen aus Paris, gestaltet und betreut von dem, dir sicher bekannten Kritikerpaar Monica Lovinescu und Virgil Ierunca. Wir könnten aus jedem Kapitel deiner Biographie eigene Folgen machen, die junge Menschen im Land ansprechen. Wir könnten dann den Sachen tiefer, differenzierter auf den Grund gehen, so dass auch einfachere Menschen die regimekritischen Aktivitäten im Land verstehen“, spekulierte er mit unverkennbarer Begeisterung. Als ihm aber auffiel, dass ich weder mit spontaner Zustimmung reagierte und auch sonst nicht besonders enthusiastisch dreinblickte, sondern mich eher nachdenklich reserviert verhielt, ohne rechte Lust, das Angebot aufzugreifen, warf er noch einen Köder aus, indem er fast überschwänglich ausrief: „Bedenke, du sitzt hier auf einem Sack voller Geld. Du brauchst nur zuzugreifen! Wenn wir das Projekt gemeinsam durchziehen, kannst du dabei eine Menge Geld verdienen, richtiges Geld, das du bei deinen kommenden Studien sicher gut gebrauchen kannst!“

Geld!? Viel Geld!? Das klang nicht schlecht. Eine sanfte Versuchung kroch hoch mit dem unbestimmten Klang des Goldes. Doch hinter diesem Lockruf erkannte ich intuitiv, von menschlicher Sympathie und humanistischer Absicht kaschiert, die nicht ganz reine Stimme eines Kalten Kriegers. Die Ost-West Konfrontation tobte immer noch. Wir lebten in der Breshnew-Ära, noch Jahre vor Reagans Machtübernahme. Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan stand noch bevor. Das State Departement der Vereinigten Staaten arbeitete an der moralischen Destabilisierung des Ostens. Und Radio Freies Europawar ein ausgewähltes Mittel dazu.

Nur wollte ich kein zusätzliches Mittel sein - und lehnte deshalb ab. Ein Hauch von Käuflichkeit lag in der Luft - nicht viel anders als bei den Kommunisten, die konzessionsfreudigeren Mitmenschen auch die Möglichkeit zur Karriereerfüllung boten. Mir reichten vorerst die beiden Interviews, in denen ich ganz neutral dargelegt hatte, was sich ereignet hatte; in denen ich unmissverständlich, fern von jeder ideologisch motivierten Hetze, jenes gesagt hatte, was gesagt werden musste. Instrumentalisiert werden wollte ich nicht. Und billig hetzen wollte ich schon gar nicht. Denn Hetze, das lehrte die Geschichte, schuf immer und überall auf der Welt nur Hass, Destruktivität, Zwist und Krieg.

Auch war nicht die Person Ceauşescus mein deklarierter Gegner, gegen den andere polemisierten. Mein Gegner war das kommunistische System selbst, das doktrinär, dogmatisch und menschenverachtend war. Falschen Werten hatte ich den Kampf angesagt, der Pseudomoral und der Heuchelei, jener unausrottbaren Pest, die von vielen Bürgern mitgetragen wurde, in Ost und West. Dort sah ich die Wurzel des Übels, nicht in einer lächerlichen Führerfigur, die nicht anders funktionierte als die Marionette des Puppenspielers. Der Puppenspieler aber - das war eine Mehrzahl: Der Apparat, die Nomenklatur und die vielen Profiteure des Regimes.

Meine Interviews wurden in den kommenden Jahren mehrfach ausgestrahlt und erreichten Millionen Menschen hinter dem Eisernen Vorhang, auch die Securitate. Anscheinend wurde meine Geste verstanden. Die Securitate schickte kein Mordkommando. Als ich nach den Gesprächen im Studio wieder durch den Englischen Garten streifte und noch einmal über alles nachdachte, war ich heilfroh dem Lockruf des Goldes widerstanden zu haben. Damit hatte ich mich einer Instrumentalisierung entzogen und meine Freiheit, die mir über alles ging, gewahrt. Jetzt hatte ich immerhin ein paar hundert Mark in der Tasche, mein Honorar für die Mitwirkung: das erste, selbst verdiente Geld im Westen. Also beschloss ich, es gleich gut anzulegen, fuhr zum Münchner Hauptbahnhof und kaufte mir dafür eine Fahrkarte nach Paris.




Ein Deutscher in Paris - Impressionen und Expressionen




Als es mich erstmals mit Macht nach Frankreich hinüber zog, in das Land, wo mir Freiheit und Menschenwürde fester verankert schienen als sonst wo in Europa, in das Land, wo die intellektuelle Streitkultur noch blühte, wo Dichter, Schriftsteller, Philosophen, ja selbst Köche immer noch mehr gelten als Manager, fielen kaum noch Blätter von den Bäumen. Paris, der Nabel der Welt, lag in dichtem Bodennebel versunken, als ich an einem Abend im November im Ostbahnhof einlief.

Es war nass und kalt. Drei Tage standen mir zur Verfügung, um das Mekka der Rumänen zu erkunden und nebenbei einige Dinge zu erledigen, die wichtiger waren als das touristische Programm. Mein Hotel, Teil des mitgebuchten Städtetourenprogramms und deshalb auch ohne mein Zutun ausgesucht, lag gerade richtig, am berüchtigten Place Pigalle; also in einer Gegend, wo sich nicht nur gelangweilte, prüde Lords, sondern auch kreative Geister wie Toulouse-Lautrec wohlgefühlt hatten. Als ich das einfache Zimmer betrat, dessen übel riechender Teppichboden seit Jahrzehnten nicht mehr erneuert worden war, fiel mir eine Sanitäreinrichtung auf, die ich noch nie gesehen hatte. Ein Bidet! Sekundenlang rätselte ich über den Sinn dieser sonderbaren Einrichtung mitten im Zimmer. Schließlich dämmerte es. Flüchtig sah ich mich um, inspizierte das richtige Bad und ließ mich mehr vergnügt als müde in das breite Franzosenbett fallen. Allein. Erst in der kleinen Dachkammer in München und jetzt dieser Spelunke in Paris. Da war ich also, am Born der Lust, allein auf einer ausgeleierten Matratze - und draußen vor der Tür pulsierte das blühende Leben. Langsam versank ich in einer Mulde. Die Wirbelsäule überdehnte sich, während die Stahlfedern schmerzhaft ins Kreuz drangen und den Ischiasnerv aus dem Schlummer kitzelten. Erinnerungen an den Komfort im Knast wurden wach, an die stinkenden Strohmatratzen dort und an das ewige Kreuz mit dem Kreuz. Auch das modrige Heim hier war kein Hilton.

Ohne weiter zu grübeln, verließ ich das Touristenhotel der Zwei-Sterne-Kategorie und trat hinaus auf die Straße. Inzwischen war es dunkel geworden. Doch die hellen Lichter mit den schrillen Werbebotschaften erleuchteten den Weg taghell. Während ich mich ein paar Meter durch die urbane Landschaft bewegte, ohne es zu wissen auf das Moulin Rouge zu, wurde ich immer wieder von Türstehern angesprochen; in Wortfetzen aus Deutsch und Englisch, die um einige wenige Begriffe kreisten. Die schon sprichwörtlichen Freuden des kleinen Mannes schienen auch hier hoch im Kurs zustehen - doch weniger die kulinarischen, vielmehr die Fleischeslust des Mannes. Einige Werber zerrten an mir herum und versuchten, nachdem ihre Überredungskünste nicht fruchteten, mich mit sanfter Gewalt in einen der Freudentempel zu ziehen, um mir dort die besonderen Reize und die Annehmlichkeiten von Paris vorzuführen. Aus den Türen dröhnte Cancan-Musik … Schöne Nacht, du Liebesnacht …Was war aus Jacques Offenbach geworden? Was aus der Quadrille? Und was aus mir, dem ehemaligen Widerständler, dem moralisierenden Wolf aus der Fabel? Ein Amerikaner aus dem Banat in Paris? Zumindest die Stimmung stimmte. Kaum da - und schon mittendrin! Das Ewig Weibliche als trivialer Widerschein? Wieder widerstand ich heroisch wie ein Tamino auf dem Pfad der Prüfungen. Nachdem schon der Lockruf des Goldes verhallt war, trotzte ich auch der zweiten Versuchung. Die freie Welt hatte wohl ihre Tücken und feine Verführungen, die Trieb und Willen in einen schweren Konflikt brachten. Die Zeit des Neuen war übermächtig. Aber noch dominanter war die Abneigung, Liebesdienste zu erkaufen. Offensichtlich wurde hier alles feilgeboten, was Geld einbrachte, auch menschliche Köper wie auf einem antiken Sklavenmarkt. Nach diesem ersten kleinen Kulturschock, der mir schnell verdeutlichte, dass es zumindest in dieser Gegend von Paris nichts zu erobern, nichts zu verführen und auch nichts zu lieben gab, suchte ich ein paar Straßen weiter eine ruhigere Gegend auf, wo ich wenigstens die Gaumenfreuden ausleben und einen genüsslichen Abendimbiss einnehmen konnte. Schließlich war ich im Land der Spitzengastronomie angekommen.

Was wusste ich überhaupt von Paris? Nicht viel mehr als das, was im Französisch-Lehrbuch zu erfahren war. Nicht viel mehr, als ich vom Mond und den Planeten unseres Sonnensystems wusste. Da war die Ile de la Cité, das Herz von Paris, mit der ehrwürdigen Notre Dame, der Louvre, die Sorbonne … Einiges davon wollte ich am nächsten Tag in Angriff nehmen. Das schien möglich. Denn Paris ist eine systematische Stadt, in der man sich kaum verirren kann. Die Untergrundbahn bringt einen schnell und zuverlässig überall hin.

Gleich nach dem spartanischen Frühstück im Hotel, das eher den Appetit stimulierte als zu sättigen, machte ich mich ans Telefonieren, das in dieser Metropole nicht viel einfacher war als in Bukarest. Die meisten öffentlichen Telefonkabinen waren beschädigt und verschlangen nur Münzen ohne Gegenleistung. Irgendwann klappte es dann doch noch, und ich erreichte die Gattin des Historikers und Menschenrechtsaktivisten Berindei. Spontan lud sie mich zum Abendessen ein. Am gleichen Abend gegen sechs Uhr sollte ich mich in ihrer Wohnung einfinden und berichten. Der Zeitpunkt kam mir sehr entgegen, denn Paris wartete.

An irgendeiner Ecke mit dem Metro-Symbol stieg ich hinab in die modernen Katakomben der Großstadt und ließ mich in das mondäne Zentrum fahren. Alles, was ich dort zu sehen bekommen sollte, war mir willkommen. Neugierig kletterte ich die vielen Treppen hoch und sah mich um wie ein Erdmännchen, das aus dem Bau schaut und nicht viel anders als jeder Tourist auch, der zum ersten Mal die französische Hauptstadt erkundet. Paris! Das klang wie Elysium! Und was entdeckten meine Augen? Markante Punkte überall, alles dicht geballt aufeinander wie in einem amerikanischen Vergnügungspark! Da war der Triumphbogen, ein Koloss aus Stein, der an die Siege eines großen Kaisers erinnerte, fast so beeindruckend wie der echte in Orange, doch immer noch imposanter als die etwas forcierte Kopie in Bukarest! Der Platz war nach Charles de Gaulle benannt, nach dem General, der aus dem Widerstand des englischen Exils heraus sein Land befreit und es als großer Präsident in eine lichte Zukunft geführt hatte. Unweit dann ein anderer Koloss, ein Gigant aus Stahl, das Wahrzeichen von Paris, der Eiffel-Turm. Ja, das hier war Mekka vorzuziehen, wenigstens für ein paar Tage. Mittendrin, am Nabel der Welt, verharrte ich im stillen Staunen, beeindruckt von der gewaltigen, lange so unerreichbar fernen Kulisse, deren unscheinbarer Teil ich jetzt war. Plötzlich schien das Unerfüllbare mit den Händen greifbar. Nur die Sehnsucht war dahin, wo sie sich gerade erfüllte.

Paris war ein Universum, das noch erschlossen werden musste. Wohin zuerst? Unschlüssig, ohne genaues Ziel und Zeitvorstellung, spontanen Impressionen, Gefühlen und Gedanken überlasen, folgte ich der Avenue des Champs Ellysee in Richtung Concorde und Tuilerien. Alles war sowieso nicht zu erfassen. Ein erster Eindruck musste genügen. Dort ragte der Obelisk in die Symmetrie, den die einst Franzosen aus Ägypten mitgebracht hatten, einfach so, als Andenken an eine vieltausend Jahre alte Kultur und als unangenehme Erinnerung an ein militärisches Debakel, das noch als Erfolg verkauft worden war. Napoleon, dessen Überreste im Invalidendom warteten, war nicht nur ein geschulter Psychologe, sondern auch ein schlauer Stratege nach innen, wohl wissend dass Kriege und Eroberungszüge nicht nur auf dem Schlachtfeld gewonnen werden.

Aus allem leuchtete die Historie hervor, die große Geschichte einer wahrhaftig Großen Nation verknüpft mit dem Los der Welt. En passant fiel mir das pulsierende Leben der Stadt auf, das Treiben … Die selbst im Herbst noch gut besuchten Kaffeehäuser, die faszinierende Symmetrie der Ordnung, die Größe und Weite der einzigartigen Prachtstraße, in der kaum Normalsterbliche wohnten. Neben dem einzigen Wolkenkratzer in der sonst recht flach gehaltenen Hauptstadt hielt ich inne und suchte im Stadtplan kramend verkrampft nach dem Tour Montparnasse, der hier irgendwo sein musste und den ich nirgendwo erspähen konnte. Nirgends war ein alter Geschlechterturm zu sehn, wie man ihn aus Bologna oder aus dem toskanischen San Gimignano kennt.

„Wo finde ich den Tour Montparnasse?“ fragte ich leicht entnervt einen Passanten.

„Hier, hier gleich neben Ihnen Monsieur“, gab der Herr leicht irritiert zurück. Penibel! Peinlich! Bei soviel Wald sah ich den Mammutbaum nicht mehr, den die schiere Größe verhüllte.

Drohte nicht auch das Individuum in der Menge unterzugehen wie die Einzigartigkeit des Einzelnen in der Anonymität der amorphen Masse der Allgemeinheit? Assoziatives Denken - assoziatives Schreiben! Hier konnte ich beides einüben. Und alles zur Methode erheben, zum Stil des neuen Homme des lettres lange nach Diderot und Voltaire!



Tanzender Korybant - oder: Blick vom Turm und Gang durch die Stadt




Der Turm, nach dem ich suchte, war kein historisches Bauwerk, kein babylonischer Prestigebau rivalisierender Familien, kein Speckturm und kein Denkturm, sondern ein profanes Bürohochhaus aus Glas und Stahl mit Aussichtsplattform, der einzige Wolkenkratzer weit und breit. Der Empfehlung des Franzosen folgend, fuhr ich mit dem rasenden Fahrstuhl zum Restaurant in der fünfzigsten Etage hoch und blickte eine teure Tasse Espresso zu den Lippen führend von einsamer Höhe aus über die Weiten der Hauptstadt - bis hinaus in die tristen Vororte und nach Versailles, bemüht als leidenschaftlicher Gipfelstürmer mehr von den Himmelskonturen sehen zu wollen als andere Erkenntnisjäger. Dann ging es zum ehernen Turm zurück, der dem Zahn der Zeit und dem Rost trotzte, um von geringer Höhe aus das unmittelbare Zentrum zu erkunden.

Von oben sieht die Welt immer anders aus. Mit der Perspektive verschieben sich auch manche Wichtigkeiten und Wahrheiten bis auf wenige, die konstant bleiben. Einst hatte ich vom Misthaufen aus in die Welt geblickt; jetzt stand ich auf anderer Warte. Große Geschichte war hier in Paris abgerollt - freiheitliche und totalitäre Geschichte, gerade erst in jüngster Zeit. Ein Amerikaner, ein Befreier, konnte hier, Gershwin-Klänge im Ohr, unbeschwert die Leichtigkeit des Seins genießen, flanierend das Paris der Schönheit und der Liebe erleben. Als Deutscher hingegen - und ich kam auch als Deutscher - konnte man die jüngste Geschichte nicht ignorieren. Hier stand einst Hitler, dämonisch im Morgengrauen- ein Triumphator am Triumphbogen und die Große Nation im Staub, nach einem Blitzkrieg, der heute noch das nationale Bewusstsein erschüttert und einer viel zu schnellen Kapitulation!

Die Bilder eines tanzenden Diktators drängten sich mir auf, eines gutgelaunten Verbrechers, der einen großen Coup gelandet und der in seinem Krieg Revanche genommen hatte für Versailles, indem er die Grand Nation, den alten Erbfeind, erneut demütigte, wie schon der eiserne Bismarck 1871 vor ihm. Vor mir tanzte ein vergnügter Korybant im ekstatischen Triumph, im Rausch und in einer Verblendung, die 55 Millionen Menschenleben kostete, was der gesamten französischen Bevölkerung entsprach! Ein teuflischer Wahnsinn! Von Menschenungeist umgesetzt.

Hinter dem flüchtigen Triumph erkannte ich aber auch ein Gewissen, das aufrichtige Gewissen eines deutschen Soldaten der Wehrmacht, der sich dem Früher widersetzte. Klar sah ich den Stadtkommandanten von Paris, einen Menschen von Bildung und Kultur, der aus einem humanistischen Ethos heraus sich beharrlich weigerte, einem verbrecherischen Führerbefehl folgend dies alles, was ich jetzt sah, diese architektonische Pracht und diese von menschlicher Hand geschaffene Schönheit, im Augenblick eines sinnlosen Endkampfes in Schutt und Asche zu legen! Anstand und Niedertracht, Gut und Böse, liegen immer dicht beieinander. Das schlechte Gewissen regte sich, obwohl ich, der historisch von Anfang an Determinierte, eine weiße Weste hatte. Denn ich war als Deutscher hier, dem Volk der Dichter und Denker entstammend, nicht jenem der Richter und Henker! Was war mit Sühne? Mit Verständigung?

Enttäuscht vom Verlauf der Geschichte, die oft das Edle opfert, um das Böse zu belohnen, ging ich hinab zum Fluss, der ruhig dahin floss, und promenierte eine Weile am Seineufer entlang, die originellen Brücken im Blickfeld. Unmut und Groll verflogen erst wieder, als ich das Farbenmeer sah, das die Kunstmaler der grauer werdenden Natur entgegenstellten. Das künstlerische Subjekt kann der determinierenden Faktoren von Geschichte, Gesellschaft und Umwelt seine produktive Schaffenskraft entgegensetzen und Kunstwerke schaffen, die ein Eigenleben führen; in der Malerei, in der Musik und in der Poesie. Wie viele Dichter waren hier entlang gewandelt in stille Versenkungen vertieft? Gelegentlich hielt ich an und betrachtete einige jener Werke, die aufstrebende Künstler aus aller Welt den noch spärlich vertretenen Touristen zum Kauf anboten. Es folgte, die Schubert-Vertonung der Heineschen Grenadiere im Sinn, der fast schon obligatorische Gang zum Invalidendom, wo die Gebeine eines großen Kaisers ruhten.

Auch der große Kaiser hatte viel Blut vergossen; doch noch nach Clausewitzschem Muster in konventionellen Kriegen, Mann gegen Mann mit aufgepflanztem Bajonett und zumeist dem hehren Geist verpflichtet, geleitet von fortschrittlichen Ideen zum Wohl der Menschheit.

Viel Neues hatte er geschaffen und Besseres, nicht nur für Frankreich. Geeint hatte er und versöhnt - wie der große Tonsetzer vom Rhein, der ihn verehrte. Auch im Deutschen Reich. Bayern, heute ein Freistaat, und der liberale Südweststaat Baden-Württemberg verdanken ihm ihre gegenwärtige Struktur. Als Imperialist und gesunder Patriot zugleich hatte er Frankreich groß gemacht und wichtig. Und er hatte der Welt den Code Napoleongeschenkt, der ihm wertvoller war und wichtiger als alle seine siegreichen Schlachten.

Die Geschichte ließ mich nicht los. Zwar lief ich äußerlich wie ein Tourist durch die Stadt; innerlich jedoch dachte ich funktional und nahm vieles mit dem Kopf eines osteuropäischen Dissidenten deutscher Herkunft wahr, dessen Denken sich an der jüngsten Geschichte und an gesellschaftlichen Ereignissen neuester Zeit ausgerichtete, also aus einer sehr spezifischen Perspektive.

Große Geschichte pulsierte hier überall. Wo ich jetzt stand, fiel einst die Bastille. Von hier aus brachen Robespierre, Danton und St. Juste und unzählige andere Revolutionäre zu neuen Ufern auf, einem Rousseau, ja selbst einem Voltaire folgend, um die Menschheit zu befreien und Menschenrechte für alle zu implementieren. Hier sprudelte sie kräftiger und frischer als anderswo, die Quelle der Freiheit! Und wenn ich immer schon zurück wollte, als Fisch im Wasser gegen den Strom schwimmend, dann wollte ich nicht nur zu den physischen Wurzeln zurück, sondern zurück zum wahren Ursprung, zur geistigen Quelle, zur Liberté!

Doch hatte ich den jungen Häftlingen in der Zelle nicht einst etwas versprochen? Jetzt schritt ich in der Tat die Champs Ellysee entlang … Durch die Gärten von Paris. Und sie hockten immer noch in den engen Gefängniszellen einer Diktatur! Wenig stimulierende Reminiszenzen lenkten mich wieder ab vom Schönen Schein und riefen mich zurück in die Pflicht. Eigentlich hatte ich hier eine Aufgabe zu erfüllen.

Die verbliebene Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich im Herzland von Paris, im Quartier Latin. Die Sorbonne war leergefegt wie das Pantheon und der Jardin du Luxembourg, in dessen Alleen die Melancholie des Herbstes bereits Einzug gehalten hatte. Dies war die falsche Jahreszeit, um Paris zu erleben. Es nieselte wieder. Im weiten Park war ich fast allein. Und in mir war die Unruhe des gehetzten Japaners auf Europareise. Das meiste, was ich noch gerne gesehen hätte, schien zunächst unerreichbar. Ein halber Tag war verstrichen - und ich hatte bereits alles erlebt - und zugleich nichts. Doch ein Eindruck musste vorerst genügen. Während ich durch den Lustgarten schritt, wo die anständigen Bürger von Paris bei schönerem Wetter ihren Sonntagsspaziergang absolvieren, die Reste der sterbenden Natur beobachtend, kamen mir jene Ziele in den Sinn, die ich gerne angegangen wäre, wenn ich länger hätte verweilen dürfen. Irgendwo auf dem Friedhof Montmartre lag Heine begraben, einer meiner Lieblingsdichter; eine Kämpfernatur und ein unermüdlicher Verfechter der Freiheit und hoher Ideale. Ein letzter Gruß auf für ihn? Eine Sentimentalität am Rande? Und Oscar Wilde ruhte in der Erde von Pére Lachaise neben vielen Berühmtheiten, neben Bizet und Berlioz, neben Chopin und Edith Piaf.

Unweit von hier waren Plastiken von Rodin ausgestellt, der hier modellierte, während sein Sekretär Rilke im Jardin des Plantes amPanther feilte. Die Franzosen hatten dort irgendwo auch eine Kopie der Freiheitsstatue aufgestellt, jenes Symbols, das ihre Vorväter den im Freiheitskampf liegenden Amerikanern geschenkt hatten. Symbole und markante Zeichen überall - von Schutt und Asche bedroht auch heute. Was wurde aus dem Vermächtnis der Menschheit, wenn es doch noch krachte, wenn der Atomschlag kam, einfach so - wie ein Blitz aus heiterem Himmel, nur weil Wildgänse wie Flugzeuge übern Nordpol flogen?

Tausend Kunstwerke aller Epochen der Malerei warteten hinter den Mauern des Louvre. Und im Jeu de Paume warteten die Impressionisten und Expressionisten, Renoir und Vincent van Gogh, jeder Maler ein Universum! Wohin sollte ich mich noch wenden in der kurzen Zeit? Paris war eine Welt für sich. Ein Leben reicht nicht aus, um alles zu erkunden. Gershwin war weit. Und auch Kultur und Kunstgenuss mussten warten.



 


In Gedanken … an Beckett, an das Rumänische Dreigestirn … und an ein Heidegger-Wort





Die Pflicht trieb mich wieder an und der Gedanke, von hier aus noch einiges bewegen zu können. Zunächst galt es, mit jenen Charakteren Kontakt aufnehmen, die sich um uns gekümmert hatten, als wir, fast vergessen, exponiert und ausgeliefert in der engen Zelle saßen; die, unbeeindruckt durch die rüde Securitate, sich in Temeschburg nach uns erkundigt hatten; und die all das, was sie im Gespräch mit unseren Freunden vor Ort erfuhren, in unzähligen Artikeln in der französischen Tagespresse veröffentlichten.

Spätnachmittags gegen sechs Uhr stieg ich wieder hinab in die modernen Katakomben von Paris, boxte mich durch die Menschenmengen und bestieg eine Metro zum Place D’Italie, in dessen Nähe der Historiker wohnte. Die Untergrundbahn ratterte los. Ein merkwürdiger Gestank stieg mir in die Nase. Es roch nach verbranntem Gummi. In den Ohren zischten die Bremsen. An eine Stange geklammert, inmitten von Menschen aus allen Ländern der Erde, bunt durcheinandergemischt wie im Sitzungssaal der Vereinten Nationen, studierte ich mein Umfeld. Es erinnerte daran, dass Frankreich einst eine bedeutende Kolonialmacht war. Das Erbe kolonialer Ambitionen stand um mich herum: Menschen aller Rassen und Hauptfarbe mitten im Existenzkampf auf der Suche nach einem Dach und einem Baguette; Maghrebinier aus Marokko, aus Algerien und Tunesien, Menschen aus dem Herzen Afrikas, Vietnamesen und bestimmt auch Rumänen, die weder durch ihre Hautfarbe, noch durch ihr Aussehen im zivilisierten Westen auffielen. Securitate-Schergen sollen in der Fremdenlegion untergekommen sein, sagte man. Wer erkannte schon Legionäre, wenn sie kein weißes Käppi, kein Nackentuch und keine sandbraune Uniform trugen?!

Die Menschheit wuchs zusammen, in einem Staat, in einer Nation. Doch meine Gedanken entschwirrten, umkreisten vertraute Namen und richteten sich auf Personen, die ich bald kennen lernen sollte. Irgendwo weit über mir in einem Appartement verschanzte sich Ionesco hinter dem Schreibtisch, ein ängstlicher alter Mann, der humoreske Literatur fabrizierte. Vielleicht brütete er, inzwischen zur Melancholie neigend, gerade über seinem Alterswerk, dem Roman Le solitaire, das Werk eines Vereinsamten, das mir erst später in die Hände fallen sollte. Auch die Tagebücher aus dieser Zeit bezeugen sein einsames Ringen um Geist und Kunst als Kampf des oft Unverstanden - tragisch auch dies.

Und der andere Protagonist des Absurden, Samuel Beckett, der Ire, der vergessen hatte, seinen Nobelpreis abzuholen, lebte auch noch, ebenfalls irgendwo hier in Paris, nur noch zurückgezogener als der Rumäne!?

Gab es nur noch Misanthropen? So erweckte es den Anschein! Denn in einer anderen Spelunke in der Rue de l’ Odeon meditierte Cioran über die missratene Schöpfung, über die Gipfel der Verzweiflung und über den Nachteil, geboren zu sein.Existentieller Ekel und Weltskepsis an einem Ort der Hoffnung? Der Nihilismus machte sich breit, auch nach Nietzsche und Heidegger und zog manchen Denker in seinen Bann - auch Cioran! Einiges von ihm hatte ich angelesen. Sein an Montaigne geschulter aphoristischer Stil lag mir. Und ich las ihn in der Verlängerung Schopenhauers und eben Nietzsches, in Auseinandersetzung mit den beiden und mit dem europäischen und fernöstlichen Nihilismus, fasziniert von der Aussage des Augenblicks und der unsystematischen Haltung, die ihn mit Nietzsche verbindet.

Inzwischen pilgerten einige Freunde des Geistes zu ihm hoch, auch aus Deutschland, wie einst, lange vor dem letzten Krieg, andere in die Bukarester Mansarde des jungen Eliade gepilgert waren. Der Dichter und philosophische Schriftsteller Dieter Schlesak hat einiges aus seinen Dialogen mit Cioran festgehalten und aufgezeichnet, darunter vieles, was mich selbst bewegte.

Hätte nun auch ich die Treppen zu ihm hinaufsteigen sollen? Aus Eitelkeit vielleicht, um mich an dem bekannten Namen hinauf zu ranken wie der Efeu an dem Wirt, um mich selbst aufzuwerten über fremdes Licht und fremden Schein als angehender Philosoph aus Rumänien? Worüber hätten wir überhaupt geredet? Der uneinholbare Meister der Skepsis im ungleichen Dialog mit einem ungelehrigen Schüler, der nicht an allem zu zweifeln bereit war, weil er nicht an allem zweifeln durfte?

Und was war mit Mircea Eliade? Weilte er noch in Paris oder hatte es ihn inzwischen ganz nach Chicago verschlagen, wo eine Professur auf ihn wartete? Worüber forschte er im Augenblick? Über Archetypisches? Über Mythen? Symbole? Schamanen? Oder Scharlatane? Über den Fisch im Wasser oder die Alchemie der Rosenkreuzer, über mein und unser aller Kreuz und über meine Rose? Über Feuer und Asche?

Oder gar über das Ei des Basilisken, das noch nie gelegt worden war. Oder doch? War das Böse nicht doch in der Welt angekommen? Unter der Tarnkappe wie Siegfried, der Nibelungenheld aus Xanten? Verkappt als Legion der Guten?

Eliade beschäftigte mich vielfach wie auch Cioran. Beide waren sie Originale und philosophieorientierte Schriftsteller, wie ich selbst einer sein wollte. Für linke Kritiker waren die einstigen Mansardenfreunde nur reaktionäre Denker wie ihr Vorbild Joseph de Maistre, geistig getarnte, verkappte Legionäre, alte Anhänger faschistischer Denkweisen, die keine Kraft gefunden hatten, um sich von den Irrungen und Wirrungen ihrer Jugend zu distanzieren.

In der Rückschau Eliades erwartete auch ich einige Antworten auf unausgeräumte Vorwürfe - und eine Art geistig-moralische Reinwaschung. Schließlich war Eliade als das mit Abstand bekannteste Gesicht des rumänischen Exils im Westen für viele geistesgeschichtlich interessierte Menschen eine Ikone und ein Vorbild. EliadesErinnerungen waren gerade bei Gallimard erschienen, Rückblenden aus der Zeit 1907 - 1937 unter dem Titel Les promesses de l’exinoxe. Die deutsche Übersetzung folgte bald darauf. Bereits hatte ich darin geblättert, den Werdegang verfolgt, seinen Weg nach Indien und zurück, die Lehr- und Wanderjahre und dabei viel Neues und viel Verwandtes entdeckt: Viel über die geistige Welt der Vorkriegszeit im monarchischen Rumänien, über die Anfänge der Anthroposophie in jenem Raum, über ausgeprägte Rezeption deutscher Literatur und Geistesgeschichte, vor allem aber über sehr verwandte Entwicklungsschritte im pubertären Alter auf dem Weg vom Mythos zum Logos. Der stets wissensdurstige Eliade stand mir als faustische Natur näher als Cioran, der als überkonsequenter Skeptiker an allem zweifelte, der selbst den Sinn der Schöpfung in Frage stellte. Während Cioran, der sich noch deutlicher als Nietzsche jeder Systematisierung entzog, nur einen momentanen Geistesblitz anbot, der mit dem nächsten Gedanken schon verrauschte, konnte ich von Eliade noch viel lernen. Cioran wirkte oft destruktiv, ja nihilistisch während Eliade stets zum Weiterdenken einlud. Sein faustischer Impetus war mir wesensgemäß vertraut - und ich war damals auch geistig bereit dazu, einzelnen Ideen zu folgen. Doch Antworten auf den Faschismusvorwurf fand ich keine in den Erinnerungen. Eliade vermied es beharrlich, sich zu rechtfertigen, wie auch Heidegger einer direkten Rechtfertigung seiner Haltung als Rektor nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten stets aus dem Weg gegangen war.

Wer groß denkt, kann groß irren!

Und wer unter die Götter aufsteigt, erhebt sich über die Moral. Aber die Wahrheit kann uns auch frei machen! Eliade ignorierte, scheinbar über den Dingen stehend, die berechtigten Aufklärungserwartungen und zog es vor, sich nicht zu Vorwürfen zu äußern. Weshalb? Hatte er vielleicht doch ein schlechtes Gewissen? Befürchtete er einen braunen Fleck auf der untadeligen Weste des Wissenschaftlers?

Doch welchen Wert haben die schönsten Elogen der Freiheit, wenn Individuen wie Heidegger und Eliade totalitäre Systeme duldend befürworteten, indem sie nicht vehement widersprechen? Den Vorwurf, den ich den Dichtern vor meiner Haustür machte, die keine Dissidenten sein wollten und es vorzogen, mit der Macht zu paktieren, duldsam und untätig, in innerer Emigration und Passion, den müssen sich auch die Philosophen anhören. Für sie gilt er noch mehr, weil sie anders der Wahrheit verpflichtet sind als die Dichter, die nach Nietzsche, seit Platon, der auch ein Dichter war, bekanntlich lügen! Das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit, lehrt Heidegger - und der Rest, sagt Hamlet, ist Schweigen!

Cioran stellte sich der Diskussion und redete, Eliade hingegen schwieg beharrlich. Und so wie schon manche Philosophen vor, neben und nach ihm, wohl nach dem alten Satz der Rumänen: Dacă tăceai, filosof rămăneai! Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben. Eben weil er weiterhin als Denker gelten wollte.

Nur Ionesco, weitaus weniger in nationalistische Zeitströmungen verstrickt, handelte konkret, während ich im stinkenden Lärm der Metro philosophierte, diesmal mit einer schwarzen Wand vor den Augen, die ich sah, wenn ich an den Insassen vorbei durch das Fenster blickte.



Am Born der Freiheit, bei der Liga für Menschenrechte





Am Place d’Italie quetschte ich mich durch die Metrotür, rannte die Treppen hoch, hinauf ans Licht, an die Luft, sah mich um, fand die Adresse, den Eingang ohne Klingel und ohne Sicherheitscodierung, stieg weiter noch ein paar abgetretene Holztreppen hoch bis in das zweite oder dritte Stockwerk des Altbaus, klapperte die Türschilder der Wohnungen ab und pochte schließlich an eine arg verschlissene Holztür. Nach einigen Augenblicken des Abwartens wurde mir geöffnet. Vor mir stand eine Dame nicht viel älter als ich, eine angenehme Erscheinung. Sie reichte mir die Hand und forderte mich mit charmantem Lächeln auf, ihr zu folgen. Etwas schüchtern kam ihrer Bitte nach und betrat die Etagenwohnung, wo mich der Historiker ebenso freundlich begrüßte. Zurückhaltend sah ich mich um. Es war ein zweckdienliches Ambiente, in dem gelebt und zugleich gearbeitet wurde. Und es war die Anlaufstelle, ein Ort der Zusammenkünfte und der Begegnung. Zwei, drei Freunde waren schon da, weitere sollten gleich eintreffen. Gleich wurde ich bekannt gemacht. Dialoge entwickelten sich. Wir redeten … Hier fand ich Menschen, deren Alltag tatsächlich noch von Ideen und Idealen ausgefüllt wurde; und dies im materialistischen Westen. Also gab es sie doch noch jene selten gewordene Spezies, Ausnahmeexistenzen, die nicht nur dem Geld hinterher rannten! In dieser ganz normalen Mietwohnung trafen sich die Mitglieder der französischen Liga für Menschenrechte in Rumänien zu regelmäßigen Konsultationen. Der Spiritus rector der losen Vereinigung war Hausherr Mihnea Berindei, ein ausgewiesener Türkeiexperte, dessen Vater Dan Berindei sich bereits in der etablierten Historikerzunft als nationaler Kommunist einen Namen gemacht hatte. Er war ein unbestrittener Mann des Systems in Bukarest, einer der die offizielle Geschichtsschreibung nicht nur mittrug, sondern diese sogar mit viel Geschick förderte und zementierte, indem er Phänomene tendenziös interpretierte und manches sogar nach Art der Kommunisten willkürlich umschrieb. Ein paar deutsche Landsleute aus Siebenbürgen und dem Banat, servile Opportunisten, die gerne die Welle ritten und bewusst mit dem Strom schwammen, scheuten sich nicht, es ihm gleichzutun. Doch was wusste ich bis dahin vom Gastgeber, der sich vor einigen Jahren nach einer Türkei-Forschungsreise in den Westen abgesetzt hatte und nunmehr in Paris lebte? Nicht viel! Gerüchte? Legenden bestenfalls? Angeblich entstammte er einer gutbürgerlichen Familie aus Bukarest, die schlimme Erfahrungen mit dem Stalinismus machen musste. Die Mutter soll als Angehörige einer Bevölkerungsschicht mit ungesunder sozialer Herkunft, wie es im Stalinismus hieß, viele Jahre an dem Schreckensort Jilava unter extremen Haftbedingungen verbracht haben. Darüber schrieb sie später ein Buch. Mihnea Berindei, angeblich im Gefängnis geboren, hatte den Forschungsaufenthalt genutzt, um dem Kommunismus und der offiziellen Historiographie den Rücken zu kehren. Doch wer hatte ihm die Ausreise in die kapitalistische Türkei ermöglicht? Das fragen zum Teil verleumderische Zungen auch heute noch vehement, die in ihm, dem Wissenschafter ohne Curriculum und vollständige Biographie, einen genial platzierten Perspektivagenten der Securitate erkennen wollen.

Seit den Siebzigern wirkte der Historiker in Paris und beteiligte sich in der Stadt an der Seine an dem Wiederaufbau der Liga für die Verteidigung der Menschenrechte in Rumänien. Von Frankreich aus soll er sich dann auch öffentlich vom linientreuen Vater distanziert haben, indem er ihm eine bewusste Kollaboration mit dem kommunistischen System vorwarf. Scheinbar kam es zum Bruch zwischen beiden, was die Glaubwürdigkeit von Mihnea Berindei unter Beweis stellte. An seiner Integrität zu zweifeln, hatte ich jedenfalls keinen Grund. Also vertraute ich ihm damals uneingeschränkt, vor allem beeindruckt von seiner Soldarisierungsgeste während unserer Haft, als er vier junge Franzosen aus Lyon auf Erkundungstour nach Temeschburg entsandte.

Es war sicher kein Zufall, dass sich auch dieses frühe Opfer des Stalinismus für die Einhaltung der Menschenrechte in Osteuropa engagierte, wie sie nach der KSZE-Konferenz in Helsinki kodifiziert worden war. Zusammen mit Maria Brătianu, Anne Planche und anderen ehrenamtlich engagierten Mitarbeiten, die ihre Kraft und Freizeit für Verfolgte einsetzten wie höhere Wesen, die geschickt werden, um irdische Leiden zu lindern, koordinierte Berindei den Fluss der Informationen vor allem aus Rumänien und versorgte damit die französischen Presseagenturen. Das waren konkrete, überprüfbare Fakten.

Die Zeitschrift L’Alternative, die er zusammen mit dem liberalen Editor Francois Maspero herausgab, bot ihm eine weitere Plattform, seine oppositionelle Arbeit fortzusetzen. In einer der gerade vorbereiteten Sondernummern Roumanie. Crise et repression wurden die jüngsten Menschenrechtverletzungen für die westliche Öffentlichkeit erstmals umfassend dokumentiert. Als ich nunmehr für kurze Zeit in den Kreis trat, fühlte ich mich interessiert aufgenommen, doch nicht als Person, sondern als oppositioneller Akteur, als Widerständler, der eine Bewegung mit entfacht und koordiniert hatte, als frisch exilierter Repräsentant der antikommunistischen Opposition in Rumänien.




Brot und Wein





Während wir uns unterhielten, füllte sich nach und nach der Raum mit weiteren Gästen, die mir alle vorgestellt wurden und die bald darauf an einem rustikalen Holztisch Platz nahmen. Ganz unterschiedliche Charaktere waren anwesend; ein idealistisches Häufchen, vereint im Eintreten für die Respektierung der Menschenrechte in ganz Europa. Es wurde nur französisch gesprochen. Die Atmosphäre behagte mir. Und langsam entstand wieder der Eindruck, in einem Jakobinerklub gelandet zu sein, doch in einem wahrhaftigeren als seinerzeit in Bukarest und Temeschburg. Die allseits erstrebte Freiheitwar hier kein leerer Wahn, sondern schien, zumindest in diesen Hallen, mit den Händen greifbar - wie am Vorabend der der Französischen Revolution.

Nur ein paar Straßen weiter, im Musee du Droit de L’homme, auf das ich zufällig gestoßen war, hatte man einst jene Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet, auf deren Prinzipien auch wir uns berufen hatten. Auch deshalb fühlte ich mich ganz nahe an der Quelle moderner Freiheit, am Ursprung des liberalen Geistes, umgeben von Menschen, die endlich etwas mit der großen Idee anzufangen wussten, für die auch ich jahrelang optiert hatte.

So frei hier alles war, so asketisch und so bescheiden war das Umfeld. Als zum Dinner aufgetischt wurde, registrierte ich nichts, was an die französische Gourmet-Küche erinnert hätte. Da war nichts für Bon vivants, eher mehr etwas für Diätkranke und Patienten mit Magenleiden oder für geistige Menschen, die überwiegend mit Lichtenergie auskamen. Es stand fest: Diesmal würde ich wohl hungrig vom Tisch gehen, wie schon so oft in letzter Zeit. Oder ich hielt mich an das aufgeschnittene Baguette, das für alle zu reichen schien. Da war noch eine Nuance Butter für Freunde der Opulenz, einige grünmatte Salatblätter in Essig und Öl und als Krönung für jeden je eine dünne Scheibe Lyoner, eine Wurst, die man in Temeschburg Pariser nennt. Die meisten von uns knabberten tatsächlich nur auf einem Bissen Weißbrot herum und nippten gelegentlich an dem staubtrockenen Rotwein von den Hängen der Dentelles in der Provence, den jemand mitgebracht hatte. Gicondas, Vacqueyras, Rasteau, Seguret und Beaumes de Venice - das klang gut in meinen Ohren und erinnerte an die Ursprünglichkeit einer blutgetränkten Landschaft, die auch einmal frei war. Der Wein weckte Erinnerungen, Urerinnerungen an dionysisches Sein, an Eigentlichkeit, an die Unmittelbarkeit des Gefühls, an Musik und Tanz.

Brot und Wein, archaisch, erd- und geistbezogen und nicht viel anders als in der langen Reihe von Jesus bis Hölderlin und Trakl vorzelebriert; abgelenkt nur von den aktuellen Berichten, die einzelne Teilnehmer mitgebracht hatten.

Nach einer gewissen Zeit der Akklimatisation, die mir wohlwollend eingeräumt worden war, um mein Heimischwerden in dem humanistischen Zirkel zu fördern, wurde ich aufgefordert, zurückzublenden und alles zu berichten, was ich über die Entstehung der freien Gewerkschaft SLOMR und über die späteren Abläufe bis zu meiner Haftentlassung wusste.

Also legte ich los … Es wurde eine lange Geschichte!

Gelegentlich kamen Querfragen. Während des Berichterstattens blickte ich weitgehend in empfängliche Gesichter, die mit natürlicher Begeisterung folgten. Sie freuten sich, wenn Intuitionen bestätigt wurden, wenn Vermutungen zutrafen. Während ich aus der Perspektive des Zeitzeugen sprach, dem es um authentische Dokumentation ging, der als unmittelbar Betroffener berichtete, gewann ich den Eindruck, dass sich die Zuhörer selbst als Teil des Geschehens empfanden, an dem sie seit Jahren betreuend mitwirkten.

Nachdem der nackte Augenzeugenbericht abgeschlossen war, der sich, fern von ideologischer Festlegung nur auf Fakten konzentrierte, bedankte ich mich noch einmal ausdrücklich für die seinerzeit erwiesene Solidaritätsaktion, die keine Selbstverständlichkeit war. Französische Staatsbürger hatten sich in Temeschburg selbst in Gefahr gebracht und eine Konfrontation mit der Securitate riskiert, um uns moralischen Auftrieb zu geben. Das war nicht alltäglich und für uns überlebenswichtig.

Zwei Pärchen waren damals nach Temeschburg gekommen - aus Lyon, wie sie sagten. Sie kamen in einer Ente, suchten nach uns und fanden schließlich Stefan Wolf, der ihnen die Ereignisse ausmalte. Als ich Berindei im Vorfeld von der Gruppe erzählte, bestätigte er mir knapp: „Ja, wir haben sie geschickt … “

Unabhängig von unserem Treffen hatte Mihnea Berindei einige publizistische Materialien vorbereitet, die neueste oppositionelle Bestrebungen in Osteuropa dokumentierten. Die Sondernummer der Zeitschrift L’Alternativewurde herumgereicht, in welcher die freieGewerkschaftsbewegung in ganz Osteuropa in unterschiedlichen Beiträgen aufgearbeitet worden war - bis hin zu den Anfängen von Solidarnosc, die sich mehr und mehr formierte und mit der moralischen Hilfe des Papstes, der während seines Polen-Besuches die Respektierung der Menschenrechte in Polen und im gesamten Ostblock eingefordert hatte, zur politischen Kraft aufstieg. Dann zog er aus einem Wandregal einen dicken Ordner hervor, in welchem in dutzenden Artikeln das dokumentiert vorlag, was in der französischen, belgischen und schweizerischen Presse über unsere Bewegung publiziert worden war. Erstaunt schlug ich die Materialsammlung auf und blätterte sie hastig durch, überrascht von der Fülle, die sich vor mir ausbreitete.

Seit der Entstehung der Freien Gewerkschaft im März 1979 waren vor allem in Frankreich zahlreiche Berichte rund um das Thema Menschenrechte und die freie Gewerkschaftsgründung SLOMR in Rumänien erschienen, quer durch die Presselandschaft; überwiegend in Le Monde und Libération, aber auch in France Soir, in Rouge, in La libre Belgiqueund selbst im konservativen Le Figaro, der merkwürdigerweise einige Jahre sogar die offizielle Politik Ceauşescus guthieß. Auffällig war, dass gerade die linken Medien, zu welchen der Kreis gute Kontakte unterhielt, sehr engagiert berichteten. Der linke Gewerkschaftsverband CGT unterstützte die Aktivitäten ebenso, indem in eigenen Aktionen auf die Entwicklungen in Osteuropa verwiesen wurde. Erstaunt dachte ich jetzt von Paris aus an Deutschland und an sein Engagement für die Sache der Menschenrechte in Osteuropa.

Was war in Deutschland über SLOMR veröffentlicht worden? Nichts! Ganz und gar nichts! Was hatte der DGB an Solidarität beigesteuert? Nichts! Überhaupt nichts!

Die deutschen Gewerkschaftler blickten einfach weg. Vielleicht hatten sie besseres zu tun, als politisches Aufwieglertum in Osteuropa anzustacheln und zu ermutigen. Ernst Breit und seine Genossen aus der linken SPD sahen keinen Handlungsbedarf. Aus Ignoranz, aus mangelndem Verantwortungsbewusstsein oder einfach nur deshalb, weil sie, mit einer Innenschau beschäftigt, abgelenkt oder nur schlecht informiert waren.

Frankreich und Deutschland - zwei Welten! DieFreiheit und die Leichtigkeit des Seins - und der Geist der Schwere, die politische Trägheit und Kurzsichtigkeit? Der Mut zum Experiment - und das Biedere als Weltprinzip!

Ungeachtet meiner Herkunft aus Rumänien und als Repräsentant einer rumänischen Freiheitsbewegung, saß ich immerhin als einziger Deutscheram Tisch. Das war den meisten Anwesenden bewusst - und ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei … Wenn ich an Deutschlanddachte in dieser Frage und Haltung, war auch ich um den Schlaf gebracht! - Und ein ewig wacher Geist rumorte unruhig auf dem Totenacker von Montmartre!

Das Denken der Staatsräson überwog immer noch das freiheitliche Engagement, leider! Es folgten lange Diskussionen bis tief in die Nacht hinein. Meinen Teil dazu trug ich bei, indem ich noch einiges von dem berichtete, was wir schon im Vorfeld der Gewerkschaftsgründung im realsozialistischen Alltagsleben an massiven Menschenrechtsverletzungen erlebt hatten, teilweise in holprigem, ungeübtem Schulfranzösisch ohne subjonctiv, so wie ich es eben konnte. Doch ich wurde verstanden.

Als ich von dem indirekten Erlebnis erzählte, wie zwei junge Damen, die sich mit Franzosen zum abendlichen Rendezvous verabredet hatten, im Rahmen einer Razzia aufgegriffen und von einem stämmigen Bullen wie Kartoffelsäcke in einen Kastenwagen geworfen wurden, um anschließend als Ausländernutten beschimpft und auf der Polizeistation wüst durchgeprügelt zu werden, blieb den zarten Idealisten förmlich die Spucke weg. C`est vrai? Impossible? Inacceptable - waren ihre entrüsteten Kommentare. Ja, das war das Leben in der Diktatur! Und dabei waren wir Dissidenten noch Privilegierte, die oft nur mit Samthandschuhen angefasst wurden, zumindest in Temeschburg. Normale Bürger hingegen wurden von den niederen Schergen der Exekutive noch schlechter behandelt als das herumvagabundierende Getier auf der Straße oder das Vieh im Stall.



CIEL - Ein Europa der Freiheiten und ein Academicien als Mentor




Dann kamen wir noch auf Ionesco zu sprechen, der als geistiger Übervater der Liga angesehen wurde. Eugène Ionesco hatte den von mir erhaltenen Brief an diese Gruppe weitergeleitet. Auch daran erinnerte sich Berindei. Das prominente Akademiemitglied kam gelegentlich vorbei. Ionesco half mit, wo er helfen konnte; vor allem dann, wenn es galt, seinen Einfluss für die Sache anderer geltend zu machen - wenn es darauf ankam, für Verfolgte eines totalitären Terrorregimes einzutreten, die in psychiatrischen Kliniken mit Giftspritzen gequält und öffentlich kriminalisiert worden waren.

Ionesco, der kleine ängstliche Intellektuelle, der sich scheute über die Straßen zu gehen aus Angst vor tausend unbekannten Ungeheuern, die ihn aus dem Nichts anfallen konnten, hatte sehr viel Einfluss im politischen Leben Frankreichs. Er war nicht nur Academicien sondern auch der Präsident des 1978 gegründeten C.I.E.L. - eines Komitees der Intellektuellen für ein Europa der Freiheiten - dem neben bekannten Namen wie Raymond Aron weit über hundert Persönlichkeiten der Pariser Intelligenz angehörten.

Ionesco griff auf der Seite der Konservativen zugunsten von Valery Giscard D’Estaing und Chirac in den Wahlkampf ein, gegen die rote Rose der Sozialisten, eine Ablösung Mitterands im Auge, und, unterstützt von Goma, vor allem gegen Kommunistenführer Georges Marchais, dem, seit Solschenizyns aufklärenden Schriften langsam die Genossen davonliefen. Damals fand ich es einfach großartig, dass der greise Dramatiker noch so aktiv war und seine Überzeugungen für eine gute Sache einsetzte. Dank der scharf markierten Konturen bekam der weltanschauliche Dualismus ein klares Gesicht. Graduelle Unterschiede wurden deutlich. Wenn Marchais als makabres Schreckgespenst galt, war der immer aberwitziger agierende Ceauşescu der Draco selbst. Abschließend vereinbarten wir, die von mir neu dargestellten Fakten zu systematisieren und an die Öffentlichkeit zu bringen. Viel davon ist in die Materialsammlung eingeflossen, die über die CMT der ILO der UNO vorgelegt wurden.

Als ich spätnachts ging, um in der letzten Metro den sündhaften Platz anzusteuern, wo die letzten blaublütigen Engländer bei blauen Engelsgestalten ihr irdisches Vergnügen suchten und mir wieder einiges von den grausam perfiden Erinnerungen mit den Sadisten hoch kam, fragte ich mich, wovon ich in den verbleibenden Stunden der Nacht wohl träumen würde: Von den sinnlichen Damen im Schaufenster oder von den Horrorszenarien einer Diktatur?

Als ich dann wieder auf dem ausgeleierten lit francaislag und auf die verstaubte Deckenlampe starrte, die wohl seit Ewigkeiten nicht mehr gereinigt worden war, kamen mir die gerade erlebten Altruisten wieder in den Sinn - alle waren Humanisten aus einem Gefühl heraus und aus Überzeugung. Nie wäre ich damals darauf gekommen, Mihnea Berindei könne ein Mann der Securitate sein, ein gut getarnter Agent an der Quelle, der fern von jeder Moral, einer Diktatur dient!

Dieser Vorwurf ereilte ihn im Jahr 2006, als er zu einem prominenten Mitglied der Präsidentenkommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien aufrückte. Bei den Überprüfungen durch die CNSAS, der dortigen Gauck-Behörde, die nach Auffassung einiger Kritiker mehr verdeckt als sie offen legt, sei unter seinem Namen eine Akte aufgetaucht, die ihn scheinbar als Mann der Securitate auswies. Die höchst fragwürdige These wurde von rechten Kreisen, die sich in Wirklichkeit aus alten Securitate-Mitgliedern rekrutierten, in Umlauf gebracht - als gezielte Verleumdungskampagne wie sie auch gegen Vladimir Tismăneanu und andere exponierte Mitglieder der Kommission betrieben wurde. Ein Machwerk? Eine Fälschung?

Ist das die neueste Finte der CNSAS, einer nicht unbedingt glaubwürdigen Einrichtung, die offensichtlich im Dienst der alten Securitate agiert und bewusst Sachen verdreht und verschleiert? Sehr viel spricht dafür. Mihnea Berindei hat prompt und konsequent jede Mitwirkung bei der Securitate zurückgewiesen - doch ein Schatten blieb zurück, der auch Demokraten verunsichern kann. Die Schlammschlacht einer wiederbelebten Securitate als SRI geht weiter - mit demokratischen und pseudodemokratischen Spielregeln. In der Auseinandersetzung eines Individuums mit einem obskuren Verschwörungsapparat hat selbst der integerste Charakter kaum eine Chance. Was kann man überhaupt noch glauben in einer Welt, wo obskure Interessen Wahrheiten vorgeben? Caraion war durch ähnliche Dokumente belastet worden. Die Ungewissheit hält auch heute noch an.



Écrasez l’infâme Ein Rendezvous mit dem zwangsexilierten Dissidenten Paul Goma




Jeder Emigrant ist ein Odysseus auf dem Weg nach Ithaka. Jede wirkliche Existenz zieht eine „Odyssee“ nach. Mircea Eliade, Im Mittelpunkt

Am nächsten Tag traf ich Paul Goma, den wichtigsten der rumänischen Dissidenten, zweifellos aber den bekanntesten. Er wirkte primär durch seine Haltung und als Träger einer Idee; erst in zweiter Linie wurde er als politischer Schriftsteller und Romancier registriert. Das machte ihm Kummer. Doch er lebte damit. Wir hatten uns in einem Straßencafé verabredet. Schon saß ich da, als er kam. Ein mittelgroßer, stämmiger Mann mit weißem Rundbart, einer wuchtigen Brille mit starken Gläsern und dunklem Rahmen, auf dem Haupt eine graue Lotsenmütze. Er steckte in einer hellbraunen Kaschmirjacke mit Kapuze, am Hals ein karierter Wollschal. Es war kalt und windig. Wir begrüßten uns und bestellten Tee. Er studierte mich - und ich ihn. Wir kannten uns schon lange, waren uns aber noch nie begegnet.

„Ich habe dir eines meiner Bücher mitgebracht - und dir eine Widmung hineingeschrieben, als kleine Wertschätzung deines Engagements!“ sagte er ruhig. Interessiert nahm ich es entgegen und bedankte mich.

Gherla?“ konstatierte ich anerkennend.

„Ja, Gherla, ein unseliger Ort in Siebenbürgen, ein Unort wie Aiud und Jilava“ sagte Goma und fügte hinzu: „Dieses Buch ist mir noch das liebste von allen, die ich geschrieben habe!“

Vor einiger Zeit hatte ich in Ostinatogeblättert, in der deutschen Fassung, ohne systematisch zu lesen und ohne in größere Begeisterung zu verfallen. Später auch in anderen Werken. Vieles davon war schwere Kost und Geschmacksache. Gemessen an den Literaten der Weltliteratur, die ich viel häufiger las als moderne Autoren, hatten Gegenwartsschriftsteller einen schweren Stand. Bei Goma hing darüber hinaus noch viel vom Talent seiner Übersetzer ab, die vieles von den Subtilitäten der rumänischen Sprache und der in ihr mitschwingenden Atmosphäre kaum ins Französische oder ins Deutsche herüberretten konnten. Auch befreundete Schriftsteller konnte man nicht immer gut finden. Wie bei anderen schreibenden Freunden auch, setzte ich mehr auf die ideelle Relevanz der Aussage als auf den Individualstil, gerade bei politischen Büchern. Solschenizyn, mit dem Goma gelegentlich verglichen wurde, schrieb systematischer, archaischer und sprachlich differenzierter. Jelena Bonner, die Gattin des Dissidenten Sacharow, schrieb später während ihres kurzen Aufenthalts im Westen, quasi zwischen Tür und Angel, die Dokumentation In Einsamkeit vereint über ihren Alltag an der Seite Sacharows am Verbannungsort Gorki auf eine nahezu unliterarische Art. Goma stand stilistisch irgendwo dazwischen. Sein naturalistischer Stil wirkte manchmal direkt, derb und provozierend, nicht immer fein, aber redlich.

Doch ich wollte hier nicht über Literatur reden, noch über Fragen der Wertung oder Ästhetik, sondern ausschließlich über menschenrechtliche Fragen. Schließlich war er primär ein politischer Schriftsteller, ein Zola unseres Jahrhunderts, einer der frei und unverblümt redete, der klagte, anklagte, der polemisierte und polarisierte - bis zum heutigen Tag!

„Wie lebt es sich so in Paris?“ fragte ich zunächst mehr rhetorisch mit leichter Ironie, nebenbei am heißen Tee nippend.

„Bis auf die Bomben, die selbst in Friedenszeiten über uns herunter krachen, ganz anständig. Hier in Frankreich darf ich mich artikulieren und mit jedermann reden - soviel ich will, ohne belauscht zu werden. Politische Meinungen hat hier jeder. Die gesellschaftliche Kultur ist einfach anders - und der Zivilisationsgrad der Bevölkerung. Keiner hindert mich daran zu schreiben, was ich will. Und ich kann alles drucken lassen, was ich verfasst habe. Selbst die Publikumsverlage machen mit, vielleicht auch aus Solidarität mit den Menschen in Rumänien und Osteuropa- oder weil es eine Sache des politischen Anstands ist, bestimmte Themen zu drucken, auch wenn sie sich nicht groß verkaufen. Der Homme des lettres steht hier in Frankreich immer noch hoch im Kurs- und auch der kritische Essay, bis hin zum provozierenden Pamphlet. Kurz, ich kann als Schriftsteller veröffentlichen, soviel ich will. Und hier kennt man auch keine Zensur! Der Franzose unserer Tage weiß kaum noch, was das Wort bedeutet. Deshalb erinnere ich in meinen Lesungen auch daran und verweise darauf, wie es hinter dem Eisernen Vorhang zugeht, speziell im autoritären Rumänien, an die Maulkörbe dort und das generelle Leben in Unfreiheit. Doch gerade deshalb lebe ich hochgradig exponiert, ohne am Morgen zu wissen, ob ich den Abend noch erlebe, ohne sicher sein zu können, dass es überhaupt ein Morgen geben wird! Sie wollen mich immer noch ausgrenzen und fertig machen. Auch hier an der Seine. Es gefällt ihnen einfach nicht, wenn ich über Radio Freies Europa mit den Menschen im Land kommuniziere und den Eingesperrten von Wahrheiten berichte und von Freiheiten, die es in Rumänien noch lange nicht geben wird, wenn die gegenwärtigen Verhältnisse anhalten!

So oder so! Der lange Arm der Revolution, du weißt ja, was damit gemeint ist, greift nach mir … Sie haben mich in New York bedroht und in Kanada, ganz so nebenbei in Montreal, in der U-Bahn … Und sie sind auch hier, mitten unter uns. Sie bewegen sich frei im freien Westen … wie die Fische im Wasser - und keiner kann ihr destruktives Vorgehen aufhalten. Ich glaube, sie werden auch in Zukunft nicht aufhören, uns zu diskreditieren, zu diffamieren! Mit allen Mitteln! Sie bestechen Journalisten, sie kaufen Verleger, sie lassen Bücher drucken … Geld spielt keine Rolle, wenn es darum geht, ihre Lügen aufrechtzuhalten. Dahinter stecken auch ökonomische Interessen. Und mit der blanken Fassade erhalten sie sich selbst. Der Schein des Scheins ist für Uneingeweihte noch schwerer zu durchschauen.“

Goma wirkte ernst, besorgt und schon leicht verbittert. Nicht jeder sah die Dinge so klar. Vieles war selbst erlebt und existentiell fundiert. Auch die Enttäuschung über die allgemeine Ohnmacht. Sein Zynismus konnte nicht alles auffangen. Irgendwo stand er allein und kämpfte gegen alle. Das Gefühl war mir nicht ganz fremd. Doch gemessen an seiner radikalen Kompromisslosigkeit, war ich eine konziliante Natur.

Als er vor zwei Jahren öffentlich aufmuckte, gab es weder Intellektuelle noch bekannte Schriftstellerkollegen, die ihm gefolgt wären. Persönliche Animositäten, Neid, aber auch Angst und Opportunismus hielten viele ab, sich etwas weiter aus dem Fenster zu lehnen, Position zu beziehen und eindeutig Flagge zu zeigen. Weshalb sollten sich erstrangige Namen mit einem zweit-, ja drittklassigen Schriftsteller einlassen, nur weil er moralisch im Recht war? Sie würdigten ihn vielmehr herab, sie stigmatisierten und schnitten ihn - zu Unrecht! Denn nur er erhob seine Stimme, als die selbst erkorene Elite versagte.

Der Schriftsteller in Rumänien zur Zeit der Ceauşescu-Diktatur: Das war fast immer der feige Schriftsteller - und das galt auch für Deutsche und Ungarn. Zivilcourage, geistiges Vorreitertum? Weit gefehlt! Duckmäuserisches Mitläufertum war ein Kennzeichen der Intellektuellen im Sozialismus - ostblockweit!

Goma hatte auch nach seiner Zwangsexilierung von Frankreich aus weitergemacht und aufgeklärt, unterstützt nur von Ionesco. Er hatte sich auch für die Sache der Freien Gewerkschaft SLOMR engagiert, nachdem diese unterdrückt worden war und, noch bevor ich im Westen eingetroffen war, als provisorischer Sprecher von Paris aus weiter öffentlich für die Bewegung geworben.

Wie es schien, hatte er noch nichts von seiner kommunismuskritischen Haltung eingebüßt. Doch ich merkte, dass er hart am Wind segelte - und dass er es nicht einfach hatte. Wer sich mit einem allmächtigen Gegner herumschlägt, wer sich mit einem totalitären Staat anlegt, mit einem repressiven System, das über einen effizienten Geheimdienst selbst im Ausland agiert, wird von vielen Seiten angefeindet. Das ertragen nur ganz wenige.

Neben den tatsächlichen Feinden gibt es noch Rivalen, Neider, die kreative Energie abziehen und den Aufklärer schwächen. Hinzu kommen noch die Herausforderungen des Alltags, die oft vergessen werden. Bücher schreibt man nicht über Nacht. Sondern sie entstehen oft unter extremem Verzicht in einer Schwerstarbeit von Jahren, wobei das Erlittene vielfach wieder und wieder erlitten werden muss. Ein Schriftsteller im Exil hat nicht selten Schwierigkeiten, im teuren Paris oder sonst wo seine Miete zu bezahlen, obwohl seine Bücher veröffentlicht werden. Was hat er von seiner Arbeit? Zehn Prozent? Ein Hungerlohn in teurer Zeit! Aber selbst die Botschaft wird nicht immer verstanden. Das Abgeschnittensein von den Wurzeln und vom vertrauten Umfeld daheim in Bukarest, wo man viel direkter reden konnte, so richtig gerade heraus auf Rumänisch, wo man einen, nahe am Knastjargon, schnell einmal irgendwohin schicken konnte, zurück zum Ursprung, das fehlte Goma in fremden Paris und in der kultivierten Umgebung der aktiven Exilanten. Paul Gomas Ton wurde zunehmend sarkastischer: „Ich bin ein Schriftsteller, der aus seinem Vaterland vertrieben wurde, nur weil die Mächtigen nicht hören wollten, was ich zum gesellschaftlichen Miteinander zu sagen hatte, zu den Spielregeln einer zivilisierten Demokratie. Nie habe ich allzu viel gefordert! Nur an einem Prinzip sollten sie festhalten: Wenn ihr Gesetze macht, dann haltet euch daran, respektiert sie auch und setzt sie um, vor allem das, was an internationalen Vereinbarungen ratifiziert wurde - soviel, mehr nicht! Und mit welchem Resultat? Noch bin ich am Leben und sitze hier in Paris - in der Einsamkeit des Exils - wie ein Fisch auf dem Trockenen!“

Goma wirkte verärgert. In meinem längeren Interview mit Max Bănuş hatte selbst ich die Respektierung der rumänischen Verfassung angemahnt und diese Constituţie sogar noch in ein positiveres Licht gerückt, als es ihr eigentlich als undemokratischer Verfassung zustand. Doch die Respektierung der schon bestehenden Gesetze, ein Aspekt, den die Charta 77-Anhäger um Kohout und Vaclav Havel für die Tschechoslowakei angestrebt hatten, war nur ein Anfang, ein erster Schritt. Das Ziel war die Umwandlung der autoritären, ja totalitären Gesellschaft in eine demokratische. Darauf hoffte Goma von Paris aus und machte, unterstützt nur von Eugen Ionesco, unverzagt weiter. Trotzdem war eine gewisse Resignation nicht zu verkennen. Skepsis kam auf, selbst bei mir: „Auf was können wir noch hoffen? Dürfen wir die Ideale aufgeben - und mit ihnen das Handeln?“ fragte ich leicht provokativ nach, ohne die Aussichtslosigkeit unseres Tuns verstärken zu wollen.

„Nun“, holte der Bärtige, denn das war sein Spitzname bei der Securitate, zögerlich aus „ich kann nur für mich sprechen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich weiter agieren, weiter schreiben und meiner Linie treu bleiben … Auch auf die Gefahr hin, das ich scheitern werde. Dass sie mich von einer Sekunde zur anderen auslöschen können, daran habe ich mich gewöhnt. Schon seit geraumer Zeit lebe ich mit Briefbomben und mit den profanen Schwierigkeiten, die jeder andere Schriftsteller in der Fremde auch hat. Er will etwas mitteilen; doch die meisten Zeitgenossen interessiert seine Botschaft überhaupt nicht … Manchmal komme ich mir vor wie einer, der überhaupt noch nichts publiziert hat … Von mir liegt mehr in der Schublade als im Bücherregal steht. Wie du vielleicht weißt, schreibe ich nach wie vor in Rumänisch. Das macht weitere Schwierigkeiten. Die Sachen müssen erst in mühsamer Arbeit adäquat übersetzt werden, bevor die Menschen hier in Frankreich oder im Westen etwas von den Wirklichkeiten sozialistischer Lebenswelten erfahren. Und was noch schlimmer ist: In Rumänien, dort, wo ich tatsächlich wirken will und wo ich eigentlich gehört werden sollte, gerade dort bleiben meine Werke vorerst tabu, vielleicht für alle Zeiten … Bis auf die wenigen Sachen, die Radio Freies Europa gesendet hat und noch sendet, kennt man nichts von mir in meiner Heimat! Doch war es je anders? Der große Ovid ließ, als er vor zweitausend Jahren nach Tomis in die Verbannung musste, immerhin ein Oeuvre zurück, die Metamorphosen, die Kunst des Liebens - und er schickte seine Briefe vom Pontus heim nach Rom und seine tristen Elegien! Doch was ließ ich zurück? Nichts! Belele! Ärger! Das ist Dichter-Los, Dissidenten-Los und namenlos: Mein Los! Hier lebe ich inmitten einer amorphen Masse, anonym und zurückgezogen, isoliert wie auf einer Klippe, die ins Meer ragt, nicht weniger einsam als Ovid unter den Geten am Schwarzen Meer! Aber, darf ich klagen? Selbst die Götter kannten das Exil!“

„Und was ist mit dem kulturellen Widerstand im Land, mit der literarischen Opposition?“hakte ich nach.

Goma blickte mich verdutzt, ja fast beleidigt an: „Widerstand? Welch ein Hohn! Selbst wenn Diogenes nach ihm suchte mit seiner Leuchte oder am hellsten Tag mit einer Lupe bewaffnet - er würde ihn nicht finden. Wir durchleben sonderbare Phänomene in Rumänien, Erscheinungen, die noch nicht genau definiert wurden. Wie soll ich die Dinge nennen? Defaitismus? Persönliche Feigheit? Politischer Autismus? Viele kluge Köpfe, die das offizielle Programm nicht mitmachen wollen, verkriechen sich in ihren Kammern und schweigen! Innere Emigration nennt man das auch heute! Fast alle Schriftsteller sind Feiglinge und schnöde Opportunisten! Ihre Tschorba reicht ihnen wie bei Stendal die Kartoffelsuppe … Und ihre fade Mămăliga, die nie explodieren wird! Sie wollen weiter mit der Feder hantieren, statt mit der Spitzhacke und Schaufel im Steinbruch! Steineklopfen behagt den feinen Leiten nicht! Also verkriechen sie sich - kuschen und schweigen! Geistige Autoritäten, dass ich nicht lache! Sie, die hehren Geister und Hüter der Moral, tolerieren jede Perfidie und segnen jede Schandtat ab wie Popen! Und damit folgen sie - gewollt oder ungewollt - dem Plan der Kommunisten und sanktionieren auch den Status quo in der Politik auf ihre Weise … Was soll ich tun? Gerade hier und jetzt - und allein?

Soll ich mich mit jedem anlegen, der nichts tut, der schweigt? Kann ich sie alle zur Raison rufen, die Leute aus dem Schriftstellerverband, an ihre Ehre appellieren- oder an ihr möglicherweise noch vorhandenes Gewissen? Wer hört mir zu? Du vielleicht, Ionesco, die Idealisten von der Liga und ein kleines Häufchen Unverbesserlicher vielleicht? Und ein paar stille Fans! Ja, wir haben Fans! Doch die stille Bewunderung unserer Verrücktheit nutzt keinem, an wenigsten der Gesellschaft, die es zu verändern gilt! Wahrscheinlich bleiben wir hier im Exil nur einsame Rufer in der Wüste! Propheten, denen keiner lauschen will … Das nemo propheta in patria gilt immer noch. Vielleicht werden wir hier am lauten Puls der Welt endgültig vereinsamen … Oder vom Lärm um nichts erschlagen werden. Ionesco ist schon auf dem besten Weg in die Selbstisolation, auch der scheue Cioran, der keine Lust mehr hat. Den Goncourt-Preis verschmähte er, um ein Signal zu setzen gegen die omnipotente Scheinheiligkeit! Nur wer rezipiert heute solche Gesten? Wen schert noch Philosophie, nach Sartre, nach Camus? Bestimmt werden auch wir einsam untergehen, ohne dass auch nur etwas von unserer Botschaft gehört wird … Was soll’s? C’est la vie, sagte der Franzose immer schon, fast genauso fatalistisch wie sein Bruder, der Rumäne, der wirklich alles erträgt … Maisfladen explodieren nicht, sagen einige mit Recht! So sind die Rumänen nun einmal - fatalistisch, duldsam, nicht viel rebellischer als die viel verachteten Nomaden aus Hinterindien. Die Geschichte hat sie leidensfähig gemacht! Du kennst den Knast und weißt, was er aus freien Menschen macht, Krüppel und Geisteskrüppel! Wer lange Turtoi essen musste und Arpakasch bis zum Überdruss wird nicht nur friedfertig, sondern auch fatalistisch passiv, ja nihilistisch und depressiv, bereit alles zu ertragen, auch ein Leben ohne Würde. Irgendwann bestimmen nur noch Ekel und Melancholie, Sisyphus und Don Quichotte! Wie soll ich darauf reagieren? Mit Erbrechen vielleicht?

Die Heuchelei stinkt zum Himmel, überall - und keiner rümpft die Nase! Meine Arbeit ist fast getan! Darf ich schon Bilanz ziehen? Je ne regret rien, pflichte ich Edith Piaf bei. Das war mein Weg, mein Tao und vielleicht auch meine Bestimmung - und ich bereue nichts, I did it my way.

Gomas Jammern wirkte müde und enttäuscht. Die Desillusion hatte ihn verbittert. Nur wenige Freunde wussten davon, dass er einst auch der Musik nahe stand, nicht nur dem Chanson, sondern der ernsthaften Musik, während andere, fern von Bach, nur die Kunst der Fuga beherrschten -ganz nach einem geflügelten Wort der Rumänen in Reimform: Fuga-i ruşinoasă, dar sănătosă! Die Fuga - also die Flucht - ist schändlich, doch heilsam! Also erst das Leben retten, überleben - und dann nach der Moral Ausschau halten.

In den Nachwirren der Ungarnrevolution, als andere davonliefen, um ihre Haut zu retten, Goma aber als Student opponierte und wie Freund Felix in Temeschburg in den Knast ging, übte er nach der Entlassung gleich mehrere Berufe aus - auch als Musiker. Vielleicht blies er damals die große Tuba und schlug die Pauke? Genau weiß ich es nicht mehr. Aber er hatte auch einen Sinn für Bolero, Tango und triste Walzer an traurigen Sonntagen - und er war ein Stehaufmännchen nach meinem Geschmack, das sich täglich neu motivieren und neu entwerfen konnte.

Aufgeben war Gomas Sache nicht: „Im Land muss sich bald etwas tun, sonst werden sie den Diktator nie los! Eure Gewerkschaft war schon ein großer Schritt in die richtige Richtung und eine Erhöhung dessen, was ich damals begonnen habe. Doch es muss noch mehr werden. Die Vielen müssen aufspringen! Und der Kopf der Hydra muss weg - der unsterbliche Kopf. Das klingt paradox - aber der Fisch stinkt vom Kopf her, besagt eine Volksweisheit, die man selbst in Afrika kennt. Bei uns im Land ignoriert man sie immer noch, obwohl jeder inzwischen merkt, wie kräftig es schon muffelt in der Baracke! In Polen rotieren inzwischen die Regierungschefs - bei uns in Bukarest hingegen rotieren nur die Vasallen unterhalbdes Diktators … Ach, hören wir auf damit, all das regt mich viel zu sehr auf!“

Gomas cholerischer Charakter trieb ihm das Blut in die Schläfen. Auch mir war diese Art des Ärgerns vertraut, ein innerer Aufruhr, der auch mich nachts ergriff, wenn ich über die allgemeine Heuchelei nachdachte, vor allem aber über Personen, die sie mit ihrem bigotten Handeln erst ermöglichten. Manches konnte ich gut nachvollziehen, denn ich entstammte Verhältnissen, in welchen die kleinbürgerliche Heuchelei bis zum Exzess kultiviert wurde, so sehr, dass sie selbst in meinem persönlichen Umfeld in nächster Nähe Opfer forderte. Und dabei war die Scheinheiligkeit die Wurzel aller Übel!

Eine ganze Reihe französischer Geister hatten ihr den Kampf angesagt und sie vehement bekriegt wie die vielköpfige Hydra, von Villon bis zu Voltaire und Cioran. Hatte nicht noch Nietzsche mit ausgerufen: Écrasez l’ infâme

Doch die Hydra der Heuchelei hatte wohl neun Köpfe - und der letzte, der Unsterbliche, von Herakles am Wegrand verscharrt, schien wieder munter zu sprießen.

In Rumänien, in einem europäischen Land, das auf seine zweitausendjährigen Wurzeln stolz ist und das sich von den Römern herleitet, trieben noch im Jahr 1980 und darüber hinaus die kulturellen Paladine des Diktators ihr Unwesen; Panegyriker der Superlative wie Adrian Păunescu, der einen Ceauşescu-Kult inszenierte, dass selbst die Koreaner vor Neid erblassten. Die anständigen Intellektuellen kuschten, schauten zu und applaudierten Beifall, während Goma als Vaterlandsverkäuferund Schurke diffamiert wurde. Nach einer guten Stunde verließen wir das Café und spazierten noch eine Weile durch einen nahen Park.

Die Rosen blühten nicht mehr. Dafür zeigten sie ihre Dornen. So nebenbei berichtete ich ihm von meinem Hineinschlittern in die Dissidenz, von meiner Verhaftung vor seiner Wohnung und von dem Versuch der Securitate, falsche Angaben aus mir herauszupressen, die ihn möglicherweise hätten belasten können. Das alles überraschte ihn nicht. Das hatte Methode und gehörte zu den Geschäftspraktiken der Securitate. Auch hier rechnete er jederzeit mit dem Schlimmsten. Dann sprach ich von den antisemitischen Tiraden gegen ihn. Für die Securitate war er ein Fremdling aus Bessarabien, der eine Jüdin zur Frau hatte, also ein Philosemit, während ich ein liberalkonservativer Deutscher war. Auch das wunderte ihn nicht. Vielfach hatte er die stalinistischen Verhörmethoden erlebt, die sich durch nichts von einem Gestapo-Verhör unterschieden. Und Goma kannte das Wasserpredigen und das Weintrinken der Kommunisten in- und auswendig. Wir ergingen uns dann auch noch in Klatsch und Tratsch und redeten nicht mehr ganz so ernst über Trivialitäten an Rande, über die Zerstrittenheit der Rumänen im Exil, über die Unart jedes kleinen Opponenten, den Marschallstab führen zu wollen, über antiquierte Strömungen, über die ewig Gestrigen, über individuelle Eitelkeiten einzelner Leader sowie über die Kunst, sich selbst im Wege zu stehen und gute Sachen zu verhindern, statt sie zu fördern.

Goma war ein feuriger Kopf, ein streitbarer Geist; ein Schriftsteller, der mehr geachtet als geliebt wurde - und er hatte manche Neider und Feinde, selbst im Exil. Wo Menschen sind, ist viel Allzumenschliches.

Kurz vor der Verabschiedung skizzierte ich ihm noch meine künftigen Pläne und den angestrebten Weg in die internationale Politik. Auch sprach ich über ein mögliches Projekt, die freie Gewerkschaftsbewegung historisch-literarisch dokumentieren zu wollen, ohne zu ahnen, dass dies noch fünfundzwanzig Jahre reifen sollte und verwies auf die Bestrebung, noch eine Weile auf dem engen Pfad, der früher mit Tugenden verknüpft wurde, weiterschreiten zu wollen. Dann schieden wir wie zwei alte Kombattanten in der Hoffnung, uns in besseren Tagen wiederzusehen. Was wurde aus Paul Goma?

Er lebt auch heute noch in Paris und fährt fort, auf seine Weise den Kommunismus in Rumänien zu bekämpfen, allerdings in einer wesentlich radikalisierten Form. Den Aufruf zur Rückkehr in seine Heimat, den der Altstalinist und Wendelhals der ersten Stunde Ion Iliescu nach langen Jahren der Bedenkzeit endlich formulierte, ignorierte Goma - aus vielen Gründen. Und selbst in jüngster Zeit, als er von Koordinator Vladimir Tismăneanu in die Kommission zur Analyse und Aufarbeitung des Kommunismus in Rumänien berufen werden sollte, verscherzte ihm seine lose Zunge Teilnahme und Mitwirkung.

Nur in meiner Geburtsstadt, wo man es seit der Proklamation von Temeschburg mit der Aufarbeitung des Kommunismus und dem Aufbau demokratischer Strukturen ernst nahm, wurde seinen Verdiensten eine Ehrung zuteil, indem im Bürgermeister Ciuhandu die Ehrenbürgerschaft der Stadt anbot -eine Geste, die Goma gerne annahm, die aber einen Sturm der Proteste hervorrief, weil Goma sich inzwischen aufs Glatteis begeben hatte. Goma, oft zum Juden gestempelt, war - bis zu einem hohen Grad selbstverschuldet - in eine Antisemitismusdiskussion hineingeraten, die bis zum heutigen Tag anhält und die viel von seinem Renommee als Dissident geschmälert hat.



Initiation - Daheim in Europa





Was sollte ich nun mit dem Rest des Tages anfangen? Die Verlockung, bei Ionesco zu klingeln oder zu Cioran hochzusteigen und anzuklopfen, war groß. Doch in diesem Punkt war ich auch bescheiden und verzichtete wie schon am Place Pigalle. Nicht jede erreichbare Kirsche musste gepflückt und gierig vereinnahmt werden; auch nicht jede Rose oder weibliche Schönheit.

Die Malerei wartete mit Gemälden, die ich als Kind im Schuhkasten des Pictors bestaunt hatte. Der Mythos des Lächelns der holden GiocondaLeonardos hatte mich schon damals fasziniert, der Mythos der Schönen noch mehr als ihr Lächeln. Jetzt war die viel bewunderte und oft besungene Grazie in Reichweite, die Mona Lisa war greifbar nahe. Also steuerte ich den Louvre an, wo Sammler wie Napoleon viel Kunst der Welt auf engstem Raum konzentriert hatten. Doch die Schlange am Eingang schreckte mich ab. Wieder Schlange stehen- das ganze Leben in der Schlange warten? War mir nicht alles zuwider, was etwas mit Schlangen zu tun hatte? Beginnend mit der alten Schlange der Bibel, die das Unheil in die Welt gebracht hatte, über das Natterngezücht in Temeschburg bis zu dieser hier, in der man sich fühlte wie im Würgegriff eines Python? Sollte ich auch heute weiter kämpfen, für die Kunst und den Kunstgenuss? Die Zeit schien mir zu kostbar. Und doch harrte ich aus, um das eine Bild zu sehen, das Leonardo auf seinen Reisen immer mit sich führte und an dem er dann und wann einen Pinselstrich tat, um es der Vollendung zuzuführen.

Trotzdem blieb es unvollendet wie die eine Symphonie Schuberts und das Requiem Mozarts und wie meine bescheidenen Frühwerke, die allesamt in die Glut gewandert waren. Eine halbe Stunde später stand ich endlich vor dem Bild, hinter einer Traube von Kunstfreunden aus Fernost und bestaunte die Magie im braunen Rahmen. Viel hatte das Menschheitsgenie Leonardo nicht gemalt; doch schon das wenige, was er hinterließ, reichte, um auch seinen malerischen Genius über den anderer Meister der Renaissance zu stellen. Menschen strömten zu dem Bild. Genaueres Betrachten und tieferes Nachdenken über das Ausnahmekunstwerk war nicht möglich. Wie von Misanthropie erfasst, floh ich bald wieder aus dem Tempel und fuhr zum Montmartre hin, wo - wie am Ufer der Seine - Kunst etwas ungezwungener erlebt werden konnte. Die Basilika Sacré-Coeur vor Augen, sprang ich die lange Treppe hoch, den drei aufgetürmten Kreuzen entgegen.

Hatte nicht Eliade genau auf diesem Pfad, ohne ihn beschritten zu haben, über den tieferen Sinn von Exil nachgedacht? Über die Lamentationen des Ovid am Pontus und über das Exil des römischen Nachfahren Dante, um dann die Eingebung zu erhalten, dass der Sinn des Exils die Initiation ist, nach einer langen Folge von Prüfungen auf einer langen Wanderung? Dem stimmte ich gerne zu! Alles hing irgendwie zusammen und war sinnvoll miteinander vernetzt. Also war auch ich auf dem Weg zur Initiation nach Katharsis und Purgatorium und bald ein Eingeweihter? Das war mir vielleicht doch eine Spur zu tief, zu metaphysisch, zu esoterisch! Noch sah ich die Dinge weniger heilig und mehr profan, ja gar oberflächlicher und sorgloser als früher im Osten. Denn eine drückende Last des Exils, das nur bedingt eines war, fühlte ich kaum.

Als Deutscher in Deutschland war ich eigentlich schon daheim, angekommen im Dasein, in der Eigentlichkeit, im Schoß der deutschen Kultur wie der französischen, daheim in Europa, dessen vielfältige Kulturen mir allesamt sympathisch waren.

Oben vor der Kirche blickte ich mich um. Alles war leergefegt wie nach einem schweren Sturm. Wo waren die Künstler? Alle weg, auf und davon nach Süden wie die Zugvögel, in die Provence? Oder hockten sie in irgendeiner warmen Mansarde im Atelier, am Feuer des Eisenofens bei knisternden Kastanien und Anisschnaps? Wo waren die Nachfahren von Toulouse-Lautrec, von Vincent van Gogh, Gauguin, Renoir, Matisse?

Wo waren die Komponisten und Poeten? Wo waren die Genies und Narren? Die Bekannten und die Unbekannten? Wo war Maurice Mourlout? Malte er an einem Gorilla? Und wo waren alte Freunde wie Jean-Pierre Hammer? Der geigende Maler und malende Geiger? Der Freigeist und Literat? Fiedelte er gerade den Mephistowalzer oder schrieb er an seinem Lenau-Essay Poete rebelle et libertaire? Jean-Pierre, der Lebenskünstler, hatte mit viel Fortune eine KZ-Internierung als Kind überlebt und war, wie einst Celan, trotzdem ein Freund der deutschen Literatur und Kultur geblieben. Er hatte lange in Madagaskar gelebt, in einem Land, wo die Chamäleons noch in den Urwäldern hausten, nicht im Verein und war ein Mensch geblieben, obwohl er sah, wie die Menschen um ihn herum verfielen wie das Bildnis des Dorian Gray und mit schwindender Moral und zunehmender Heuchelei kontinuierlich zu Chamäleons mutierten! Jean-Pierre hatte den Franzosen nicht nur den liberalenLenau sondern auch den freiheitlichen Wolf Biermann vermittelt und als Linker seinem linken französischen Umfeld klargemacht, dass der Geist des Widerstands in der DDR doch noch nicht ganz erloschen war - immer ein engagierter Freund der Freiheit und der Dissidenz - ohne seine eigenen Leiden selbst zu inszenieren! Er war einer der exponiertesten Charaktere aus der Schar von vielen netten Linken, die mir begegnet waren, ein Mensch, der wie Biermann, Heine und Lenau das Ideal des Humanum über die Ideologie der Marxisten aller Couleur ansiedelte.

Doch heute fand ich weder Maler noch Kunst, nur leere Gassen, durch die ein kalter Zugwind wehte - und ein eisiger Hauch von Einsamkeit. Nach einem Blick auf das Kreuz, floh ich die Verzweiflung der kalten Leere und eilte die Stiegen hinab zurück in die Hektik der Weltmetropole, ohne das Gotteshaus betreten zu haben. Die Zeit raste und ich mit ihr, ohne zu bemerken, dass die Seele nicht mehr folgen konnte.



Ein Anders-Denkender am Höllentor - Rodin und die Trias als Humanum




Wohin jetzt noch? Also doch zu Rodin? Das nur seinem künstlerischen Schaffen gewidmete Museum stand auf meiner Wunschliste ganz oben. Dort lockten das Höllentor - lange nach Dante - und einige weitere monolithische Blöcke, aus denen Idee erwuchsen in eigener Genialität wie sonst nur noch bei Michelangelo!

Ein Denker erwartete mich dort! Ein Seelenverwandter? Ein sinnender Melancholiker wie am Grabmal der Medici? Ein Urbild und Ebenbild des Denkprozesses und Erleidens, in welchem alle Dichter und Philosophen des Alten Kontinents zusammenfielen wie die Töne in der gewaltigen Symphonie, alle großen Geister der Franzosen, der Rumänen, der Deutschen, Shakespeare und Cervantes, Dostojewskis und Tolstoi, Ravel und Sibelius!? Der Weg dahin war schnell gefunden. Und - welch ein Wunder: keine Schlange! In dem kleinen Palast war ich fast der einzige Gast. Ein Museum nur für mich! Das war gelebter Luxus.

Endlich allein - mitten unter Millionen an der Schlagader der Welt. Es fiel mir nicht leicht, aus dem Rasen zur Ruhe zu finden und in kontemplative Betrachtung zu versinken. Und doch. Rodins Werke waren die Ruhe selbst. Beeindruckt ging ich durch die Räume und besah andächtig alles, was hier ausgestellt war mit der Gier des Hungernden, der einen Laib Brot findet.

Balzac blickte mich an. Hatte ich nicht jüngst eine Posse von ihm gesehen, Das Finanzgenie, in der Hauptrolle der deutsche Fernsehkommissar? Auch ein Essay aus der Feder von Stefan Zweig über den großen Franzosen, der wie Mozart und Wagner immer nur Schulden hatte und vor Gläubigern floh, spukte mir durchs Gehirn - Und hier die Sicht von Rodin: die Wucht des Geistes als Kopf des Romanciers! Er schlug mich in Bann!

Und dann: Der Denker! Da war er! Eine Plastik in Bronze, mit der ich mich nur zu gern identifizierte. Das Denken selbst, die gesamte Weisheit der Welt schien aus ihr hervor - das Abendland, Echnaton und Buddha, Konfuzius und Zarathustra!

Den Geist und die ewigen Ideen galt es zu erfühlen - und es kam darauf an, die ewige Idee, den Zusammenfall des Gegensätze, des Bewussten und des Unbewussten, der Welt und Gegenwelt, mit dem Herzen sehen und erfassen, wie bei Exupery!

Trotzdem: Die Franzosen waren Rationalisten. Und das Primat des Geistes hatte Priorität, selbst vor Descartes. Alles, was den Menschen vom Tier unterscheidet, wurzelt im Denken. Das gesamte Menschsein ging darauf zurück. Und dabei wird es nicht einmal in den Schulen vermittelt - wie andere lebenswichtige Dinge auch.

Ein paar Schritte weiter noch - dann stand es vor mir: das Port d’ Ènfer - unvollendet, mit einer Vielfalt von Symbolen, die tagelanges Meditieren erfordert hätten. Eine Allegorie der Hölle - die viel bewunderten heiteren Heiden zappelten darin, die edlen Templer jenseits von Sodom und alle Abgründe der menschlichen Seele einem humanistischen Gehirn entsprungen und bildhauerisch in Erz gebannt. Die Unterwelt?

Das Purgatorium? Die Teufel mit den Mistgabeln, Jammern und Zähneklappern! Katharsis? Selbst die schuldlos Schuldigen mussten leiden, nicht anders als die ungeziefergeplagten Lauen. Kindheitsvisionen wurden wach, Vorstellungen, was die Hölle sei. Mehrfach hatte ich Höllentore passieren müssen. Hinein ins Gefängnis und hinaus. Und hinaus aus der Hölle des Kommunismus, die ein Dante noch nicht kannte.

Dieses hier wollte ich nur bestaunen, hoffend, dass es nicht zu tiefe Erinnerungen wachrief an Höllen und Vorhöllen, die ich schon überwunden glaubte. War die Hölle in uns selbst?

Oder traf Sartres Wort zu: Die Hölle, das sind die anderen?

Fasziniert und etwas verwirrt riss ich mich wieder los. In einem anderen Raum fand ich sie dann, jene Gruppe, die mich so sehr an verehrte Idealisten erinnerte: Die Bürger von Calais - ein weiterer Höhepunkt meines Besuches.

Sechs Menschen standen vor mir, ein jeder anders, mutig, aufopferungsvoll, leidend, eine Gruppe von Charakteren gebündelt um den ideellen Komplex: Widerstand - Freiheit - Humanum: die Trias fand hier zur Einheit, zum Apogäum, - wie die drei Basilikatürme des Sacré-Coeur. Und mit dieser Dreieinigkeit ging mir noch mehr auf. Mein Tun. Meine Welt - das Tun meiner Umwelt schien hier zusammenzufließen. Das menschliche Tun überhaupt schien auf einer Ebene zusammenzufließen, die in einer Idee eingefangen wird. In diesem Raum des Lichtes und der Kunst durchlebte ich einige subjektive Eindrücke, die sich von selbst objektivierten und alles, was bisher abgelaufen war, in einen großen Sinnzusammenhang stellten. Der gelegentlich aufkommende Pessimismus wurde durch diese Konstellation aufgelöst.

Als ich das Museum verließ, um bald darauf auch Paris zu verlassen, umgab mich eine Aura von Zuversicht.

Am Tag danach stand meine Rückreise nach Deutschland an. Der Zufall, der so viel Symbolisches und Symbolträchtiges in meinem Leben zusammengewürfelt hatte, wollte es auch, dass es eine Winterreise wurde. Es war immer noch November, ein trauriger Sonntag. Schnee lag in der Luft, als ich zum Ostbahnhof schritt und ein Hauch von Melancholie, die sich einstellt, wenn ein lange erstrebtes Ziel erreicht und das Glück des erfüllten Augenblicks verflogen ist.

Der Zug nach Straßburg wartete. Halb euphorisch, halb depressiv stieg ich ein. Im Koffer waren einige Andenken an die gerettete Architektur der Stadt - und im Kopf war diesmal keine Konterbande, sondern das Gedenken an Menschen, an Idealisten, die ich in Fleisch und Blut erlebt hatte. Es zeichnete sich bereits ab, dass ich noch öfters nach Paris kommen würde, um das Engagement eben dieser Menschen fürFreiheit und Bürgerrechte weiter zu unterstützen.






Existenzerfüllung und Glück - Von seltsamen Metamorphosen, vom Ungeist der Schwere und vom beschwingten Sein




In Deutschland angekommen, kühlte mein Enthusiasmus deutlich ab, als ich zunehmend feststellen musste, dass die meisten Menschen um mich herum, selbst jene, die erst kürzlich die Freiheit erreicht hatten, kaum noch einen Sinn für idealistische Dinge entwickelten und weitgehend damit beschäftigt waren, ihren Lebensstandard zu steigern, eigennützige Interessen zu verfolgen und ausschließlich materielle Vorteile zu erlangen. „Ich muss meine Situation verbessern, bis sie so ist, wie ich sie haben will“, hörte ich manchen Materialisten sagen, der sehr genau zu wissen schien, was und wie viel davon er haben will, bevor er zur Asche zerfiel. Das Haben rückte in den Mittelpunkt der Existenz, noch bevor das Seinerreicht war. Die einst vehement erlebte Vergangenheit interessierte sie inzwischen genauso wenig wie die lange erstrebte bunte, weite Welt.

Manche Freunde gaben selbst Bildungsambitionen und Erkenntnisinteressen auf und begnügten sich damit, Bausparverträge abzuschließen, diese zur Reife zu führen, Grundstücke zu erwerben und, bei höchstem persönlichem Verzicht, die Schulden für den eigenen Freikauf und für das zu errichtende Haus zu tilgen. Andere freilich, in der Regel junge Mütter mit kleinen Kindern, mussten sich den Notwendigkeiten fügen, ohne ihren eigentlichen Weg gehen zu können. Dort, wo ich die Freiheit angesetzt hatte und die Selbstverwirklichung, stand für andere das Haus. Zunehmend traten mehr und mehr traditionelle Werte wie Besitz, Eigentum und Sicherheit an die Stelle der Freiheit.

Die Freiheit selbst war für viele kein Wert an sich, sondern nur noch ein Mittel, um Geld, Gut und Sicherheit zu ergattern. Alle anderen Werte, die nach meiner Auffassung durch die Freiheit erst ermöglicht werden, wie Kreativität, Literatur, Musik, Kunst und Kultur, traten für die meisten Menschen, denen ich später immer seltener begegnete, in den Hintergrund und wurden ganz und gar unwichtig. Von unterschiedlichen Zielsetzungen bestimmt, drifteten die Welten auseinander. Über das Verbindende der Vergangenheit hinweg, stellte sich bald auch eine zunehmende Entfremdung ein. Geist und Kunst oder nackter Materialismus? Unter hinter allem ein für mich stets unbegreifbarer Egozentrismus! Bücher schreiben? Wozu? „Kann man von Bücherschreiben überhaupt leben?“ fragte mich ein Daimlerarbeiter, der die Schichtarbeit am Fließband für die ultimative Errungenschaft humaner Arbeitswelten hielt.

Wozu braucht man heute noch Bücher, wo man doch das Fernsehen hat, ein Medium der Volksverblödung, das rund um die Uhr zur Passivität und zum Nichtstun einlädt; und außerdem auch noch ein paar geistreiche Zeitungen, die einem dabei helfen, den Ritus des Lesens für immer aufzugeben? Kann man denn von Philosophie leben- oder zumindest überleben? Wozu braucht der Mensch überhaupt Philosophie? Ist sie nicht unnützer Luxus, den sich nur die dekadenten Griechen und Römer leisteten? Das fragten andere!

Und ich selbst musste mich fragen: Was bringt das durchgehaltenes Ethos heute noch ein, außer massiven Enttäuschungen auf vielen Ebenen? Ist es nicht offensichtlich, dass der selbstherrliche Staat, das kälteste aller Ungeheuer, über seine realitätsfremden Politiker seine intellektuellen Eliten verrotten lässt, indem er sie der totalen Freiheitpreisgibt, der Freiheit der geflügelten Tauben in einer Welt der Geier? Viele aus unseren Reihen hatten erst kürzlich alles aufgegeben, nicht nur Haus und Hof, auch die Vertrautheit der Heimat und die Geborgenheit der Gemeinschaft, um in Freiheit zu leben! Und jetzt, wo wir, in alle Winde zerstreut, endlich freiwaren, gaben wir die Freiheit auf, um profane Steinhaufen zu errichten!

Bestand darin der Sinn menschlichen Tuns? Viele von uns waren auf dem Weg, perfekte Egoisten zu werden und noch perfektere Materialisten, Anbeter des Goldenen Kalbs in Stein!? Wenn der Haufen endlich stand und die letzte Rate getilgt war, waren die meisten, die daran geschuftet hatten, ausgebrannt und bald auch tot. Machte das Sinn? Aus der Sicht der lachenden Erben vielleicht! Für die Handelnden aber war es nur ein weiterer Opfergang, ein Weg, der sie traurig machte, wenn sie einmal Zeit fanden, um über ihr Tun nachzudenken. Du darfst nie die Sinnfrage stellen - hatte ein schlauer Kopf einmal gesagt. Wie wahr. Jeder Nomade hätte uns verlacht - und nicht nur der Nomade.

Es war schwer zu fassen. Mach einer war zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, der sich eigentlich nur geologisch verschoben hatte? Die einst zu überwindende kleinbürgerliche Welt des Dorfes, die sich durch Kulturfeindlichkeit, Bildungslosigkeit und Trivialität in allen Lebensbereichen auszeichnete, war jetzt wieder da; die Existenzform des Gartenzwergs, der statisch in der Landschaft steht und vom eigenen Grund und Boden aus apathisch in die Welt blickt. Im Grunde war es die alte Welt der Spießer, nur dass ihre Pseudowerte diesmal staatlich anerkannt, gefördert und gestützt wurden und der Staat dabei auf eine ideologische Untermauerung und Durchsetzung des Gelebten verzichtete.

Die vielfachen Mechanismen der Manipulation in der geldorientierten, kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Abhängigkeiten waren viel subtiler und undurchschaubarer. Die materialistische Gesellschaft würgte den Rest verbliebener Freiheit nicht endgültig ab, sondern beließ - im Unterschied zur totalitären Gesellschaft der Kommunisten - die Freiheit jenen, die noch etwas damit anzufangen wussten. Den meisten Menschen jedoch wurde eine elementare Tatsache nie bewusst: sie gaben die Freiheit, die sie eigentlich hatten, auf und tauschten sie gegen eine selbst auferlegte, freiwillige Unfreiheit ein, um materielle Zielsetzungen zu erreichen.

Geld statt Freiheit, lautete manche Devise, während ich selbst noch lange Jahre gleich zweifach darauf spekulierte, über finanzielle Unabhängigkeit endgültige Freiheit zu erlangen. Eine Schimäre, die ich aus heutiger Sicht als opferreiche Erfahrung und - mit Proust - fast sogar als verlorene Zeit verbuche.

Existenzerfüllung und Lebensglück wurden nunmehr utilitaristisch definiert als das größtmögliche Glück der größten Zahl, wie einst bei Bentham und Mill, wobei die größte Zahl dieser heutigen modernen Menschen ihr persönliches Glück in Wohlstand und Sicherheit sah, speziell in einem ewig vollen und trägen Magen, einer fetten Rente und einem möglichst langen, bequemen Warten auf den Todohne besondere Gehirnaktivitäten!

Und dabei lehrt doch gerade die moderne Hirnforschung in erstaunlicher Nähe zur Selbsterkenntnisforderung altgriechischer Philosophen, dass existentielles Glück nicht mit einem schweren Bankkonto verbunden sein muss, mit Wohlstand und vermeintlicher Sorgenfreiheit über Besitz und Eigentum, sondern das Lebensglück mit den vielen existentiellen Erfahrungenzusammenhängt, auf die der Mensch später einmal selbsttröstend zurückblicken kann.

Stimmte das, dann blieb ich mit meinen zahlreichen Erlebnissen ein reicher Mann, auch ohne Geld. Der zur Selbsterkenntnis gelangte Mensch findet seine Existenzerfüllung im Leben in der Eigentlichkeit im Sein und nicht im Haben. Erst dann findet er etwas von der Freiheit vor, die vielleicht John Stuart Mill in jenem Essay on Libertyvorschwebte.

Auch ich brauchte meine Zeit, um materielle Antriebe und Ziele hinter mir zu lassen. Obwohl ich die Pseudohaftigkeit der materiellen Werte einer Spießbürgergesellschaft damals, unmittelbar nach der Ankunft im Westen, noch nicht durchschaut hatte, denn dazu gehören einige Jahre selbst erfahrenerund freiwilliger Unfreiheit, aus der man sich in der Regel nie wieder lösen kann, ahnte ich intuitiv die Gefahr und hielt an der bisher beschrittenen, steinigen Bahn fest - in der Hoffnung, möglichst viel Freiheit leben und kreativ altruistisch umsetzen zu können. Das war meine egoistische Antwort auf die Herausforderungen eines allzumenschlichen, materialistischen Umfelds, das vom Ungeist der Schwere und seiner niederziehenden Wirkung bestimmt wird. Dabei wollte ich immer noch hinauf, in die beschwingte Leichtigkeit des Seins, frei nach der Idee Nietzsches, der gegenwärtige, unzulängliche Mensch sei etwas, das zugunsten eines höheren Menschen überwunden werden müsse. Künstlerisch kreative Tätigkeiten und idealistische Projekte dienten als Mittel dazu. Doch der steinige Weg ist ein Weg der Einsamkeit, den das Gegenüber nur eine Weile durchzuhalten vermag!

Also pflegte ich auch weiterhin die Nähe zu Geist und Kunst begann erneut, alles niederzuschreiben, was und wie ich es erlebt hatte, mit einigen spärlichen Kommentaren versehen - fürfreie Geister und, wie ein anderer Exot es im Rückgriff auf Shakespeare über ein Werk schrieb: For the Happy Few. Parallel dazu wirkte ich als kritischer Aufklärer und fuhr fort, als Zeitzeuge aufzutreten und über Fakten zu berichten.

Kaum aus Paris zurück, fand ich einen Brief von Erwin vor, den ein Bekannter nach Deutschland geschmuggelt hatte. Unter anderem berichtete der vertraute Kampfgefährte von einer neuen Vorladung zur Securitate, die nun offensichtlich die Damenschrauben anzogen: Seit einigen Wochen bin in wieder in der Electrobanat beschäftigt, am alten Platz - nur bin ich jetzt weitaus bekannter als früher. Einzelne Arbeiter suchen das Gespräch. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen nun mutiger sind als vor unserer Aktion. Der Betriebsgeheimdienstler ist ganz auf mich fixiert. Immer wieder zitiert er mich in sein Büro und stellt mir allerlei Fragen. Edgar ist inzwischen mit den Wolfs ausgereist. Doch mir haben sie noch keine Zusagen gemacht. Ich habe mehrfach nachgehakt und war ganz oben beim Chef. Romanescu hat mich angehört, mehr nicht. Versprochen hat er gar nichts. Der General hält sich zurück: und wir, meine Eltern und ich, hängen in der Luft. Ich hoffe doch, sie werden uns bald ziehen lassen. Der Milizchef, General Taurescu, soll inzwischen auf dem Weg in die Klapsmühle sein, sagt man. Deine Interviews haben hier einigen Wirbel verursacht, besonders das über Dein Leben, das mehrfach gesendet wurde. Pele wollte wissen, ob ich auch bei der Kobra mitmache, wenn sie uns freigeben … Ich sagte ihm nur, dass Du Deine Entscheidungen selbst triffst - und dass ich Dich nicht beeinflussen kann, von hier schon gar nicht. Irgendwo setzte sich der Eindruck fest, er koste es aus, bekannt zu werden. Offensichtlich genießt er es, wenn man selbst im Ausland über ihn spricht! Mit Drohungen hielt sich Pele diesmal zurück.

Der Gruß Dein Freund, der Dich nie vergisst, beendete das Schreiben. Mutter, die den Brief in die Hände bekam, zitierte den Schlusssatz auf ihre pathetische Weise noch so oft, dass er mir für immer im Gedächtnis haften blieb. Die Neuigkeiten gaben mir zu denken. War es klüger, untätig abzuwarten? Alle bisherigen Entwicklungen sprachen dagegen. Handeln - das war der Weg! Je mehr Öffentlichkeit erzeugt wurde, desto sicherer waren die noch Gefangenen. Deshalb musste ich weiter nach London.






In London bei Amnesty International - Nationale Identität und Würde





Nur wenige Wochen nach dem Auftakt in der französischen Hauptstadt schickte ich mich an, als Handlungsreisender in Sachen Freiheitnun die englische Kapitale anzusteuern; im Gepäck wieder einmal eine Liste- eine lange Liste mit Namen, hinter welchen jeweils ein Menschenschicksal stand, Menschen, die immer noch im Kerker schmachteten und auf Rettung hofften. Das klingt nach Pathos, war aber bitterer Ernst.

Diesmal brachte mich das Flugzeug zum Ziel. Nach der Ankunft am Airport Gatwick reiste ich von dort aus mit dem Zug nach Norden in den Großraum. Von der Victoria Station ging es dann weiter in die altehrwürdige City of London. Meine Anlaufstelle war die Zentrale der international tätigen Häftlingshilfeorganisation Amnesty International, deren Name jeder Häftling kennt, der nicht wirklich wegen einer Straftat einsitzt. Von Amnesty International anerkannt und adoptiert zu werden, ist gerade für Häftlinge in totalitären und repressiven Ländern überlebenswichtig. Ein solcher Status führt den Verfolgten oft in die Freiheit und garantiert die Aufnahme in einem westlichen Staat, verbunden mit der Gewährung von politischem Asyl.

Schon die Geschichte der nichtstaatlichen Organisation, die 1961 in London von dem engagierten Rechtsanwalt Peter Benenson ins Leben gerufen worden war, hatte viel mit Freiheit zu tun, aber auch mit Freiheitsentzug, mit Verfolgung und mit einer Begebenheit, die sich im damals noch totalitären Portugal ereignet hatte. Freiheit,das schöne Wort, von dem Milva so leidenschaftlich singt, war nicht nur hinter dem Eisernen Vorhang offiziell verpönt, sondern auch auf der Iberischen Halbinsel, wo um 1961 noch ein selbstherrlicher Diktator Franco herrschte. Als zwei Studenten aus dem benachbarten Portugal, das ebenfalls eine Diktatur war, in einem Restaurant bei einem Gläschen Portwein öffentlich und gut hörbar für alle auf die Freiheit anstießen, war dies Grund genug, um sie verhaften und aburteilen zu lassen. Der Akt von Zivilcourage mit Beispielcharakter, damals keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Wagnis, wurde am westlichsten Punkt Westeuropas mit einem Freiheitsentzug von sieben Jahren bestraft. Teure Freiheit!

Und ein Skandal! Benenson berichtete darüber mehrfach in der liberalen englischen Presse und rief zu einer öffentlichen Solidarisierung mit den Verfolgten und gegen ähnliche Fälle politischer Willkür auf. Eine konkrete Folgeerscheinung dieses Engagements für die Begnadigung und Freisetzung politisch Verfolgter war die Gründung von Amnesty International, der Häftlingshilfeorganisation, die auch heute noch tätig ist und die es auch nicht scheut, Menschenrechtsverletzungen selbst in demokratischen Staaten des Westens anzuprangern - Guantanamo ist das beste Beispiel dafür!

Als ich den Amnesty-Sitz endlich gefunden hatte und das Gebäude betrat, glaubte ich mich in das Geschehen eines orientalischen Marktes versetzt. Bunt und lässig gekleidete Menschen mit langen Haaren unterschiedlicher Hautfarbe schwirrten wie jüngst erst in den Straßen von San Francisco durch die großzügigen Räume. Ein Hauch von Flower Power wehte durch die Luft. Eigentlich hatte ich eine etablierte Organisation erwartet, eine funktionierende Behörde. Mit soviel geballter Freiheit in einem scheinbar chaotischen Durcheinander hatte ich jedenfalls nicht gerechnet. Verwundert blickte ich mich um. Es dauerte eine Weile, bis ich die für Osteuropa zuständigen Ansprechpartner fand. Da mein Besuch unangekündigt erfolgt war, sollte das eigentliche Gespräch über die repressive Lage in Rumänien und über Details aus dem dortigen Gefängnismilieu erst am Folgetag aufgenommen werden. Das bedeutete für mich zunächst abwarten - und viel Zeit für ein Sightseeing à la Paris.

Was interessierte mich nicht in der englischen Metropole? Die Paläste der Royals, die Hüte der Bobbies und die zeremonielle Wachablösung vor dem Buckingham Palace, die Krönungskirche in Westminster, die Kronjuwelen im Tower, die berühmte Brücke über den Themse-Fluss oder die täuschend echten Wachsfiguren im Kabinett von Madame Tussaud’s. Deshalb knüpfte ich an die Pariser Erfahrungen an, setzte mich ungezwungen in die Underground und fuhr hinaus ins Schwarze. Ohne Ziel.

Nach Brixton verschlug es mich dann, in jenen Stadtteil, wo fast nur Farbige wohnten und nicht jeder Weiße hochstieg. Dort erwartete mich ein anders pittoreskes London. In Brixton hatte es schon im Vorfeld immer wieder Krawalle gegeben. Bald sollten auch Flammen auflodern. Einiges von den Problemen der Gegend kannte ich aus dem Fernsehen. Bei den Armen in Brixton verblasste der Glanz der Großstadt. Doch es blieb bei dem Wagnis. In der Unruheecke angekommen, stieg ich die Treppen hoch und sah mich um. War das ein Ort der Revolte? Wann erhebt sich der Mensch? Camus hatte darüber geschrieben, vom Mythos ausgehend bis zur Jetztzeit. Auch die aufkommenden Riots hatten viel mit Rassen zu tun und mit Farben. Der mir sattsam bekannte Dualismus zwischen Schwarz und Weiß, der nicht nur in Nordamerika tobte und in Südafrika, der die Lichtmetaphysik auslöste und die Dialektik zwischen Gut und Böse, er wirkte auch hier. An einigen Häusern waren Brandspuren zu erkennen. Hier hatte Feuer gewütet, Feuer, das gleich an Nordirland erinnerte, an Londonderry und Belfast, und an ein historisch vertrautes England als Besatzungsmacht. Den Schotten hatten sie ihre Freiheit geraubt und den Iren - und vielen Völkern des Commonwealth, die ein Osteuropäer kaum auseinander halten konnte. Geschichte auch hier. Geschichte von Freiheitsstreben und Kolonisation - und profane Tagesgeschichte wie vor meinen Augen in Brixton, im Viertel der Unterprivilegierten. Vor mir lag die Trostlosigkeit britischer Wirklichkeit während der Ära Thatcher. Die Dame hasste die Kommunisten: doch das machte sie mir noch nicht sympathisch. Denn irgendwie hasste sie auch die Iren und hegte Ressentiments gegenüber Deutschen und Franzosen. Eisern wurde sie wohl genannt, weil sie eisig eisern war wie Stalin stählern; und weil sie eisern mit ihren Gegnern umging - bis hin zum verlustreichen Krieg um ein Nichts auf fernen Inseln im Ozean!

Eckte ich hier an, inmitten unter Farbigen? Weit brauchte ich nicht zu gehen und schon begegneten mir die skeptischen Blicke von Menschen, die sich fragten, was der Voyeur hier wohl wollte. Kinder blickten mich an, mild und doch anklagend. Das schlechte Gewissen regte sich, das des Ohnmächtigen, der etwas als falsch erkennt, und der nichts dagegen tun kann. Nicht einmal trösten konnte ich die Leidenden.

Also machte ich bald wieder kehrt wie ein Tourist, der unfreiwillig in einem Ghetto gelandet ist, ohne dem Anblick des Elends gewachsen zu sein, und fuhr zurück in das heile London, in die besseren Gegenden der Stadt, wo Nadelstreifen getragen und Rosenöle versprüht wurden. Die Diskrepanzen waren krasser in der kapitalistischen Welt als im arg nivellierten Osten Europas.

Auch in der vornehmeren City war nicht alles Gold, was glänzte. Viel Katzengold war noch mit dabei und mancher Katzenjammer, wenn die Ticker falsch tickten. Ohne nach Negativität zu suchen, stieß ich bald darauf, namentlich in jenen Straßenzügen im Herzen der Stadt, wo nur Inder oder Pakistani wohnten.

Das Empire war jetzt hier. Und in den Gesichtern der Menschen vom Subkontinent, die mehr zu vegetieren schienen als zu leben, vermisste ich die Heiterkeit des Daheimseins, die leuchtenden Augen und den Frohsinn der Zufriedenheit. Mit dem größten Glück der größtmöglichen Zahlwar es nicht weit her. Schlecht gelaunte Menschen zogen an mir vorüber, dem Unglück näher als der Geborgenheit. Der Wohlstand des Empire zog an ihnen vorbei und siedelte - im Herzland der Demokratie – ein paar Straßen weiter um die Sankt Pauls Kathedrale, wo der Grund etwas teurer war und die Melonen exquisiter.

Gerade die Hindus und Sikhs wirkten schwermütig und von der glühenden Sonne der Heimat abgeschnitten. Das ewig smogverhüllte London drohte ihre Laune mit einzutrüben. Obwohl dem determinierenden Kastensystem ihres Herkunftslandes entronnen und in totaler Freiheit angekommen, schien ihnen die westliche Welt fremd zu bleiben. Vielleicht weil eine Perspektive fehlte? War dies der Rest von der Glorie des Empires? Wo war die Liberty des John Stuart Mill, der Utilitarismus und das Glück der Vielen, das Jeremy Bentham einst verkündete. Hatten die Ethiker auch die vielen entwurzelten Inder und Pakistani und die vielen Afrikaner aus Brixton in seine Überlegungen mit einbezogen? Stolze Völker, aus denen hier Minderheiten geworden waren? Im Prinzip schon.







On Liberty am Speakers’ Corner





Nachmittags zog es mich dann zum Hyde Park hin, genauer an jene Ecke unmittelbarer Demokratie, die man schon aus dem Schulbuch als Speakers’ Corner kennt; und auf jenes Fleckchen Rasen, wo das freie Wort kultiviert wird wie an keinem anderen Ort auf der Insel oder auf dem Kontinent.

Einmal frei reden zu dürfen, hatte ich mir immer gewünscht; vor allem dann, wenn es hieß: Sei vorsichtig, was du sagst, es könnte jemand mithören. Wer immer schon belauscht wurde mit Ohr und Blick, wer nie das aussprechen konnte, was er dachte, weiß die Kultur des freien Wortes zu schätzen. Felix wäre hier aufgeblüht wie eine Rose im Morgentau und der Alte, der die Freie Rede des Cicero über alles stellte. Die andere Seite hören- das veränderte die Perspektive - und nach St. Exupery und Nietzsche - auch die Wahrnehmung und das Denken.

Nick hatte mir von dieser Ecke vorgeschwärmt, als wir durch den Cişmigiu-Park gingen und nur sub rosa reden konnten. Hier war jenes Prinzip aufgehoben und ad absurdum geführt, weil jeder frei reden konnte, ohne dafür in einen finsteren Kerker geworfen und gequält zu werden wie zu Zeiten der Inquisition.

Karl Marx, der Theoretiker des Kommunismus und Urvater des Unheils in der pseudokommunistischen Welt des 20. Jahrhunderts, hatte einst hier gesprochen, selbst Lenin, der russische Revolutionär im westlichen Exil; und lange nach den beiden Ahnvätern des Weltkommunismus, im völlig entgegengesetzten Geist und von anderen Idealen durchdrungen: George Orwell, der Mahner, der den menschenverachtenden Großen Bruder-Staat wie wenig andere okzidentale Schriftsteller durchschaut und literarisch weit reichend auch angeprangert hatte. Diesmal fehlten prominente Redner; doch auch die weniger bekannten Oratoren hatten manches zu vermelden.

Ein buddhistischer Mönch aus Tibet stand auf einem selbst errichteten Podest aus einer stabileren Obstkiste und sprach vor Passanten, in deren Minen lebhaftes Interesse und tödliches Gelangweiltsein sich die Waage hielten. Manch ein Cockney hielt es mit Oblomow. Viel Lärm um nichts? Der Meister redete über göttliche Dinge, über die Freiheit des Denkens und der Religion, die es in seiner besetzten Heimat seit dem chinesischen Einmarsch nicht mehr gab und über das vielfältige Leiden seines Volkes, dem ideologisch verblendete Maoisten seine tausendjährige Identität rauben wollten. Von menschlicher Nächstenliebe sprach er wie ein Christ; auch von der Solidarität demokratischer Völker untereinander, nicht anders als der Dalai Lama auf seiner Aufklärungsmission durch die Welt und einst Gandhi vor dem Gewissen der zivilisierten Menschheit.

Doch fast keiner aus dem Haufen hörte ihm zu. Wen störte der chinesische Imperialismus? Die freie Welt blickte weg! Und der Westen schien Tibet genauso aufgegeben zu haben wie die Gaffer den Referenten! Nicht viel anders als einst das rebellierende Ungarn und die aufmüpfige Tschechoslowakei dem himmlischen Trugfrieden geopfert worden waren? Endgültig, um Interessensphären zu wahren und, am Völkerrecht vorbei, aus Gründen der Staatsraison, nur weil sich keiner mit dem totalitären China anlegen wollte?

War das Völkerrecht nur für die Starken da? Und wog man die Schwachen im Völkerbund mit anderem Maß? Der Mönch mahnte und klagte, indem er mild von der Friedfertigkeit sprach, die das Wesen seines Volkes verkörperte: historisch gewachsene tibetanische Identität. Sie zu wahren, war nicht einfach. Schließlich hielten es die Chinesen wie die Russen. Was einmal im Handstreich erobert worden war, was sie einmal hatte, das gaben sie als gute Imperialisten nie wieder her, selbst wenn die Schande zurückblieb. Doch was bedeuten schon Schande und Moral, wo heute nur Macht und Gewalt zählten?

Mitgefühl erfasste mich. Auch ich, ein Lamm, war in eine Wolfsburg hineingeboren! Was anderes war im Banat nach Trianon abgelaufen? Unsere deutsche Identität unter Rumänen, die Identität der indischen Hindus, jene der moslemischen Pakistani, der Sikhs, die von einigen als Moslems angesehen wurden, die Identitäten der Schwarzen aus Kenia und Rhodesien und aus den Homelands, jene verblichene der Schotten und die ewig frische der Iren aus dem Norden - all diese gefährdeten Wesenheiten verwiesen auf das gleiche Phänomen: auf die notwendige Aufrechterhaltung der Identität als der Bedingung einer menschenwürdigen Existenz überhaupt. Das altgriechische Philosophem Erkenne dich selbst des Individuums findet seine Entsprechung in der Identität der Völker - als nationale Identität.

Das fühlte ich jetzt noch deutlicher. Ein paar Schritte weiter trat ein karibischer Körperkünstler auf, ein Tänzer, der die Tragik der leidenschaftlichen Rede etwas auflockerte. Der Pantomime gestikulierte frei rhythmisierend hin und her - und er mimte mehr mit den Augen, als er mit Lippen und Zunge kundtat, so als ob nur der Tanz die Botschaft der Gefühle angemessen ausdrücken könne. Der Tanz? Ausdruck der gesamten Lebensfülle! Er war bei mir verkümmert. Der Valse triste und die Abneigung vor dem Reigen hatten ihn in den Hintergrund gedrängt, obwohl er im Symphonischen stets mitschwang - in der Siebten sogar als Apotheose des Tanzes. Vielfältige Assoziationen auch hier.

Beim dritten Redekünstler wurde ich noch hellhöriger. Es war wohl ein junger Student aus Südafrika, der da sprach. Klarer als der Metaphysiker vom Dach der Welt und Karibikakrobat, dessen Pidginsprache irgendwo an Harry Belafontes Musik erinnerte, aber auch an die Botschaften jener Musik, äußerte sich der Afrikaner in einem gewählten Englisch, das sich wohltuend von dem unüberhörbar penetranten Cockney-Akzent der Londoner abhob. Offensichtlich war er ein später Freund der Weisheit, der hier irgendwo in der Nähe, in Oxford oder in Cambridge, eine gute Erziehung genossen hatte.

Wie einst die Sophisten im Alten Griechenland stand er da in seiner bunt geblümten Galabea und erörterte ethische Fragen. Er sprach über die eigentlichen Werte des Menschen im historischen Kontext, über die Grundlagen der Magna Charta und typisch für Engländer - über Prinzipien und somit über Grundhaltungen, die ich selbst - bei aller Verliebtheit in die Freiheit- nie über Bord werfen konnte. Einige Zöpfe blieben auch mir. Der Redner holte aus, erwähnte Hume, ein Vorbild unseres Philosophen aus Königsberg, den weisen Locke, schließlich Smith und Mill; er warnte vor Hobbes’ Leviathan und verknüpfte den Wohlstand der Nationen mit dem Werteverfall der Jetztzeit, die ohne Anstand und Würde in der Politik gut auszukommen schien. Und dann sprach er - über die britische Aktualität und über die eiserne Kralle der Downing Street hinausgehend - von Diamanten und Goldminen, von der Macht und Ohnmacht des Geldes und - für viele taube Ohren - auch vom System des Apartheid im Burenstaat.

Abschließend würdigte er Nelsons Kampf. Nur sprach er nicht von jener Schlacht bei Trafalgar und von den Taten des großen Admirals; auch er redete nicht von jenem Nelson auf der Kolumne im Herzen der City, sondern er meinte einen anderen - den dunkelhäutigen Nelson in der Einzelzelle auf Robben Island! Er würdigte den Kampf und die Ideale Nelson Mandelas, des Schwarzenführers, dem die Diamantenhändler schon vor vielen Jahren seine Freiheit genommen hatten und ihn gefangen hielten wie eine wilde Bestie aus dem Busch.

Nelson Mandelas Freilassung und Anerkennung ließ noch viele Jahre auf sich warten. Doch sie kam, weil sich der Gang der Freiheitnicht aufhalten lässt, nirgendwo auf der Welt! Und heute steht sein Abbild in lebensgroße Bronze gegossen selbst im konservativen England auf dem Podest!

Der Orator faszinierte. Menschenrechte, Würdeund Freiheit waren Schlüsselbegriffe seiner Ausführungen, Werte, die zur Emanzipation der Menschheit hinführen sollten. Aus der Anonymität des Zuhörerhäufchens heraus, genoss ich die flammende Rede - und war begeistert.

Ja, Nick hatte doch Recht! Was sich hier vor mir ereignete, das war gelebte und erlebte Freiheit! Der Mann durfte weiter reden -und keiner stürzte sich aus den nahen Büschen auf ihn, um ihn am freien Reden zu hindern oder um ihn abzuführen und ihn für unbestimmte Zeit und ohne Urteil in ein dunkles Verlies zu werfen.

Jetzt verstand ich die nachhaltige England-Begeisterung Nicks wieder besser, der den demokratischen Gepflogenheiten meiner väterlichen Ahnen mehr abzugewinnen wusste als ich selbst. In der Tat - das war politische Kultur oder wie die Griechen und Römer es definieren würden: Zivilisation!








Feuer und Flamme - mit Nyula am Kamin





Einiges von dem Gehörten klang noch nach, als ich gegen Abend in eine der südlichen Vorstädte reiste, um dort zu übernachten. Eine Mitarbeiterin der Gefangenenhilfsorganisation hatte mich eingeladen, die Nacht in ihrem Cottage zu verbringen, in einem jener typischen Reihenhäuser mit Kamin, die von den Engländern als Heim und Kastell empfunden werden, allerdings nicht mit ihr, sondern nur bei ihr. Schließlich war ich auf der anderen Seite des Kanals. Und Nyula war immer noch eine Lady.

Wie ich bald darauf erfuhr, hatte sie als Gattin einesFreeman of London schon bessere Tage erlebt. Nachdem ihre erste Verbindung, eine Zweckehe mit einem wohlhabenden Freimaurer schnell in Scherben gesunken war, hatte sie in ihm die große Liebe ihres Lebens gefunden - und diese auch genossen, bis er allzu früh verstarb und sie unerfüllt zurückließ. Ein Schicksal- und eine andere Passion. An seiner Seite standen ihr damals die vornehmsten Kreise offen, bis hin zu Empfängen bei Royals aus Schloss Windsor. Bevor sie vor Bitterkeit ergraut war, musste sie eine begehrenswerte Erscheinung gewesen sein. Und auch jetzt noch wirkte sie anziehend.

Nyula empfing mich großherzig und weltoffen, ohne daran zu erinnern, dass unsere beiden Nationen gerade erst zwei Weltkriege ausgefochten hatten. Nachdem sich mich mit einem alten Klapper-Renault aus der Stadt gefahren hatte, hinaus in einen der noblen Vororte der Metropole, forderte sie mich auf, es mir in ihrem Cottage bequem zu machen und mich heimisch zu fühlen. Ihr Castle war vorerst mein Zuhause. Ich staunte. Scheinbar befürchtete sie nicht, dass ich in der Nacht mit den silbernen Kerzenständern verschwinden würde. Sie legte mir eine Wolldecke bereit. Auf der alten Couch am Kamin sollte ich die Nacht verbringen. Doch was war mit dem wärmenden Feuer?

„Könnten wir vielleicht den Kamin anwerfen?“ fragte ich, nachdem ich eine Weile in die fahle Asche gestarrt hatte. Eine Feuerstelle ohne Feuer?

„Ach, dieser Kamin, der raucht mehr als er brennt. Er wärmt bestenfalls die Seele etwas auf“, seufzte Nyula. „Um ein richtiges Feuer zu entfachen, bräuchten wir gutes Kaminholz. Birke müsste es sein oder Buche. Das aber fehlt uns hier in der Stadt. Draußen auf dem Land, unten in Devon, wo früher unser Häuschen stand, war das kein Problem. Doch nun ist es eins. Wir kriegen nur billiges Nadelholz aus Schweden, und das zu Apothekerpreisen. Da sprühen die Funken und es besteht Brandgefahr. Deshalb verzichtet mancher Engländer auf sein Feuer im Kamin. Der ist eigentlich nur noch Dekoration, wie vieles, was sehr britisch ist. Er gehört einfach zur Lebensart.“

Merkwürdig! Ein kalter Kamin? Wunderte ich mich im Stillen. Würde denn ein genussfreudiger Franzose nur am alten Weinfass festhalten, ohne den feurigen Wein zu trinken? Oder am alten Cognac in der Flasche, nur als Prestigeobjekt, ohne je daran zu nippen? Ein neuer Fall für Voltaire!

Während ich dem Staunen überlassen blieb wie ein Ehrfürchtiger vor der Schöpfung, suchte Nyula dann doch noch einige Scheite zusammen, brachte Zündhölzer und bat mich, das Feuer zu entfachen.

Nichts lieber als das. Darin hatte ich Übung - auch als unfreiwilliger Meister des Feuers. Zwei Manuskripte waren bereits den Flammen übergeben worden und manches Ideelle war verraucht. Also beugte ich mich nieder, entfernte die alte Asche vom Rost, zückte das Taschenmesser mit dem Kreuz, machte ein paar Späne und zündete den Zunder an. Der Zug stimmte. In wenigen Minuten war loderndes Feuer im Kamin.

Feuer machen- das hatte etwas Rituelles und verwies auf eine archaische Struktur, die tief in die Menschenseele hineinreichte und entwicklungsgeschichtlich zurückführte bis in die Anfänge seiner Evolution. Religio? Ja, der Umgang mit dem Feuer war Religion! Zumindest für mich.

Und mit dem Feuer spielen - das hatte etwas Existentielles und den Reiz des Verbotenen. Das Überschreiten des Du darfst nicht stand dahinter: Schon damals in der frühen Kindheit, als das Unkraut angezündet wurde, das Lagerfeuer auf der Wiese, das Feuer im Kachelofen oder im Herd! Natürliches Feuer im Herd erquickte anders als ein glühender Draht - und es leuchtete anders als die zahme Flamme in der Petroleum-Lampe, wenn der Blitz einmal die Leitungen zerstört hatte. Unbewusst war ich früh darum bemüht, selbst ein kleiner Meister des Feuers zu werden, ein Alchemist noch vor der Chemie, der im virtuosen Umgang mit dem Element aus einer Materie eine neue Materie schuf, der- in der Überschreitung der begrenzenden Schranke etwas formte, was über ihn hinausging. Feuer brachte Licht in die Welt, Feuer garte und wärmte. Feuer weckte Erinnerungen - wie der Mythos vom Himmelsfeuer, hundert Assoziationen, Geschichtlein und selbst erlebte Anekdoten, deren köstlichste ich natürlich zum Besten gegen musste.







Wer bin ich? Back to the roots!





Mit den Worten: Ich bin Prometheus, hatte ich unlängst eine junge Französin schockiert, die rätselte, weshalb ich auf der Grillparty so begeistert in der Glut herum stocherte. Und was hat Prometheus mit dem Feuer zu tun - fragte sie konternd zurück. Mit ihrer Replik erschlug sie mich fast. Ich kenn unter der Sonn nichts Erbärmlicheres als euch … Menschen, hätte ich gerne ausgerufen, den antienzyklopädischen Zeitgenossen im Visier, der den alten Mythos verkannte, die neue Mythologie und die neueste Mythopoesie als Arbeit am Mythos! Die offensichtliche Bildungsfeindlichkeit irritierte - und meine Prometheus-Anekdote war nur ein verdichteter Hinweis auf ein gravierendes Zeitproblem. Der Kultur-Schock währte Jahre und wurde später zum geflügelten Wort. Gleichzeitig verdichtete sich der Ausspruch zu einem Bild, in dem ich einmal den Untergang des Abendlandes einzufangen gedachte. Noch oft zitierte ich die Sentenz als Symptom unserer Welt, die den Humanismus zugunsten der Computerisierung geopfert hat. Gesellschaftskritik und Kulturkritik liegen oft dicht beieinander. Nyula lachte. Und das Feuer loderte.

In London rauchte nunmehr ein Schlot mehr als Hinweis auf Menschen an einer Feuerstelle. Die Neandertaler hatten so begonnen. Und in weiten Teilen der Welt saßen die Menschen immer noch um das Feuer, dessen Rauch zu höheren Himmeln aufstieg. Wie drückte es jener Zigeuner aus, als er sich am dampfenden Misthaufen einen Glimmstängel anzünden wollte: Wo Rauch ist, dort muss auch Feuer sein! Zigeuner, die in England Gipsy heißen, liebten das Feuer; nicht nur die Kesselflicker, alle Zigeuner - Deshalb liebte ich die Zigeuner und das Zigeunerwesen. Inzwischen war aus dem Feuerchen ein Feuer geworden. Je mehr es anschwoll, desto heimischer fühlte ich mich in dem gastfreundlichen Castle in der großen, fremden Stadt.

Ob sie etwas Musik auflegen solle, erkundigte sich Nyula, und was? Klassik oder eher etwas meditativ Entspannendes? Ein paar Dutzend Platten waren da, Grieg, Sibelius, Ravel, Berlioz, Tschaikowsky, Dvorak und einiges von den ganz Großen der Komposition, ferner irische Musik, französische Chansons, Brel, Moustaki, Aznavour. Wofür sollte ich mich entscheiden? Für französische Lebensart in englischer Wüste? Für irisches Kneipengefidel mit Getrampel? Ravels vertrauter Bolero war ein Mittelding - zugleich, was meine Gastgeberin aber nicht wissen konnte, individuelle Musik der Verfolgung und der Befreiung zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Der alte Plattenspieler knatterte, dann trommelte es und eine unendliche Melodie kam auf. Nyula hatte mir bereits einen französischen Weinbrand in den Schwenker gegossen, nachdem sie schnell herausgefunden hatte, wie wenig ich mir selbst aus altem irischen Whiskey machte. Sie selbst nahm gleich einen Scotch. Nur einen Tropfen! Den musste sie haben, doch nur einen; und diesen zur Feier des Tages, als einsame Ausnahme, weil ich da war. Sonst, betonte sie mit ernster Mine, trank sie nie daheim … zumindest nicht allein! Never!

Dann steckte sie sich einen Glimmstängel an, nur so, weil das so gut zum Scotch passte; und dann noch einen und noch einen - die Nerven, sagte sie, die unendlichen Leiden, Kummer und Sorgen, Melancholie … und der Stress der Großstadt verlangten danach!

Süchtig war sie nicht. Sie genoss alles nur so, ganz freiwillig, sagte sie. Sie entschied sich zwischen den Zwängen. Auch das war gelebte Freiheit. Nyula war keine dionysische Natur, die einsam feiern konnte. Sie brauchte die Gesellschaft. Das alles und manches über ihr Leben erzählte sie mir so nebenbei, nachdem das Eis gebrochen und sie Vertrauen gefasst hatte.

Das Getrommel wurde zunehmend lauter und die Melodie intensiver. Der oft gehörte Rhythmus beruhigte und lullte mich ein. Während ich ins Feuer starrte, machte sich Nyula in ihrer kleinen Küche daran, einen Dinner für Zwei vorzubereiten. Was es wohl geben würde? Ich war gespannt! Denn der englischen Küche eilte ein Renommee voraus, das durchaus noch gesteigert werden konnte.

Die Scheite knisterten und die Glut des Cognacs glitt mir über die Zunge in die Kehle, auch dort Feuer verbreitend. Und die Gedanken nahmen ihr Kreisen auf, rotierten und entschwirrten über die enge Welt der Cockneys hinaus aufs Land, nach Kent, in die Welt der geschätzten Glimmstängel, dann nach Essex und Sussex, wo nicht nur Hühnerrassen herstammten, sondern auch Rosen, vielblättrige Englische Rosen und ein Teil meiner Ahnen. Ja, ich weiß, woher ich stamme, hatte ich mir oft in den Bart gemurmelt, wenn ich nach Ursprüngen und Wurzeln suchte und, dem aufsteigenden Rauch nachsehend, noch hinzugefügt: ungesättigt gleich der Flamme, glühe und verzehr ich mich. Dissidenten verzehrten sich ebenso wie andere Idealisten und sensible Dichter, vor allem dann, wenn sie selbst dichteten.

Eigentlich war ich nur unweit von jenem Ort in Südengland entfernt, wo einst mein Vorfahr in eine freiere und bessere Welt gestartet sein soll. Back to the roots? Ein sonderbares Gefühl! Oberschwaben und der Schwarzwald bezeichneten die Herkunft der einen Linie - hier auf der Insel war der Ausgangspunkt der anderen. Leichte Nostalgie kam auf, ausgehend von einer Rückbesinnung auf die eigene Identität, die für Menschen genauso wichtig ist wie für Staaten. Back to the roots?

Nyula ahnte nichts von meinen Ahnen, noch von meinem tieferen Sehnen nach Gewissheit. Einen Eisenbahningenieur namens Gibson soll es irgendwann in das Banat verschlagen haben, berichtete man mir schon in der Schulzeit. Ob es stimmte? Andere dieses Namens strandeten im fernen Australien, in Ostdeutschland und in Nordamerika, wo ein halbes Dutzend Ortschaften diese Bezeichnung tragen.


Dinner für Zwei




Nyula hatte noch ein Rendezvous am Abend. Bevor sie sich zu ihrem Treffen aufmachte und in den Club ging oder auch nur in den Pub, ganz genau wollte ich es nicht wissen, stand unser Dinner an. Augenblicke zuvor war die Küche noch kalt. Jetzt aber, kaum zwei Minuten darauf, bimmelte die Mikrowelle begleitet von Nyulas Stimme, die mir einladend zurief:„Dinner is ready, Carl!“

Menu surprise! Nyula kredenzte mir tatsächlich einiges von den Köstlichkeiten, die der englische Küche zu jener sprichwörtlichen Berühmtheit verhalfen: ein Thunfischsandwich als Vorspeise und dann als Krönung insulanischer Kulinaristik- eine aufgewärmte Fleischpastete als Hauptgang, die vorher im Kiosk beim Inder um die Ecke gekauft worden war!

Die Fleischpastete dampfte, und ich verzog die Nase. Es war mir unmöglich, das unappetitlich duftende Ding zu verzehren. Popa-Şapca-Alpträume wurden wach. Der anwidernde Duft der Arpakaschsuppe kam wieder hoch und mit ihm ein altes Ekelgefühl. Nur war der Ekel diesmal anderen Ursprungs. Was tun, ohne unhöflich zu wirken? Das Gericht verschmähen konnte ich ebenso wenig wie es in heroischer Selbstüberwindung hinunterzuwürgen. Not macht erfinderisch! Während Nyula mir für Momente den Rücken zuwandte, um noch etwas aus der Küche zu holen, nahm ich das komische Fleischküchlein im Teigmantel, wickelte es in eine Serviette und verstaute es schleunigst in der Seitentasche des Jacketts voller Zuversicht, es so bald wie möglich in den nächsten Mülleimer werfen zu können. Als Nyula wiederkam und leicht konsterniert vermutete, die Delikatesse sei längst verschlungen, blieb mir nur noch die Flucht in die Heuchelei. Einem modernen Gentleman gleich, der eines sagt und ganz anders handelt, bedankte ich mich artig für das reichhaltige Abendmahl, inständig hoffend mein Minenspiel werde der Scheinheiligkeit folgen.

Doch gerade als ich erleichtert aufatmete, froh darüber, der feinschmeckerischen Heimsuchung und potentiellen Fleischvergiftung entronnen zu sein, sprang ihr kleiner Schoßhund, ein liebenswürdiger, drahtiger Yorkshire-Terrier, zu mir auf den Stuhl hoch und fing an, an meiner Jackentasche herumzuschnuppern. Das Hündchen mit dem merkwürdigen Namen Judge Tim drang ins Verborgene vor und war fast schon dabei, losbellend den Strolch zu entlarven. Nun war ich ertappt - und die Täuschung würde gleich auffliegen?! Peinlich!

Was blieb mir anders üblich, als plötzliches Unwohlsein vorzutäuschend auf die Straße zu stürzen, nach dem widerlichen Ding zu greifen und es mit aller Wucht, ohne mögliche Folgen zu bedenken, einfach über eine Mauer zu werfen, hinein in einen Strauch verblühter Heckenrosen im nachbarlichen Garten. Die edlen Pflanzen hatten das sicher nicht verdient. Doch ich handelte aus Notwehr!

Nur gut, dass ich nicht auch noch etwas von der Soße genommen hatte! Wie hatte schon mein geistiger Gewährsmann Voltaire die englische Küche einst charakterisiert? Die Insulaner hätten hundert Religionen, doch nur eine Sauce! Das war boshaft untertrieben! Inzwischen, nach zwei Jahrhunderten, hatte Nyula sogar zwei davon: eine weiße und eine braune - und dazu noch weißen Toast und braunen. Das alles hätte ich haben können! Nach der lukullischen Eskapade, die nicht sättigender wirkte als das opulente Diner in Paris, atmete ich auf, heilfroh darüber, dass mir weitere endemische Köstlichkeiten erspart blieben.

Nachdem die ahnungslose Nyula gegangen war, kehrte Ruhe ein. Meditative Stille. Zufrieden und mit der Welt versöhnt nippte ich gelegentlich an dem Gläschen Weinbrand, genoss das neu einsetzende Getrommel und starrte lange in die Glut. Endlich war ich allein und bei mir, allerdings in einer fremden Stadt. War ich auch einsam, gar vereinsamt? Oder war das nur ein Topos, ein Archetypus für das Sein als Verlassensein?

Leichte Melancholie kam auf und eine Ambivalenz der Gefühle. Sweet melancholy? Was war zarter als Melancholie - und was war schrecklicher? Was war süßer und was herber? Robert Burton, der Hypochonder, hatte hier an den Ufern der Themse verzweifelt darüber sinniert und mancher Dichter der Elisabethanischen Zeit ebenso - auch Shakespeare, der geniale Christopher Marlowe in seinem Faust und die luziferischen Dichter der Schwarzen Romantik. Was war die Zeit? Vergänglichkeit!

Irgendwann schlief ich halbversöhnt ein. Nur war die Couch recht kurz und hart. Letztendlich verbrachte ich dann doch eine recht unruhige Nacht, garniert mit neuen Alpträumen aus der Gefängniszeit, mit Schreckensbildern aus der Welt der Schlangen und Basilisken. Das Unterbewusstsein reinigte sich auf seine Weise. Als ich frühmorgens unausgeschlafen und gerädert aufwachte, hatte ich eine verzogene Wirbelsäule und ein steifes Genick. Also passte ich in die Landschaft der Griesgrämigen in der City, die allesamt die Werke Schopenhauers verinnerlicht zu haben schienen. Das Leben war Leiden, auch für die Nichtbuddhisten am Ufer der Themse.



Amnesty … an der Kette!? Listen!? Irrungen, Wirrungen und starre Statuten





Nach einem klassischen Frühstück mit jenen ominösen Würstchen, an denen bisher nach kein England-Reisender vorbei kam und deren Geheimrezept noch besser gehütet wird als das einer prickelnden Kokalimonade, begann am frühen Nachmittag der ernsthafte Part der Reise: Gespräche über Menschenschicksale standen an.

Wir trafen uns in der Zentrale der Menschenrechtsorganisation. Mit am Tisch saßen meine Gastgeberin, die ihren Ausgehabend gut überstanden hatte und der Osteuropakoordinator von Amnesty International. Zunächst erörterte ich die Abläufe in Bukarest und Temeschburg, nicht ohne die symbolische Unterstützung des Vereinigten Königreichs über ihre Botschaft in Bukarest ausdrücklich zu würdigen. Mein Englisch war zwar immer noch nicht viel besser als damals in der Mission, als ich union noch wie onion ausgesprochen hatte, doch es reichte aus, um Essenzen zu vermitteln.

Gemeinsam gingen wir den umfangreichen Namenskatalog durch, den ich im Vorfeld der Reise aus dem Gedächtnis erstellt hatte. Die schon von Giordano Bruno praktizierte und kultivierte Mnemotechnik ist ein gutes Mittel, Gehirnaktivitäten zu stimulieren und das Erinnerungsvermögen zu trainieren. In der Zelle, wo mir Bleistift und Papier verweigert worden waren, hatte ich viel Zeit damit verbracht, das mentale Speichern einzuüben. Dabei bildete sich die Fertigkeit aus, über logische Verknüpfungen, so genannte Eselsbrücken, möglichst viele Namen oder Fakten zu memorieren und diese für lange Zeit im Gedächtnis zu verankern. Die erstellte Liste war das greifbare Endprodukt der Methode. Listen!? Mitten im tosenden Holocaust hatten der deutsche Unternehmer Schindler und der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg Listenerstellt, die unzähligen Verfolgten des Nationalsozialismus das Leben retten, Lebenslisten, wo andere Verbrecher in Berlin und Moskau nur an Todeslistenarbeiten!

Hier gedachte ich an Schindler und Wallenberg anzuknüpfen mit einer Liste, die Ähnliches bewirken sollte. So etwa hatte ich mir das bereits in der Zelle ausgemalt und im blinden Glauben an die Moralität des Westens den Verfolgten einiges versprochen im Vertrauen darauf, die demokratische Gesellschaften Westeuropas würden mir dabei behilflich sein, mein Versprechen auch einzulösen. Mit der langen Namenreihe konfrontierte ich nun meine Gesprächspartner und erzählte zu jedem Namen und Fall eine individuelle Geschichte. Um möglichst überzeugend zu berichten, zog ich alle Register meines autodidaktisch angeeigneten Ostblock-Englisch. Von Fall zu Fall verwies ich auf die offizielle Verurteilung und erläuterte die tatsächlichen Hintergründe der Haft einzelner Personen, die vom Regime bewusst kriminalisiert worden waren. Meine Absicht war, die Häftlingshilfeorganisation dazu zu bewegen, möglichst viele der auf der Liste vermerkten Fälle, die aus meiner Sicht eindeutige Opfer darstellten, als politisch Verfolgte anzuerkennen, sie zu adoptieren und ihr Schicksal öffentlich bekannt zu machen. Manch einer der so genannten Republikflüchtlingewar nicht wegen der angestrebten illegalen Grenzüberschreitung verurteilt worden, sondern wegen Beamtenbestechung. Anderen unterstellte man Unterschlagung, um die unbefriedigenden Produktionsergebnisse zu rechtfertigen oder illegale Bereicherung. Anderen, wie dem blonden Bäckersjungen aus der Nachbarschaft, unterstellte man überhaupt nichts mehr - und verurteilte sie nur so: weil es dem Staat so gefiel - jenem Unrechtsstaat, der über seine Schreibtischtäter und Handlager in allen Bereichen der Exekutive das tat, was er wollte.

Einige Pseudoverurteilungen versuchte ich anzusprechen und zu verdeutlichen. Doch meine Argumentation fand kein richtiges Gehör. Zu meiner herben Enttäuschung interessierten von den vielen Namen auf der Liste, die für mich, den Eingeweihten, mehr waren als bloße Namen und Nummern, nur einige besonders markante Fälle. Die Hilfsorganisation sah sich ausformalen Gründen gezwungen, nur eindeutige Opfer aufzugreifen, um einige von ihnen für eine mögliche Adoption vorzusehen. Es waren in der Regel nur Personen, die aus weltanschaulichen und religiösen Gründen offiziell verfolgt wurden, so genannte Gesinnungshäftlinge, Leute wie mein Zellenkumpan Lae, der Baptist! Ein umfassenderes Engagement wurde gleich mit der Begründung abgelehnt, die gezielte Kriminalisierungder anderen Häftlinge auf der Liste könne objektiv nur schwer nachgewiesen werden und sei kaum zu vertreten.

Zunächst reagierte ich verblüfft, dann geschockt und mehr und mehr ungehalten. Aus meiner Sicht war das ein kleiner Skandal. Denn mit dieser äußerst zurückhaltenden Haltung wurde das Mittel der Kriminalisierung endgültig sanktioniert. Ohne locker zu lassen, rollte ich die Problematik noch einmal auf und zog, um den Staatsbetrug auf den Punkt zu bringen, den eigenen Fall als Beispiel heran. Hatte ich, der doch nun physisch hier saß und - munitioniert mit Dokumenten aller Art - berichtete, nicht selbst eine halbjährige Haft hinter mir, die für eine fiktive Anschuldigung ausgesprochen worden war, für ein Vergehen, für einen Verstoß - nur für welchen? Was hatten wir eigentlich getan, was gegen geltende Gesetze verstoßen hätte? Wogegen hatten wir konkret verstoßen? Die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter saßen hilflos da, einsichtig zwar, aber in den Statuten von Amnesty International gefangen. Gefangen! Es klang paradox und war paradox, wenn nicht gar absurd? Stoff für Ionesco? Ich hätte ihm berichten sollen! Amnesty International, die Gefangenen-Hilfsorganisation, lähmte sich selbst und legte sich selbst an die Kette!

So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten! Die Freiheitwar nicht in der Lage, die Gerechtigkeitdurchzusetzen. Obwohl durchschaut, durfte die Lüge weiter wirken. Darin erkannte ich wieder einmal das Versagen des Westens.

War das nicht symptomatisch für den Gesamtzustand der Welt? Und war es auf völkerrechtlicher Ebene bei der UNO viel anders? Galt die Ethik der Völker noch etwas? War es endgültig aus mit den Idealen der Freiheit und Humanität sowie der Moral? Hatte Cioran doch Recht - und das große Heer der Skeptiker und Pessimisten vor ihm? Waren wir, um mit dem Immoralisten Nietzsche zu sprechen, jetzt tatsächlich jenseits von Gut und Böse angekommen?

Allmählich setzte sich der Eindruck fest, diese jungen Engländer, die mir weitaus naiver erschienen als ihre realitätsbezogenen Kollegen in Paris, verstünden die wahren Verhältnisse im Ostblock nicht ganz. Sie wirkten zum Teil überfordert, nicht anders als mancher deutsche Hochschulprofessor, der nur die Einmaligkeit des Nationalsozialismus hervorhob und dabei die Millionen Opfer des Stalinismus vergaß. Zwischen der grauen Theorie im Elfenbeinturm und dem tatsächlich Erlebten bestand immer schon eine riesige Diskrepanz. Das schlechte Gewissen regte sich: „Wir müssen genau hinsehen, wen wir adoptieren! Leider! Wir können nicht jeden als politisch verfolgt aufnehmen, sonst werden wir unglaubwürdig“ wiegelte jetzt auch Nyula ab. Mir, dem noch mittelbar Betroffenen, fiel es schwer, solchen Rechtfertigungen zu folgen. Ging es denn hier um die Imagepflege einer Organisation, um Selbstzweck? Oder sollten Verfolgte zumindest moralisch unterstützt werden? Was machte es aus, wenn ein paar Namen mehr auf der Liste der Entrechteten, Stigmatisierten und freiheitlich Deprivierten auftauchten?

„Es muss doch Mittel und Wege geben, den Gefangenen hinter dem Eisernen Vorhang irgendwie moralisch beizustehen und zu helfen! Viele aus ihren Reihen hoffen auf Amnesty International, genauso so wie sie auf Jimmy Carters Amerika setzen und auf die freien Demokratien des Westens! Ihre Organisation hat sich nun einmal dieser Aufgabe angenommen. Und es gibt keine andere. Deshalb orientiert sich das Hoffen der Verfolgten in eine Richtung, hierher nach London!“ konterte ich vorwurfsvoll, entrüstet über die Tatsache, dass die Auswahl von Menschenschicksalen nicht viel anders gehandhabt wurde als das stock picking an der benachbarten Börse im Financial District.

„Dann müssen Sie eben eine Organisation gründen, die nach anderen Statuten agiert! Sie können sich dann dieser Justiz-Irrtümer annehmen!“ entgegnete mir der junge Beauftragte leicht arrogant. Das war dann doch zuviel. Mir verschlug es die Sprache. Mit einem dicken Kloß im Hals, raffte ich die ausgebreiteten Zettel auf einen Haufen, bedankte mich förmlich für das Gespräch und schlich enttäuscht davon.

Als Nick mir vor einem Jahr im Cismigiu-Park von Amnesty International vorschwärmte und von seiner noblen Absicht, selbst eine Koordinationsgruppe der Hilfsorganisation in Bukarest ins Leben rufen zu wollen, sprach er von Heiligen und von irdischen Engeln. Von der Engstirnigkeit enger Satzungen in Engelandhingegen berichtete er mir damals nichts. Manche Erfahrungen mussten selbst gemacht werden, bevor man sie glaubte.

Gerade im Begriff, das Gebäude für immer zu verlassen, erreichte mich Nyula, die mir hinterher geeilt war, auf der Treppe. So einfach könne ich doch nicht davonlaufen, es gäbe doch noch manches zu besprechen. Auch solle ich noch einen Tag anhängen und noch einmal bei ihr im Cottage übernachten, schlug sie vor. Etwas Menschlichkeit war wieder da. Wie sollte ich regieren? Spontan, ohne an die harte Couch und an die Segnungen der englischen Gastronomie zu denken, die wieder auf mich zukamen, wenn ich zusagen würde? Da mein Rückflug nach Frankfurt aber sowieso erst spät am Folgetag erfolgen sollte, ließ ich mich gern überreden und blieb.



Humor und Galgenhumor





Die äußere Freiheit des Geistes ist der Humor, er ist immer souverän. Ludwig Börne


Diese Entscheidung sollte ich nicht bereuen. Nachdem ich mir nachmittags etwas von der belebten Innenstadt ansehen konnte, vom Regierungsviertel und vom St. James Park unweit der Queen-Residenz, hockten wir uns am Abend wieder vor das Feuer im Kamin. Diesmal nahm ich in einem alten Ohrensessel Platz, während Nyula sich mit einem spartanischen Holzstuhl begnügte. Der Terrier Timm tänzelte herum und schnupperte heute an meinen Socken herum, die wohl mehr nach Appenzeller dufteten als nach dem Pflaster der City. Ein bescheidener Weinbrand stand bereit und einige Toastsandwiches vom Inder, teils mit Schinken, teils mit Gurke belegt. Das beruhigte. Beherzt griff ich zu und aß ein paar Schnitten mit Appetit, heilfroh keine Pastete, keine Pommes frites-Brötchen oder öltriefenden Kabeljau in Zeitungspapierverpackung verzehren zu müssen. Andere Länder, andere Sitten!

Doch die Herzlichkeit stimmte. Nyula, die ich von Anfang an duzen musste, weil es nicht anders ging, schlürfte genüsslich ihren Scotch. Und dies obwohl sie, eine gebürtige Irin von der anderen grünen Insel, wie sie mir bald offenbarte, die Schotten ebenso wenig mochte wie die Waliser, aber alle immer noch lieber hatte als die Engländer. Die arroganten Engländer, die einst die Schotten unterworfen hatten und die Iren, die ihr Volk aushungerten, um es schließlich übers Meer zu treiben und in alle Winde zu zerstreuen, jene Eroberer, die vor, neben und nach der Versklavung der Iren fast die ganze Welt unterjochten - waren in ihren Augen wohl die letzte unter den großen Nationen. Nur in mir, dem bereits verwaschenen Angelsachen von vorgestern, sah sie vorerst eine seltene Ausnahme - und wie ich mit Verblüffung vernahm - allways a gentleman! Wie schön Schmeicheleien klingen, wenn sie ernst gemeint sind! Auch in Nyula wirkte die tragische Geschichte fort - der Glanz und die Gloria Englands, was in ihren Augen nur nackter Imperialismus und zugleich die Leidensgeschichte ihres Volkes war.

„Die Armut führte mich nach England“ gestand sie mir nach ein paar Gläsern Schnaps, als die Verkrampfungen der Seele sich Schluck für Schluck zu lösen begannen. Dann kam die ursprüngliche Gesinnung durch, irische Patriotismus - und mit ihm die zweifache Passion. Deutlich spürte ich etwas von ihrem Unbehagen, fast arm im reichen Grimstead leben zu müssen, statt geborgen zwischen Druiden und Katholiken auf dem noch grüneren Eiland. Sie vermisste ihre Heimat sehr, ihr irisches Umfeld, ihre Großfamilie, die zwischen Seattle und Sydney verstreut lebte. Bruder Cyrill lebte in Dublin und war als Anwalt sehr erfolgreich. Doch eine Rückkehr dorthin schied für sie aus; ihr fehlten dort sowohl das Umfeld wie auch ein Auskommen. Also blieb sie einsam im Greater London und lebte im Grunde im Exil. Waren alle um mich herum Exilierte? Ihr Herz und ihre Gedanken aber blieben Irland, bei ihren Landsleuten, die anders waren und anders fühlten als die Engländer vor der Tür. Es war schmerzvoll, fern der eigentlichen Heimat zu leben. Wehmut und sogar etwas Verbitterung kamen durch, als wir darüber sprachen, wie einzelne Engländer immer noch mit Iren umgingen, getragen von der Arroganz und dem Ungeist der Geschichte. Religiöse Spaltung hielt den Brandherd in Nordirland wach, jenes Fleckchen Erde, das für sie Heimat war; das besetzt war und das, ungeachtet aller europäischen Einigungsversuche, noch besetzt bleiben sollte und im Krieg, im schlimmsten aller Kriege, im Bürgerkrieg. Auch in Nordirland ging es um Menschenrechte, um elementare Bürgerrechte für Iren, die Premier Thatcher nicht wahrhaben wollte - und die gerade jetzt über todbringende Hungerstreiks vieler Gesinnungshäftlinge aus den Reihen der militanten IRA durchgesetzt werden mussten. Das massive Unrecht, von fanatisierten Protestanten geschürt und von der Downing Street gefördert, rüttelte sie auf. Und ich, der ich tief im Osten Europas ähnlich prinzipienlose Abläufe erlebt hatte, fühlte mit ihr und ihrem Protest. Freiheit - galt dieses Prinzip nicht auch für Nordiren und Basken, für Kurden und Palästinenser, für Tschetschenen und für andere hundert Völker, deren Namen kaum einer kennt?

Aber es blieb auch noch Zeit für schönere und angenehmere Themen, für solche, die allgemeines Wohlgefallen auslösten. Also redeten wir über erregende und aufregende Poesie, über irre Dichter und dichtende Iren, über Yeats und Joyce, über einen meiner Lieblingsdichter im Englischen, über Oscar Wilde, der zufällig auch ein Ire war und nun vertrieben und verbannt in Pariser Erde ruhte; und wir streiften Heinrich Bölls Wirken auf der grünen Insel, der er in dem ihr gewidmeten Tagebuch ein deutsches Denkmal gesetzt hatte.

Über die Volksmusik der Iren mit ihren Klagen kamen wir auf Humor Galgenhumor. Als das Gespräch über Lebensart auch den Bereich des Lukullischen tangierte, konnte ich es nicht unterdrücken, sie nach jenem siebengängigen Menu zu fragen, welches angeblich kein Ire gerne verschmäht: Ein Sechser-Pack Bier - und eine Kartoffel! Nyula musste herzhaft lachen. Für Sekunden verflog die Bitterkeit. Doch sie kam wieder. Die fehlende Kartoffel hatte Millionen Opfer gefordert. Der mir attestierte englische Humor war ihr irgendwo noch sympathischer als meine Herkunft. Solange ich diesen behalte, sei noch nichts verloren, meinte sie scherzhaft. Der Humor, vor allem der rabenschwarze Galgenhumor, hilft gerade Menschen und Völkern, die in Ohnmacht leben müssen, ihren Alltag seelisch zu bewältigen. In der Zelle, wo kaum Zeit für Muße oder Späße war, hatte ich diese Erfahrung gemacht; und im weiteren Kreis der Hölle, im großen sozialistischen Gefängnis ebenso. Humor half oft dabei, über die Tristesse hinweg zu kommen, ja selbst beim Bewältigen von Katastrophen. Nach den schweren Überschwemmungen, nach Sintflut in Rumänen und nach dem noch verheerenderen Erbeben wurden hochkomische Witze fabriziert. Das war hier in London nicht anders. Nur waren es hier andere Feindbilder, die mit Wertvorstellungen wie nationale Identität und Heimat kollidierten.

Als ich schließlich von Nyula schied, waren wir fast schon Freunde geworden. Wir telefonierten noch oft miteinander und intensivierten die Beziehung über Jahre - bis ihr Telefon eines Tages nicht mehr klingelte. Vermutlich war sie in letzter Einsamkeit verstorben. Hoffentlich mit dem tröstenden Glas in den Fingern und einem aufwühlenden Bolero im Ohr!

Am nächsten Vormittag nach der Verabschiedung hatte ich noch ausreichend Zeit, um wenigstens etwas vom kulturellen London zu sehen. Schnell lief ich durch die National Gallery, wo alles aushing, was die Malerei seit der Renaissance an Berühmtem hervorgebracht hatte und ging anschließend in das British Museum, das auf meiner Agenda genauso hoch angesiedelt war wie der Louvre. Doch ging ich nicht hin, um den Urtext des Kommunistischen Manifestes zu bestaunen, der dort angeblich gelagert wird, sondern ich widmete mich einem anderen Fossil und studierte kurz eine Sache, mit der ich noch keine Erfahrung hatte: ein riesiges Dinosaurierskelett, das darauf verwies, dass selbst das Größte und Mächtigste dem Zahn der Zeit unterworfen und vergänglich ist. Die Anatomy of Melancholy - auch hier? Die Dinosaurier waren alle längst tot. Nur ihre fernen Verwandten, die Chamäleons und Warane, lebten noch und pflanzten sich munter fort. Inzwischen hatten die großen und die kleinen Drachen aus Madagaskar und von der fernen Osterinsel London bevölkert, die Regierungsgebäude, die Glaspaläste der Banken und die Handelszentren in den Docklands. Und mit ihnen kam auch die neuköpfige Hydra zurück, die bereits Bukarest, die Metropolen an der Isar, an der Seine und sicher auch schon jene an der Spree eingenommen hatte. Und sie kam mächtiger als je zuvor, so als ob dagegen immer noch kein Kraut gewachsen schien. Leicht deprimiert reiste ich ab; überzeugt, von den Briten werde auch in fernerer Zukunft keine große Hilfe zu erwarten sein. Rule, Britannia! rule the waves, Britons never shall be slaves! Wohlan! Nur galt der kategorische Imperativ auch für Völker?

Im Flugzeug über den Wolken, wo auch das Grübeln manchmal grenzenlos ausufert, kam alles wieder hoch wie im Bolero. Der Tiefschlag war noch nicht überwunden. Die Organisation erschien mir im Rückblick wie ein Häufchen Bürokraten, die selbstgefällig eine Alibiveranstaltung inszenieren. Die Amnesty International-Begeisterung Nicks konnte ich jetzt überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Ursprünglicher Idealismus schien in profaner Realpolitik zu verrauschen. Die Bastionen der Freiheit schwanden sichtbar. Die Statue der Freiheit stand woanders. Trotzdem nahm ich mir vor, mit der deutschen Koordinationsgruppe von Amnesty International aus Rehden-Diepholz bei Bremen, die Kontakt zu mir aufgenommen hatten, weiter zusammenzuarbeiten; ahnte aber, dass dies kaum weit führen konnte, wenn die formalen Vorgaben aus London alles einschränkten.

Das militante Eintreten für Freiheitunter den Bedingungen einer Diktatur und in permanenter Auseinandersetzung mit einem repressiven System war nie einfach. Aber es hatte idealistische Ressourcen mobilisiert und dem Individuum bewiesen, wer es wirklich ist und was es aus seinem Innersten heraus zu leisten vermag. Allmählich fühlte ich mich wie ein Handlungsreisender, aus dem ein Handlanger zu werden droht, wie ein Versicherungsvertreter, der, nach rhetorischem Aufwand, keinen Abschluss getätigt hat. Merklich schwand die Lust an dieser Form der fortgeführten Dissidenz im Westen. Gegen eine Klagemauer anrennen, war das nicht hochgradig absurd?

Mit dieser Reise hatte ich das den Verfolgten gegebene Wort gehalten - ich hielt es auch gegenüber der Hilfsorganisation in der kommenden Zeit. Parallel zu meinen künftigen Aktivitäten musste ich jedoch feststellen, dass meine in London formulierten Befürchtungen zutrafen und alle, die sich im Inland und Ausland für die Durchsetzung von Freiheiten und Menschenrechte im Ostblock einsetzten, von Bukarest aus weiterhin systematisch kriminalisiert, stigmatisiert und diffamiert wurden. Langsam zerrieselten meine Vorstellungen von den hehren Idealen in einer Welt der Freiheit wie der Sand zwischen den Fingern am Strand. Mein Kerbholz der Freiheit, das bei der Ankunft in Frankfurt noch so unbefleckt jungfräulich gewesen war, erhielt nach einer ersten, leichten Ritze der Desillusion in München, eine schwere Kerbe. Das Ideal begann zunehmend zu bröckeln.





 


In Berlin. Allein in der Gedenkstätte Plötzensee - Hommage an den deutschen Widerstand gegen die Hitler-Diktatur




Neuzeitliches Requiem mit Trauermusik

Es lebe die Freiheit! Hans Scholl

Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist für seine Überzeugung sein Leben hin zu geben. Henning von Tresckow am 21. Juli 1944

Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen. Claus Schenk Graf von Stauffenberg

Es gibt Orte, wohin man nicht gerne geht, weil einem das eigene schlechte Gewissen im Wege steht; Orte des Grauens, vor denen man zurückschreckt, wenn man sich den Terror vergegenwärtigt, der von ihnen ausging. Vergessen wird dabei, dass es auch Orte sind, wo die Würde des Menschen, der Anstand und die sittliche Haltung am greifbarsten werden, trotz des Schreckens. Ein solcher Ort ist die Gedenkstätte Plötzensee; ein ehemaliges Gestapo-Gefängnis, in welchem in ganz kurzer Zeit nahezu dreitausend Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und die Hitlerdiktatur in menschenverachtender Weise hingerichtet wurden, darunter illustre Charaktere, die heute das Gewissen der Nation verkörpern und das bessere Deutschland repräsentieren.

Dorthin wollte ich alleine gehen. Es wurde ein individueller, ein aufwühlender Gang, denn das eigene Gehirn hatte vieles noch nicht bewältigt. Als ich nach Deutschland kam, kam ich aus einer langen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Sie hatte meinen Werdegang deutlich mitgeprägt. Und ich kam aus einer Widerstandsbewegung gegen ein totalitäres System. Nur bewältigt war noch gar nichts. Dafür waren die historischen Abläufe zu vielschichtig und zu komplex. Mir fehlte die geistige Durchdringung der Gesamtmaterie und noch mancher historische Baustein, um die Abläufe im deutschen Widerstand gegen Hitler bis hin zum Attentat am 20. Juli ganz zu verstehen. Einiges hatte ich mir bereits erarbeitet.

Mit unbestimmtem Grauen betrat ich die Anlage - als ein Eingeweihter in Sachen Menschenvernichtung. Sie hatte etwas von einer Schlachtbank, die an den Großen Terror während der Endtage der Französischen Revolution erinnerte. Die Guillotine, deren Anschaffung Hitler persönlich angeregt hatte, um das systematische Abschlachten von Menschen in industrieller Weise zu beschleunigen, war nicht mehr zu sehen. Sie war entfernt worden, um die Empfindungen der Nachwelt zu schonen. Nur die Haken waren noch da an einem Stahlträger - wie in einer Metzgerei - an denen die edelsten Köpfe der Nation aufgehängt worden waren, beim Kerzenschein und selbst in der Nacht, während draußen Bomben fielen.

Nun stand ich da, nach Jahrzehnten und schaute in einen Raum, in dem es nichts zu sehen gab bis auf wenige Symbole des Schreckens, die zum Nachdenken anregen sollten, erfüllt von Bitterkeit und Grausen. Ich rief die Namen! Und ich rief die Persönlichkeiten zurück aus dem Gedächtnis in die konkrete Anschauung. Nacheinander kamen sie aus der nahen Geschichte hervor - als Handelnde, als Mahnende.

Die Biographien einzelner der Opfer rollten vor mir ab, individuelle Leidensgeschichten, Einzeltragödien mit Namen, deren Wohlklang ich schon im fernen Temeschburg vernommen hatte, ohne Details zu kennen; Namen aus dem Umfeld des Kreisauer Kreises und aus dem militärischen Widerstand gegen Hitler. Während ich starr da stand und stumm ins Leere blickte, drängten sich mir spärliche Bilder auf, verschwommene, vom Gehirn künstlich zusammengefügte Szenen aus dem Leben jener Charaktere, die hier hingemordet worden waren, nachdem sie ein perverses Polittribunal unter Rechtsbeugung im Schnellverfahren zum Tode verurteilt hatte.

Berthold Graf von Stauffenberg war in diesem Hinrichtungsschuppen würdelos erhängt worden; und mit ihm Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder, nachdem der so genannte Volksgerichtshof ihnen einen schnellen Prozess gemacht und sie abgeurteilt hatte.

Ein kurzer Prozess? Leider wusste ich, was das war – denn ich hatte selbst einen erleben müssen, mit glücklicherem Ausgang! Kein echter Vergleich - aber eine Ahnung davon.

Claus Schenk von Stauffenberg war bereits am 20. Juli - nach dem Scheitern des Attentats auf den Diktator Hitler - von einem Erschießungskommando hier in Berlin hingerichtet worden.

Bevor Claus von Stauffenberg im Kugelhagel fiel, hatte der Patriot in einem letzten Appell den Wert gewürdigt, dem er sein Leben geopfert hatte, indem er ausrief: Es lebe das geheiligte Deutschland!

Mit ihm starben auf die gleiche Weise seine Mitverschwörer Albrecht Mertz von Quirnheim, Friedrich Olbricht und Hans-Bernd Haeften. Viele weitere Widerstandskämpfer folgten

Jetzt stand ich an der Stelle, wo Ströme Blut geflossen waren - so lange, bis die Guillotine versagte. Danach wurde nur noch gehängt, makaber im Schein der Fackel. Im Licht der Bombenfeuer und im Kampfgetöse des Zusammenbruchs waren die aufrichtigsten und wahrhaftigsten eines Volkes einfach aufgeknüpft worden wie Strolche und Tagediebe im rechtsfreien Raum!

Viele Unbeteiligte ahnten nichts davon. Viele Informierte blickten weg. Manche sahen zu. Und manche agierten, blind, fanatisiert oder aus reiner Bosheit heraus. Dass sich immer Menschen fanden, die bereit waren, andere Menschen umzubringen, einfach hinzumorden … Der Mensch - die Krone der Schöpfung? Und das im Volk der Dichter und Denker? Wie dünn war das kulturelle Substrat wirklich? Wann wurde der Mensch zur Bestie? Auch darüber hatte ich bis zum Exzess, bis zur Grenze der Verzweiflung räsoniert, ohne eine Antwort zu finden.

In meiner Rückschau sah ich Helmuth James Graf von Moltke, den aufgeklärten Urgroßneffen des preußischen Feldherrn, der auf seinem Gut in Schlesien den Kreisauer Kreis begründet und am Leben gehalten hatte. Sein Tun war auf ein demokratisches Deutschland nach Hitler gerichtet. Und er handelte, vom Gewissen getrieben. An einem dieser Haken vor mir musste er unwürdig sterben.

Dann sah ichAdam von Trott zu Solz, den Spross einer alten Diplomatenfamilie, der bereits 1939 im Widerstand agierte und als Diplomat in London und New York um Kontakte zu den dortigen Regierungen bemüht war, aber überhört wurde. Weder in England, das, wie man heute weiß, damals vor der Münchner Konferenz den Krieg noch hätte verhindern können, wenn es Hitler mit einer Kriegsandrohung Einhalt geboten hätte, noch in Amerika war er ernst genommen worden. Vielleicht, weil er sehr früh opponierte. Aber verhöhnt wurde er und zynisch abgewiesen, als die Logik des Krieges ihrer Autodynamik verfiel. Also flog er auf und musste hängen, weil das Unrechtssystem der Braunen Diktatur es so befahl.

Und ich sah Peter Graf Yorck von Wartenburg und Hans von Dohnanyi, zwei andere konservative Intellektuelle, Widerstandskämpfer frühester Stunde, die sterben mussten, damit ein kranker Diktator weiterleben und nochmals Millionen Menschen in Endkampf und Tod schicken konnte.

Weiter sah ich vor meinem geistige Auge Carl Friedrich Goerdeler, den aufrechten konservativen Politiker und Widerständler, gedemütigt vor dem Volksgericht stehen, einem schreienden Richter Freisler ausgeliefert, der mit der gleichen Dämonie schrie wie Hitler geiferte.

Goerdeler sollte nach Hitlers Sturz der künftige Reichskanzler sein. Da, wo ich jetzt stand, wurde er enthauptet, nachdem seine schon angefertigten Minister-Listen den Schlächtern weitere Opfer ans Messer geliefert hatten. Wie gut, dass unsere Liste nicht gefunden worden war. Listen, das sind oft Todeslisten ….

Die Reihe der aufrechten Charaktere, die nur an dieser Stelle von Verbrechern hingemordet wurden, fern von Recht und Gesetz, fern von Gnade, wollte kein Ende nehmen. Es gab doch aufrechte Deutsche, die, ihrem Gewissen folgend, in schwerer Zeit das Richtige taten. Manche von Anfang an; andere wie die Hitlerattentäter Henning von Tresckow und Claus von Stauffenberg erst später, nachdem die Menschheitsverbrechen, die aus der Logik des Krieges resultieren, die verbrecherischen Führerbefehle aus dem Bunker und vor allem der befohlene Mord an Frauen und Kindern unter keinen Umständen zu rechtfertigen waren. Aber sie handelten aus höherer Einsicht und von wahrer Verantwortung fürVolk und Vaterland getrieben! Die Tat Stauffenbergs hatte mich immer schon beschäftigt; schon damals, als unser kleiner Widerstandskreis sich formierte, in den Tagen der Untersuchungshaft und in den langen Nächten des Gefängnisaufenthalts.

Jetzt war ich hier am Ufer der Spree in Plötzensee, am Ort des Geschehens. Hier war Stunden nach dem Attentat die Operation Walküreangelaufen, der Auftakt zu einem Staatsstreich, der ein demokratisches und freies Deutschland begründen sollte. Eine Reihe ungünstiger Zufälle und befehlsblinde Offiziere - wie der von Hitler zum Generalmajor beförderte Ernst Otto Remer, dem ich bald darauf unter anderen Umständen begegnete - führten zum Scheitern des letzten großen Aufbegehrens für Freiheit und Gerechtigkeit. Während Revisionisten wie Remer, der die Widerstandskämpfer um Graf von Stauffenberg öffentlich als Vaterlandsverräter bezeichnet hatte, Hetze und Hass verbreitend weiterleben durften und bis ins hohe Alter hin der weltanschaulichen Haltung ihrer persönlichen Glanzzeit treu blieben, mussten die eigentlichen Widerstandskämpfer und mit ihnen ungezählte andere aufrichtige Deutsche, die an dem politischen Umsturz mitgewirkt hatten, gleich ihr Leben lassen, während ihre Familien in Sippenhaft genommen und über lange Jahre geschnitten und diskriminiert wurden. War das gerecht?

Nach Remers Putschvereitelung forderten die kommenden Monate des fortgesetzten Krieges an allen Fronten mehr deutsche Opfer als die Kriegsjahre seit dem Ausbruch.

Etwas von dieser schier unbegreiflichen Tragik rollte vor meinem inneren Auge ab, nach Szenen, die ich aus Büchern kannte, aus Dokumentationen und vom Bildschirm. Viel Mut war bewiesen worden in einem Aufstand des Gewissens gegen massives Unrecht: Klar und deutlich sah ich den aufrechten Gang und die Haltung eines Ehrenmannes in Trott zu Solz’ entschlossener Selbstbehauptung gegenüber dem Scheusal Freisler, die Worte aussprechend, die alles bezeichneten, das Menschheitsgrauen und den Abgrund: Die vielen Morde!

Morde? Ja, Morde!

Und ich sah, wie der einst ritterliche Erwin von Witzleben inzwischen im Gestapo-Verhör gebrochen von derselben Bestie in der Robe eines pervertierten Volksgerichtes niedergeschrieen wurde. Justitia verdeckte ihr zweites Auge, während Libertas schon auf dem Schafott lag in einer großen Lache Blut.

Das Bildnis Dietrich Bonhoeffers einsam in der Zelle sitzend, drängte sich mir auf, ein Christ vor Gott, in Gebete, in Verse vertieft, Zeilen eines geistigen Vermächtnisses aufsetzend, den Blick voller Zuversicht zum Himmel erhoben.

Miserere domine!

Und dann hörte ich erneut, klar wie die Posaunen von Jericho, die leitmotivische Mahnung des Claus von Stauffenberg: Es lebe das geheiligte Deutschland!

An diesem Ort verblutete das andere Deutschland; seine Edelsten und Besten ließen hier ihr Leben im bewussten Opfergang für das gesamte deutsche Volk, um ihm, dem geopferten Phönix, nach dem Zusammenbruch eine Reinwaschung zu ermöglichen von den Menschheitsverbrechen, in die es der dämonische Diktator Hitler gestürzt hatte - und ein österliches Wiederauferstehen.

Doch war Stauffenbergs Tat repräsentativ für den deutschen Widerstand gegen Hitler kein letztes müdes Aufbäumen kurz vor dem Untergang, als das Gewissen gegen das maßlose Unrecht und Leid aufbegehrte, sondern eine bewusste Gegnerschaft, ein luzider Widerstand gegen ein totalitäres System, der von frühester Stunde an da war und konsequent durchgehalten wurde - bis in den Tod. Es entspricht nicht der historischen Wahrheit, wie vor allem im Osten Europas immer wieder behauptet worden war, das gesamte deutsche Volk hätte geschlossen hinter Hitler gestanden, es hätte seine Aggressionspolitik mitgetragen, sein Hegemoniestreben, seinen Imperialismus; und es hätte seine Verbrechen gedeckt.

Richtig ist, dass es aus dem deutschen Volk heraus einen höchst beachtlichen Widerstand gegen Hitler gab - und dies von Anfang an aus Prinzip, lange noch bevor die schlimmen Wahrheiten bekannt wurden.

Wie vom Teufel persönlich beschützt, überlebte der Führer vierzig Anschläge! Eine makabre Groteske des Zufalls, eine Undenkbarkeit! Und Ceauşescu, dem wir kleine Dissidenten nichts entgegen zu setzen hatten, was mit der Operation Walküre vergleichbar gewesen wäre? Keinen!

Doch vom systematischen Kampf gegen Hitler wusste selbst ich, der historisch interessierte Europäer, der westliche Medien auswertete, wenn sie erreichbar waren, im fernen Banat fast nichts.

Erst späte westliche Quellen und die intensive Beschäftigung mit der Materie über Jahre erschlossen mir die volle Dimension des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, der von allen Teilen der Bevölkerung getragen wurde, vom einfachen Mann aus den Volk wie Georg Elser im Münchner Bierkeller bis in die Spitzen der Wehrmacht zu Persönlichkeiten wie General Ludwig Beck, dem Gehirn des versuchten Staatsstreichs vom 20. Juli.

General Beck durchschaute die kriminellen Machenschaften Hitlers schon sehr früh und setzte seit 1938, also noch vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei, alles daran, den Widerstand gegen Hitler zu fördern, um den Diktator von der Macht zu entfernen. Die Generalität unterstützte ihn - nur England zögerte, als um Mitwirkung ersucht wurde.

Wenn wir euch gegenüber so aufrichtig gewesen wären wir ihr im Gespräch mit uns, dann hätten Hitlers imperialistische Expansion, der Zweite Weltkrieg und mit ihm 55 Millionen Opfer vermieden werden können, bekennen informierte Briten heute offenherzig. Sie haben ihre moralischen Hausaufgaben inzwischen fast erledigt und einiges zur Vergangenheitsbewältigung beigetragen. Auf andere kommt dieser Komplex noch zu - auch auf die Rumänen!

An dieser matten Stelle in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin starben für ihr Vaterland - aus ethisch-religiösen Überzeugungen und tiefer protestantischer Gesinnung heraus - innerhalb von Monaten fast dreitausend Menschen. Unter den Opfern waren herausragende Repräsentanten der militärischen Elite: Erwin von Witzleben und Karl Heinrich von Stülpnagel. Sie opferten ihr Leben für höhere Werte, für Gerechtigkeit, politische Freiheit und Vaterlandsliebe.

Erwin von Witzleben war als Generalfeldmarschall der ranghöchste Soldat, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde, nachdem sie auch ihn, den General, der noch vor Jahren als erster jene verhängnisvolle Vereidigung der Wehrmacht auf den Führer durchgeführt hatte, öffentlich degradiert, vor den Volksgerichtshof gezerrt und in einem schäbigen Schauprozess, ohne Hosenträger der Lächerlichkeit preisgegeben, entwürdigt, beleidigt und gedemütigt hatten.

Erwin von Witzleben, dessen Stammbaum bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, ging bereits 1934 auf Distanz zu Hitler. Die Ermordung Ernst Röhms auf persönlichen Befehl Hitlers, wobei Teile der Wehrmacht mit involviert und somit instrumentalisiert worden waren, sowie die ebenfalls von Hitler angeordneten und öffentlich im Reichstag verteidigten Ermordungen der Generale von Schleicher und von Bredow bei krasser Hinwegsetzung über die geltenden Gesetze hatten ausgereicht, diese Haltung, die er mit General Beck, General von Stülpnagel, mit Henning von Tresckow und anderen oppositionellen Militärs teilte, herbeizuführen.

Erwin von Witzlebens Plan, den Usurpator Hitler bereits 1938, also zu einem Zeitpunkt von der Macht zu entfernen, als Europa noch nicht an allen Ecken brannte, scheiterte an einem dummen Zufall der Geschichte - an der Beschwichtigungspolitik der Engländer, am Appeasement Chaimberlains und dem verhängnisvollen Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei dem Diktator auslieferte und ihn mit diesem - so genannten diplomatischen - Erfolg nach innen hin stärkte; der Opposition hingegen jeden Wind aus den Segeln nahm. General Halder und von Witzleben konnten bei entsprechender politischer Kulisse ihren Plan, Hitler verhaften zu lassen nicht durchsetzen. Die späteren Blitzkriegerfolge in Polen und Frankreich erzielten den gleichen Effekt und zementierten noch den Mythos der Unfehlbarkeit.

Auch der gemeinsame Plan General von Stülpnagels, damals Oberkommandierender der Wehrmacht in Frankreich und von Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der die Abwehrmaßnahmen einer drohenden Invasion am Kanal koordinierte, Hitler zu einer Besichtigung der Wehranlagen nach Westfrankreich zu locken, um ihn dort durch loyale Truppen der Wehrmacht verhaften zu lassen, scheiterte an einem dummen Zufall. Hitler, der bis dahin immer wieder Gründe finden konnte, nicht nach Frankreich zu reisen, blieb endgültig fern, nachdem eine nach England gelenkte V 1versehentlich im Abwehrgebiet einschlug.

Nach dem gescheiterten Staatsstreich von 20. Juli nahmen sich General von Beck, Generalfeldmarschall Rommel, Henning von Tresckow und andere Mitverschwörer selbst das Leben, nicht zuletzt, um keine anderen Mitwisser in drohenden Verhören zu belasten. Heinrich Karl von Stülpnagel richtete seine Pistole an die Schläfe und schoss sich durch den Kopf. Er überlebte schwer verwundet - und wurde wahrscheinlich noch von der Gestapo gefoltert bevor er in dieser Halle an diesem Haken wie ein Strauchdieb erhängt wurde.

Wie er starb hier, wo meine Füße zitterten, der andere aufrechte Soldat, der nach einem Umsturz die Führung der Wehrmacht übernommen hätte: Erwin von Witzleben. Wie viel menschliche Größe war hier verrauscht, hier vor mir?

Wie konnte ich alle würdigen und die Erinnerung an ihre altruistischen Taten wach halten? Und das große Aufbegehren jedes einzelnen Opponenten, jedes offenen Regimekritikers ins rechte Licht rücken? Die Taten von Tausenden, die gegen das Unrecht aufstanden und ihr Leben hingaben, um es zu beseitigen?

Wo war jetzt die heitere Gelassenheit eines Dietrich Bonhoeffer, der mit Gottvertrauen zuversichtlich in den Tod ging, in der Hoffnung auf das wahre Leben? Tragische Betroffenheit überkam mich - und ein spätes Schaudern vor der Dämonie des Bösen, auf die ich keine Antwort fand.

Wie viele einfältige Leute hatte ich über das Böse plaudern hören, philosophisch abstrakt und ironisch wie Mephisto in Faust. Das Böse der Geschichte war echt und immer noch real. Gleichzeitig spürte ich aber auch etwas von der Macht des Ethos, das über Jahre aufrechterhalten und von ganz unterschiedlichren Charakteren vorgelebt wurde.

An solchen Taten verblasste das eigene Tun. Doch die Botschaft der Geschichte ist eindeutig - der Mensch muss in jeder Situation am Humanum festhalten und alles menschenmögliche tun, um es zu beschützen.

Die Würde des Menschen, Freiheit und Gerechtigkeitsind Grundwerte, die über allem positiven Recht angesiedelt sein müssen - auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Die Verfassung der Bundesrepublik ist eine nationale Antwort darauf - die Charta der Vereinten Nationen die Antwort der Völkergemeinschaft.

Wir hatten auch einiges erlebt in unserer Auseinandersetzung mit dem repressiven System einer Diktatur. Doch was waren unsere Erlebnisse gemessen an der Tragik, die an dieser Stelle kulminierte und im Vergleich mit dem Grauen in den Konzentrationslagern mit dem millionenfachen Tod, Leid und Schrecken, der sich im Anonymen und Namenlosen vollzog?

Das Böse hatte wieder einmal über das Gute und Gerechte triumphiert. Und das Feige über Mut und Tapferkeit! Die gesamte Weltordnung schien für alle Zeiten erschüttert. Wie schwer war es doch, in kritischer Zeit aufrecht zu gehen?

Vor dem schweren Gang an den Unort hatte ich mir eine Liste besorgt - schon wieder eine Liste -mit den Namen der Beteiligten des nationalen Aufstandes vom 20. Juli 1944, die für die Sache der Freiheit ihr Leben hingegeben hatten. Darunter waren viele illustre Persönlichkeiten bis hin zu legendären Gestalten wie Feldmarschall Erwin Rommel.

Jede von ihnen wirkte als Vorbild. Und jede von ihnen verdient eine würdige Auseinandersetzung. Denn hinter jedem individuellen Einsatz fürFreiheit und Demokratie bei Preisgabe des eigenen Lebens steht eine schwere Gewissensentscheidung, ein Golgotha-Erlebnis, zu dem in schwerer Zeit nur die wenigsten Menschen fähig waren.

Noch einmal sah ich zu den Haken hin und erkannte dort die Gnade meines Schicksals durch die späte Geburt. Wäre das Baumeln dort am Haken mein Los gewesen, wenn ich einige Jahrzehnte früher gelebt hätte? Wie hätte ich mich entschieden? Hätten mein Patriotismus und mein Ethos ausgereicht, um dort zu hängen?

Berechtigte Zweifel kamen auf … Wir hatten es einfacher! Wir wussten, wo wir zu stehen hatten und wo wir standen! Dafür musste ich dankbar sein. Die Zweifel an der eigenen Festigkeit wurden umso deutlicher, je mehr ich über die innere Entscheidungssituation der deutschen Widerständler gegen Hitler nachdachte. An ihrer Entschlossenheit verblasste die meine. Als ich ging, ging ich in tiefer Betroffenheit, doch hadernd über den Lauf der Geschichte.






Der Feuervogel - kathartisches Intermezzo am schönen Ort





Nach dem erschütternden Erlebnis, dessen Nachhall die Seele mehr aufwühlte als sie nach kathartischer Reinigung in ruhende Apathie, ja Ataraxie zu versetzen, fuhr ich zu meinem Aufenthaltsort nach Zehlendorf zurück, um in mich zu gehen und auszuruhen, ohne rechte Lust, die Großstadt zu erleben.

Nachmittags ging ich zu Fuß zur Krummen Lanke, an jenen kleinen Badesee, mit dessen Namen ich keine Gräuel oder Schandtaten assoziierte. Das Wasser war klar und tief. Und das Umfeld war still wie an einem entlegenen Hochgebirgssee. Für Augenblicke war ich in meinem Element. Doch dann kreisten sie wieder, die unseligen Gedanken: Plötzensee! … Wannsee! Idylle!?

Schöne Orte, die zu Synonymen für Terror geworden waren! Zu Entsprechungen für Weltengrauen, für Horror über die Zeiten hinweg!

Den Zusammenfall der Gegensätze - die coincidentia oppositorum - Hier wurde das Unverstellbare konkret, das Phänomen leibhaftig. Der Locus war ein Locus terribilis geworden, er hatte sich gewandelt und verwandelt in einer makabren Metamorphose der Dinge, zum Unort, der hinaus strahlte und immer ein grausiges Frösteln wachrief, wenn man ihn nannte.

Seen sind tief wie die Verborgenheit des abgrundtiefen Bösen in der Seele des Menschen.

Wozu das späte Morden, als alles schon verloren war? Wozu die alte Nibelungentreue der Vielen im verzweifelten Endkampf, wo doch der Endsieg weniger war als eine Illusion? Wozu das unendliche Leid der Unzähligen? Ihr aussichtsloses Opfer? Ihr sinnloser Tod? Wo war die Sinnstruktur der Welt? Gab es noch einen Sinn?

Zurück blieb das Leid. Nur Fragen kamen noch auf, keine Antworten. Ein Philosoph soll fragen wie ein Kind, denn jedes Erkenntnisstreben, jede Suche nach Wahrheit beginnt mit naivem Fragen Doch ein Historiker sollte auch antworten, sinnvoll antworten. Wie war das Unbegreifbare zu erklären?

Am Abend sollte ich ins Kongreßzentrum; in jenes neu errichtete Monstergebäude, über dessen Äußeres man verschiedene Meinungen haben kann, dass nebenbei auch ein Tummelplatz war, ein Ort der Massenbelustigung im Namen der Kultur. Der Komplex erinnerte mich in seiner aufgesetzten Modernität irgendwie an das Center Pompidou in Paris, welches ich ebenfalls mit verblüfftem Staunen erlebt hatte, ohne mich darin besonders wohl zufühlen. Fast lustlos ging ich die Treppen hoch in den Mammutsaal und ließ mich dort müde in einen dicken Polstersessel fallen.

Der Feuervogel stand auf dem Programm. Stravinski! Eine märchenhafte Gaukelei um einen alten Mythos, der irgendwo zum Tagesablauf zu passen schien - Phönix aus der Asche! Eine Fabel? Ein Motiv!? Ein Zufall wie die Koinzidenz?

Feuer und Asche! Mein Motiv - unser aller Motiv? Ein gutes Gleichnis auch für das neue Deutschland, von dem die meisten exekutierten Widerständler geträumt hatten?

Konnte ganz Deutschland wieder aus den Ruinen auferstehen und in einer eigenen Renaissance tradierter Werte ganzer Dichter- und Denkergenerationen erneut zu einem besseren Deutschland werden?

Was war aus den alten Nazirichtern geworden, die grobes Unrecht begingen, indem sie - in Berufung auf geltendes Recht das eigentliche Recht - beugten, obwohl ihnen die Naturrechtswidrigkeit ihres Tuns bewusst war?

Aufrechte Juristen hatten dem Karrieresprung widerstanden! Sie waren nicht in die NSDAP eingetreten! Und sie hatten ihr rechtliches Fachwissen eingesetzt, um Verfolgten zu helfen.

Dafür waren sie jetzt tot!

Und die anderen, die mit den Wölfen heulten, machten auch im neuen Deutschland Karriere, auch unter Hammer und Sichel! Und sie lebten immer noch, auch ohne Gewissen -als Wendehälse, als Chamäleons, als Farbenwechsler in allen Farben des Regenbogens!

Das Leben musste weitergehen, auch ohne Moral! Auch für die Schuldbeladenen, für Schreibtischtäter, auch ohne Sühne! - Im Osten Bert Brechts und Johannes Robert Bechers, wo die Ruinen zum Dauerdenkmal wurdenund wo ein Neues Deutschland bald nur noch am Kiosk gekauft werden konnte, ebenso wie im Goldenen Westen, wo zumindest einige Fakten aufgearbeitet wurden.

Grazile Tänzerinnen huschten über die ferne Bühne wie das entrückte Geschehen der verflossenen Geschichte. Russische und kubanische Tänzerinnen waren dabei, während andere Artisten in Afghanistan und Angola aufspielten - Kulturimperialismus und Entwicklungshilfe mit Kanonen!

Ballet war gerade nicht mein Fall. Die Müdigkeit übermannte mich. Kurz vor dem Einschlafen nutzte ich die Pause, um zu gehen, ohne den krönenden Pas des deux gesehen zu haben.




Kreuzberger Krawalle - oder: Macht kaputt, was euch kaputt macht!





In der Nacht schlief ich tief und fest wie nach einer überstandenen akademischen Prüfung. Am nächsten Morgen stand ich erfrischt auf und tat das, was die meisten Menschen sonst auch tun; ich wendete mein Haupt, verdrängte die jüngsten Impressionen des Schreckens und richtete meinen Blick auf angenehmere Dinge. Lebte nicht Gerhard in Berlin, mein alter Literaturkumpan? Um es herauszufinden, konsultierte ich das damals noch ausliegende Telefonbuch in einer Fernsprechzelle. In der Tat fand ich einen Eintrag, stellte den Kontakt her und machte mich auf die Suche nach einer vertrauten Person aus der Vergangenheit, die ich irgendwo im Großstadtdschungel vermutete. Mit etwas Mühe fand ich ihn in Kreuzberg, in dem multikulturellen Viertel, wo gerade ein kleinerer Bürgerkrieg tobte. Brixton war auch hier. Nur rebellierten nicht Türken gegen Deutsche, sondern Autonome gegen den Rest der Welt.

In Namen der uneingeschränkten Freiheit der Zerstörung und des Chaos wüteten Linksextremisten aller Couleur - nicht wie früher als der Schah kam - gegen totalitäre Verhältnisse und gegen den US-Imperialismus in Vietnam, sondern gegen Recht und Ordnung in einer parlamentarischen Demokratie. Der alte Slogan Macht kaputt, was euch kaputt macht, war wieder salonfähig geworden. Pflastersteine flogen durch die Luft. Kreuzberg, das war eine Welt für sich im westlichen Berlin, das auch ganz anders war als alle anderen Städte der Bundesrepublik Deutschland. Mein ehemaliger Nachbar, der zeitkritische Poet, weilte, wie mir schien, nicht zufällig am Ort des Geschehens, sondern - wie die rasenden Reporter von einst, weil dort am meisten los war, weil das Herz Berlins damals wohl in Kreuzberg schlug. In der höheren Etage eines sterilen Plattenbaus, der nicht freundlicher aussah als die vielen der gleichen Sorte in Ostberlin, hatte er einen Ausguck eingerichtet und beobachtete die Szenerie aus der Perspektive des geistig involvierten Voyeurs, der zusieht wie ein Kriegsberichterstatter, ohne selbst Steine in die Luft zu werfen, wohl aus der Einsicht heraus, dass diese durchaus auch auf dem Schädel eines Staatsbediensteten niedergehen konnten.

Es war die Zeit, als die Grünen sich bundesweit zur Partei zu formieren begannen; die Zeit, als künftige Pazifisten und Würdenträger der Bundesrepublik bestimmte Wertvorstellungen und Prinzipien noch auf den Barrikaden verteidigten!

„Was machst duhier in Westberlin?“ wollte Gerhard verblüfft wissen.

„Zufällig genieße ich hier etwas von der sprichwörtlichen Berliner Luft und den Himmel über dem freien Teil der Stadt!“ beantwortete ich die provozierende Frage sarkastisch mit dem Hintergedanken, eine womöglich noch bestehende Überheblichkeit von Anfang an abzuwürgen.

„Offiziell komme ich als Teilnehmer eines Bildungsprogramms nach Berlin, das wohl veranstaltet und finanziert wird, um das politische Bewusstsein der Bevölkerung zu stärken. Vielleicht wollen die Organisatoren im fernen Bonn so auf das Schicksal einer geschundenen Stadt aufmerksam machen; und auch uns Neubürger mit den Auswirkungen der Teilung des Vaterlandes konfrontieren.“

Damit gab sich der auch sonst recht joviale Poet vorerst zufrieden. Da ich nun einmal da war, bot sich ihm die Möglichkeit, in die Rolle eines Cicerone zu schlüpfen, um mir Dinge von Berlin zu zeigen, die auf keiner Agenda standen. Sightseeing war angesagt - wie in München, Paris und London. Nur war Berlin Berlin - und Gerhard wollte ja immer schon nach Berlin, weil er nicht in die Bundesrepublik wollte, aber auch nicht in das Arbeiter- und Bauernparadies des Bert Brecht.



Gesichter der Freiheit - Ein Blick über die Mauer in die Todeszone




Zusammen ging es an den Kurfürstendamm, an die Schlagader Berlins, zum Pflichtprogramm in die Gedächtniskirche. Sie ermahnte äußerlich alle diejenigen, die wohl nie den Weg nach Plötzensee finden würden, als dauernder Pfahl im Fleisch. Weitere Sehenswürdigkeiten der deutschen Metropole wie der museal erscheinende Reichstag oder die Siegessäule konnten nur im Vorbeigehen gestreift werden. Danach folgte der für mich obligatorische, ja höchst symbolträchtige Gang zur Mauer. Auf diesen Moment hatte ich lange hingearbeitet. Wenn es einen modernen Ausdruck des Schreckens gab, dann war es diese nahezu unüberwindbare Mauer mit dem Todesstreifen, dieser antiimperialistische Schutzwall, der dieFreiheit begrenzte und Leben beendete.

Da die Mauer überall war, musste nicht lange gesucht werden. Unweit des Brandenburger Tores bestiegen wir beide eine der dort errichteten Aussichtsplattformen und blickten vom Turm aus in die Deutsche Demokratische Republik - und wir sahen erstmals von außen aus hinein in den unfreien Osten des Landes, in das bessere und neue Deutschland, das demokratisch zu sein vorgab, das sich aber selbstheuchlerisch hinter einen so genannten antifaschistischen Schutzwall verschanzte musste, weil im die Bürger sonst davonliefen! Ein uns bekanntes Phänomen! Wir blickten über den Eisernen Vorhang hinaus und in ein großes Gefängnis hinein, das sich um den halben Erdball zog und bis nach Wladiwostok reichte.

Einen Teil davon, den Machtbereich des Diktatorenehepaars Ceauşescu, in dem wir zwei Jahrzehnte lang unfreiwillig ausharren mussten, hatten wir beide erlebt, doch höchst unterschiedlich. Wir starrten über die Mauer, über Sperrzäune, Stacheldraht und Selbstschussanlagen hinweg hinter den imaginären Eisernen Vorhang, tief in den Gulag hinein, der nur ein Steinwurf entfernt war. Der Zynismus einer Weltanschauung war unverkennbar.

Was wohl in Gerhards Kopf vorging? Im Kopf eines Dichters, der noch unlängst ein Weltverbesserer sein wollte? Schon früher war er in die bessere Welt eingetaucht und hatte die andere Seite als Gaststudent erlebt. Meine Sehnsucht, Ostberlin zu erkunden, hielt sich seit je her in Grenzen. Dafür war ich heilfroh, inzwischen auf der richtigen Seite stehen zu dürfen, um von der freiheitlichen Perspektive aus rundum zu sehen und die ganze Welt betrachten zu dürfen.

Vor unseren Augen jenseits der Mauer entfaltete sich ein Alptraum in einer Welt der Heuchelei, die von Emporkömmlingen aus der Arbeiterschaft nach diktatorischen Richtlinien verwaltet wurde, von Leuten wie Honecker, Stoph, Mielke, Krenz und dem späteren freien SchriftstellerMarkus Wolf.

Wir schrieben mittlerweile das Jahr 1981. Und unter uns drohte ein Musterstaat des Sozialismus, der deutsche Bruderstaat der Sowjetunion, eingehüllt in Stacheldraht, umsäumt von Minen, Sperren und Selbstschussanlagen, umgeben von einer kaum überwindbaren Riesenmauer - als Bollwerk und Schutzwall gegen die Heimsuchungen und Anfeindungen westlicher Imperialisten. Die Heilslehre des Weltkommunismus hatte noch nicht resigniert. Der gesamte Ostblock strotzte vor Waffen. Russische Panzer rollten durch Afghanistan - und Castro kämpfte in Afrika für die Sache des Sozialismus.

Angesichts solcher Realitäten vor uns und weit von uns entfernt, fragte mich wieder, ob die linkssozialistischen Überzeugungen der Temeschburger Idealisten aus Gerhards Umfeld noch zeitgemäß waren oder ob sich ihre weltanschaulichen Überzeugungen inzwischen bereits etwas verschoben hatten, nach rechts! Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die gerade erfassbaren Realitäten - dieser unmittelbar erlebbare Todesstreifen vor unseren Augen - jedes linke Weltbild und die damit verbundenen Überzeugungen erschütterten und zurückdrängen mussten. Konnte man nach einem bewussten Anblick solcher Bilder noch am Ideal des Kommunismus festhalten? An der großen Lüge von Anfang an?

Demagogische Diktatoren wie Honecker, Ceauşescu und Castro, die logen, wenn sie die Lippen bewegten und die alles verraten und gebrochen hatten, was ihren Völker einst großtuerisch vorgegaukelt worden war, konnten es. Die Lüge, die ich so oft selbst erleben musste, hatte System - ostblockweit!

Auch ich war gegen Manchesterkapitalismus und gegen alle Formen der Armut auf der Welt, doch Kommunismus? Nein! Hier, wo Ost und West aufeinander prallten, wo jederzeit ein menscheitsvernichtender Weltkrieg ausgelöst werden konnte, kam es nicht mehr auf die Auseinandersetzung mit der Welt der Spießgesellen an. Die Welt, ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte, hatte andere Probleme. Nach dem Mauerschock, den ich etwas bübisch triumphierend genoss und als besonders wohltuend empfand, weil er die einst als nichtintellektuell gebrandmarkte weltanschauliche Ausrichtung meiner letzten Jahre bestätigte, ging es zurück zur Flaniermeile am Kurfürstendamm, in die Welt der Litfasssäulen und der Leuchtreklame, wo der Westen greller leuchtete als sonst wo.

Es dämmerte schon. Mein Cicerone machte seine Sache gut. Am Gehsteig standen ein paar herausgeputzte Damen herum und lächelten wie schon vor tausend Jahren. Doch die Atmosphäre von Döblins Berlin Alexanderplatz, von Werner Fassbinder gerade monumental verfilmt, war verfolgen. In einem obskuren Winkel, wo nur das älteste Gewerbe der Welt zu expandieren schien, glaubte Gerhard, mich mit einer besonderen Einrichtung der kapitalistischen Gesellschaft bekanntmachen zu müssen- einer Peepshow. Spendabel griff er nach einer Mark und drängte mich förmlich zu einer jener ominösen Kabinen hin, wo ich durch ein gefängsnisartiges Guckloch für eine paar Minuten ein halb entkleidetes und bald splitternacktes Frauenzimmer bestaunen durfte, sich rekelnd und schlängelnd wie eine Boa im Baum. Ein Frauenzimmer? Wo mir noch das Ideal des Ewig Weiblichen vorschwebte, sprach Gerhard barock verbrämt vom Frauenzimmer! Wohl nur, weil er nicht Weib sagen wollte! Was war pejorativ, was euphemistisch, was konventionell oder was frei und individuell? Bereits am Sprachgebrauch schieden sich die Geister!

Nackte Tatsachen überall - an der Mauer wie in der Stadt. Das war also die Berliner Freizügigkeit ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Fin du Siècle und der Belle Epoque; die Zeit nach Berlin Alexanderplatz!

Mein Enthusiasmus für die Reize des Schönen Scheins hielt sich in Grenzen. Sichtlich wirkte ich weniger beeindruckt, als es Gerhard vielleicht erwartet hatte. Nur woher sollte er davon wissen, dass ich bereits ein paar Tage am Place Pigalle logiert und das Moulin Rouge bestaunt hatte. Dagegen war das Nachtleben von Berlin nur ein schwacher Abglanz.



An der Freien Universität





Nachmittags reisten wir mit der Untergrundbahn in Richtung Zehlendorf. In Dahlem stiegen wir aus und besuchten ein germanistisches Seminar an der Freien Universität, in welchem gerade Kreatives Schreiben erörtert wurde. Bevor ich den Lehrraum betrat, prallte ich im Vorfeld noch verbal mit einigen Marxisten zusammen, die an der Pforte der Universität, die Freiheiten der Demokratie ausschöpfend, ein paar Stände aufgebaut hatten, wo linke Blätter, Literatur und sonstige Propagandamaterialien, zum Teil aus dem Osten der Stadt stammend, teils von den Brüdern und Schwestern aus dem Osten finanziert, mehr schleppend gestreut als verkauft wurden. Es waren die gleichen Leute vom Spartakusbund und anderen linken Vereinigungen, die mir Wochen vorher auf dem Areal der Bremer Universität begegnet waren. Und es waren die gleichen Parolen, die ich jetzt in Berlin zu hören bekam. Man warb um Solidarität mit den Verurteilten der RAF, die in Stammheim einsaßen und um die Unterstützung anderer so genannten Antifaschisten, die dem kapitalistischen System, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der eigenen Republik und vor allem dem amerikanischen Imperialismus den Kampf angesagt hatten. Macht kaputt, was euch kaputt macht, war immer noch ein gängiger Kampfruf!

Als einer der jüngeren Missionare des Weltkommunismus an mich herantrat, um mir ein Bündel rot bedrucktes Papier in die Hand zu drücken, nahm ich mir die Freiheit, ihn anzusprechen: „Warst Du schon einmal drüben, im Osten, Unter den Linden? Am Alexanderplatz? Dort ist das Papier kostbarer und knapper. Dort kannst du bestimmt dankbare Abnehmer finden. Und aufmerksame Zuhörer, wenn du weiter so flammend über diefreie Meinungsäußerung redest, über Menschenrechte für Gesinnungshäftlinge und über das politische Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ahnst du, wie viele Menschen und Völker jenseits der Mauer diese Prinzipien einfordern würden, wenn ihnen die Freiheit dazu nicht versagt wäre?“

Der junge Mann ungefähr in meinem Alter, sah mich verächtlich an, dann sagte er recht barsch:„Wir wollen nicht den Kommunismus der DDR oder jenen der Sowjetunion, wir wollen einen anderen! Wir haben eigene Vorstellungen, wie der wahre Kommunismus gestaltet werden soll!“ Ähnliches hatte ich vor Jahren auch in Temeschburg vernommen, wenn wahrhaftige Linke in ihrem stillen Kämmerlein gegen die Pseudolinken des Staatsapparats wetterten. „Studiert zunächst den real Existierenden!“ entgegnete ich abgehakt. Den Kommunismus eines Mao, eines Breschnew, eines Tito oder Castro! Oder noch besser die Modelle von Kim oder Ceauşescu!“

Nachdem jede Reaktion ausblieb, wandte ich mich ab und suchte nach dem Raum, in welchem angehende Schriftsteller die Kunst des Schreibens erlernen wollten - über die knappe Form der Kurzgeschichte hinaus. An der ideologisch zementierten Front, die undurchlässiger wirkte als eine Klagemauer, war jede Aufklärung vergebens. Das war mir längst bewusst. Bereits im roten Bremen hatte ich versucht, faktisch argumentativ und differenziert zu diskutieren und im Dialog mit linken Studenten auf eigene Erlebniswelten zu verweisen, auf Dissidenz, Opposition, Systemkritik und auf Erfahrungen während der Haft in einer Diktatur - empirisch also und ganz im Geist der Frankfurter Schule, die gerade en vogue war. Nur wollten die blind fanatisierten Utopisten nichts von alledem hören und sich auch von keinem ehemaligen politisch Verfolgten, der andere Realitäten erlebt hatte, belehren lassen. Die Botschaft, alle totalitären Systeme seien gleich verwerflich, stieß auf taube Ohren.




Vom Kuschen und vom Ducken und vom stillen Triumph




Am nächsten Tag entschlossen wir beide uns zu einer legeren Schifffahrt auf dem Tegel-See, um Berlin aus der Wasserperspektive zu betrachten. Auf dem Schiff hielt Gerhard mir wieder einen seiner längeren Vorträge im Stil jener aus der Wohnküche und erklärte mir alle Details, die Berlin betrafen, so ausführlich, wie er mir früher die Struktur der Welt geschildert hatte.

Er war immer noch der geborene Referent. Nur war ich inzwischen der Hörerrolle entwachsen. Wenn ich ihm im vitalen Überschwang massiv widersprach und dabei meinem hitzigen Temperament freien Lauf ließ und, ohne Rücksicht auf mein zivilisiertes Umfeld im Großstadtberlin, meine Meinung offen kundtat, auch ohne groß auf Freiherr von Knigges Empfehlungen Rücksicht zu nehmen, pfiff mich mein früherer Mentor zurück wie einen Schulburschen. „Sei doch nicht so laut!“ flüsterte er dann beschwichtigend, als hätten wir Staatsgeheimnisse zu verbergen. Wir waren fürwahr nicht mehr in Sackelhausen auf dem Misthaufen, wo es noch lauter zuging und unmittelbarer, doch was war mit der Berliner Schnauze? Die vornehmsten waren diese Wilhelminer nicht!

Dabei wollte ich doch nur meine Freiheit auskosten und genießen, anstatt brav zu kuschen. Gerhards zur Räson rufender Appell kam mir diesmal etwas deplatziert, ja geradezu grotesk vor - und er amüsierte mich mehr, als dass er mich kränkte: Ironie des Schicksals - der einsame Wolf, der endlich seine Höhle hatte verlassen dürfen, sollte nun in freier Wildbahn den Schweif einziehen? Der unangepasste, immer noch ausgeprägte Nonkonformist, sollte sich wieder ducken, fügen, unterordnen, um nicht aufzufallen? Der Anarchist sollte zum Kastraten mutieren!? Und dazu noch ein klein wenig heucheln, wo doch alle irgendwie heuchelten, weltanschaulich wie gesellschaftlich!? Und das in der freien Stadt Westberlin. Galt das das nicht eher für die Zone und die Hauptstadt der DDR?

Was hatte ich zu verbergen? Was hatte ich der offenen Gesellschaft, wo mich offensichtlich, niemand mit Ohr und Blick verfolgte, vorzuenthalten? Nichts! Freisein heißt, frei reden - und recht laut, damit alle, die Ohren haben auch hören was die andere Seite zu sagen hat. Duckmäuserisch herumschleichen in einer freien Welt - und schweigen, wenn das Reden angesagt war? Fügsamkeit, Kuschen, Duckmäusertum -das waren die Schlüssel zur Diktatur und die Gefängnisse des Geistes. Jenseits der Mauer waren solche Tugenden gefragt! Doch selbst kuschen und hier? Nie wieder!

Dazu hatte ich überhaupt keine Lust. Nie wieder wollte ich mich ducken müssen, vor keiner Autorität und Instanz, vor keinem Staatsanwalt und keinem Richter! Zwar zuckte ich, als der Affront kam, zunächst zurück wie eine unsanft berührt Mimose; doch mehr überrascht und irritiert von der Mahnung, aber nicht getroffen. Und ich fügte mich nicht, auch nicht aus Rücksicht. Weshalb auch? Inzwischen war aus mir, dem alten Knastbruder, ein Raubein der Dissidenz geworden, ein Haudegen und ein verwegener Pirat des Geistes, dem einiges auf das Kerbholz eingeritzt worden war, der auf vier, fünf äußerst turbulente und intensivst erlebte Jahre zurück blickte, nicht selten angesiedelt zwischen Sein und Nichts, zwischen Aktion und Passion, zwischen Manie und Depression, zwischen Elegie und Euphorie. Jetzt aber war ich endlich frei!

Und frei wollte ich auch für alle Zeiten bleiben!

Wie hatte es Kurt Tucholsky, ein Berliner, ausgedrückt? Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit - der wird sie nie erringen. Und vor ihm Goethe ähnlich: Wer es nicht fühlt, der wird es nicht erjagen! Sie hatte ich inniglich gefühlt, als ich sie leidenschaftlich erstrebte - und jetzt, wo ich sie hatte, wollte ich sie nie wieder loslassen, hergeben, eintauschen, für nichts in der Welt, selbst für die größte Liebe nicht! Frei ist der Mensch, weil er frei sein will!

Ja, tief war es gefühlt. Gerhard war zwar immer noch sechs Jahre älter als ich. Doch der Entwicklungsvorsprung, den ihm die Natur als dem Frühergeborenen eingeräumt hatte, war inzwischen zusammengeschrumpft. Damit war auch seine Autorität geschwunden und dahin, jene als Dichter und die als souveräner Geist - alles war weg. Nur hatte er es noch nicht bemerkt.

Die Jahre der Opposition hatten Spuren hinterlassen. Selbstbewusster war ich geworden, reifer und noch kritischer im Bezug auf die Linken aller Couleur, die langsam moralisch ins Hintertreffen gerieten, während mit Reagan, Thatcher und Kohl der antikommunistische Konservativismus in der Welt eindeutig auf dem Vormarsch war. Darüber hinaus war ich inzwischen auch viel lässiger geworden; getragen von der Überzeugung, dass sich letztendlich meine konservative Weltauffassung durchgesetzt hatte, mein gesunder Patriotismus und mein Festhalten an der deutschen Identität, nicht aber die Vision der Marxisten, die ungeachtet des fest betonierten, ideologisch unflexiblen Ostblocks immer noch an den Sieg der kommunistischen Weltrevolution glaubten.

Die Mauer, wo einst Kennedy seine berühmten Worte gesprochen hatte und deren Niederreißen Reagan bald einfordern sollte, war immer noch das scharf anklagende Gegenargument: open this gate - tear down this wall - forderte es Reagan später im plain speach in seinem Appell an Michail Gorbatschow ein wie einer, der das moralische Recht auf seiner Seite weiß. Der russische Präsident sollte ihm entgegen kommen, ihm die Hand reichen und handeln. Doch das war noch fernste Zukunft.

Die persönlichen Umstände Gerhards in Kreuzberg waren asketisch. Das behagte mir, da ich selbst ein Asket war, dessen Prioritäten ungeachtet aller barocken Lebensfreude zum Geistigen hin strebten und zur Kunst. Aus Sackelhausen stammend, hausteer damals, nicht viel anders als ich seinerzeit in Rottweil, auf dem Sprung und aus dem Koffer zehrend, auf einem Trampolin ins Nichts, mitten im Türkenviertel, in Klein-Ankara, in einer Mietskaserne, mehr als provisorisch in einem leeren Zimmer, im dem es, neben einem chaotischen Haufen Bücher, nichts anderes gab als eine Schlafstelle und ein tragbares Fernsehgerät.

Zu meiner Überraschung schaltete er es ein und suchte gleich nach der Aktuellen Kamera, immer noch kapitalismuskritisch und skeptisch ausgerichtet. Nur das Ostfernsehen, meinte er, würde die tatsächlichen Hintergründe der Hausbesetzungen und der Studentenproteste in Kreuzberg offen legen. Er war sich also immer noch treu geblieben und lebte, leicht desillusioniert vielleicht, wie andere Mitglieder der einstigen Aktionsgruppe Banatjene Haltung weiter, die sie mir in Temeschburg vorgelebt hatten: Die Utopie eines linken Weltbilds, das mir nicht viel reeller erschien als die Phantastereien der Spartakisten vor der Freien Universität. Die Freiheit von Forschung und Lehre, deren Grenzen ich bald selbst ausloten durfte, und die Freiheit zur Destruktion lagen dicht beieinander.




Angekommen und nicht da? Zum Exodus deutscher Dichter aus dem Banat



Gerhard war der Erste aus dem harten Kern der Aktionsgruppe ohne besondere Aktionen, die Rumänien endgültig verließen und in der Bundesrepublik ihren Wohnsitz nahmen. Die Gründe, weshalb er dem real existierenden Sozialismus den Rücken zuwandte -auch jenem der DDR - und in den Westen ging, dürften auf der Hand liegen. Neben dem Aspekt, dass er mit Ernst Wichner, einem Freund aus der Aktionsgruppe, der schon vor Jahren ausgereist war, einen literarischen Anlaufpunkt hatte, gab es viele Beweggründe, im gerade Westteil der Stadt Zuflucht zu suchen. Überall in Westeuropa, ganz egal wie manchesterkapitalistisch die politische Struktur ausgeprägt war, konnte ein politisch Denkender frei agieren und ein Künstler frei schaffen - ohne jede Bevormundung durch den Staat, durch Zensuren oder politische Auflagen. Hier konnte er - nicht anders als Goma in Paris dichten, schreiben, erzählen, publizieren und verlegen, was er wollte. Doch nicht mehr so elitär herausgehoben und privilegiert wie einst unter der Ägide Berwangers und der Kommunistischen Partei; nicht mehr als ein Komet aus einer kleinen, bisweilen bevorzugten Gruppe Sternschnuppen, sondern als ein Schaffender unter unendlich vielen vor Ort -und in direkter Auseinandersetzung und Konkurrenz mit zehntausend anderen Poeten und Schriftstellern, die kein Verständnis dafür hatten, dass jemand einen Sonderstatus beansprucht oder einen Bonus, nur weil er aus dem Banat oder generell aus dem Osten herstammt.

Das war Chance und Risiko zugleich - Durchsetzung und Erfolg oder Niedergang. Würde er den richtigen Zeitpunkt erwischen und die richtige Welle, um von ihr getragen zu werden wie bald die literarisch höchst mittelmäßige und geistig wenig differenzierte Herta Müller? Oder würde sein Talent verpuffen? Das waren die Spielregeln der Demokratie!

Selbst nahm ich den Bonus des ehemals Verfolgten, des Bürgerrechtlers und Widerständlers nie in Anspruch! Falsche Bescheidenheit? Vielleicht! Da es in mir trommelte, wollte ich nicht selbst noch trommeln und klappern, schon gar nicht in eigener Sache. Deshalb kommen manche Bücher spät - doch nicht zu spät. Den, der zu spät kommt, bestraft bekanntlich das Leben.

Ein weiterer Grund von Gerhards Ausreise hing mit seiner Herkunft zusammen. Wie ich selbst, stammte er aus Sackelhausen, aus einem Dorf, das an Temeschburg klebte, und durch das einst die Front gezogen war. Dort hatte nahezu jede Familie einen direkten Anhang im Westen, Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern; und somit war die Ausreisementalität überreif und führte, katalysiert durch enorme Bakschischzahlungen in Vermögenshöhe, zu einem nahezu vollständigen Exodus schon am Anfang der Achtziger Jahre.

Als Gerhard, dessen feinere Tentakeln und Sensoren diesen Trend sicher ausgemacht hatten, das Dorf Sackelhausen und das Banat verließ, war ich bereits im Westen. Er hatte sich noch längere Zeit mit den Repräsentanten einer offiziell inexistenten Zensur herumschlagen müssen, die sein Erstlingswerk bis zur Unkenntlichkeit zerrupft und zerschnitten hatten - und er hatte auch etwas von den Kellern der Securitate gesehen und vielleicht auch die Verhörmethoden des Basilisken kennengelernt. Das reichte schon, um den Garten Eden und die Gesellschaft des Lichts für immer zu verlassen.

Ihm folgten aus dem Umfeld der Aktionsgruppe einige Jahre später teils freiwillig, teils unsanft geschoben die Dichter und Journalisten William Totok, der Dissident unter den Dichtern, Rolf Bossert, Werner Söllner, Horst Samsonund Helmuth Frauendorfer. Einige Künstler aus dem Umfeld der Gruppe machten in Deutschland literarisch weiter.

Werner Söllner, der bereits 1982 in die Bundesrepublik kam, konnte - nicht ohne redliches Bemühen und mit viel Engagement - an die erfolgreich begonnene poetisch-literarische Laufbahn anknüpfen und produktiv bleiben. Weniger etablierte Dichter hatten es schwerer, Verleger zu finden, die poetische Werke publizierten. Anton Sterbling entschied sich für die akademische Laufbahn, während William Totok sich von Berlin aus bald der kritisch aufklärenden Journalistik widmen sollte, wobei sein literarisches Schaffen etwas in den Hintergrund trat.

Und Rolf Bossert, den begabten Lyriker aus der Reschitzer Gegend, ereilte fast unmittelbar nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik ein tragisches Schicksal. Er starb einen rätselhaften Tod durch einen Sturz vom Balkon eines Hochhauses. Selbstmord oder Mord? Wurde er das späte Opfer der Securitate, des langen Arms der Revolution? Ereilte ihn das Schicksal, das so manchem anderen Schriftsteller und Dissidenten angedroht worden war? Herta Müllers vielfache Andeutungen in Herztier verweisen in diese Richtung. Rolf gehörte zu ihrem Freundeskreis. Doch sie nährt in ihren Fiktionen nur Mythen, ohne substantielle Aufklärung zu leisten Auch andere Weggefährten hegen berechtigte Zweifel an einem möglichen Selbstmord Rolf Bosserts, dessen beste Gedichte erst posthum der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt wurden.

Nach 1986 lebten nahezu alle früheren Mitglieder und Sympathisanten der Aktionsgruppe Banat in der Bundesrepublik Deutschland - bis auf Herta Müller und ihren damaligen Lebenspartner Richard Wagner. Beide weigerten sich immer noch, Rumänien zu verlassen, obwohl Herta Müller, nach ihren eigenen Aussagen, bereits 1982 mit der Securitate kollidiert war. Nach ihrer oft schwer nachvollziehbaren, nicht immer mit Verständnis aufgenommenen Überhäufung mit Literaturpreisen in der Bundesrepublik für den kontroversierten Band Niederungen und für ihre angeblich regimekritische Haltung im Land, soll, gemäß ihren Aussagen, die direkte Verfolgung durch die Securitate noch deutlicher zugenommen haben. Sie machte die Bekanntschaft des Basilisken in der Person des hier ausgiebig portraitierten Scheusals Pele, dessen Verhörmethoden sie in existentielle Angst versetzten und ihr das Leben so schwer machten, bis sie, begleitet von Richard Wagner, 1987 doch noch Rumänien verließ, um dann in der nicht gerade innig und heiß geliebten Bundesrepublik Zuflucht zu finden. Beide kamen spät, kaum zwei Jahre vor dem Sturz des Diktators, in ein Land, welches ihnen seit je her ideologisch suspekt war, das sie aber dem demokratischeren Teil Deutschlands, der schon zerbröckelnden DDR, vorzogen! Schließlich hatte es ihnen Mentor Berwanger vorgemacht, dass die dämonisierten Teufel doch nicht ganz so schwarz waren und dass man - mit der schon trefflich eingeübten Konzilianz - auch in der kapitalistischen Hölle unter Faschisten und Revisionisten behaglich leben kann. Getragen von einem Dissidenten-Image, das sie nie gezielt anstrebten und das ihnen eigentlich auch nie zustand, welches aber auch heute noch kultiviert und gepflegt wird, fuhren sie fort, auf ihre Art Literatur zu produzieren und aus ihrer Sicht über die Welt zu berichten, aus der sie kamen. Der Rest ist Geschichte und Geschichtsbewältigung.

Da auch ich über Jahre eigene Wege gehen musste, ohne die Möglichkeit an vielem aus der Vergangenheit festhalten zu können, verlor ich Gerhards Spur wieder. Erst die Arbeit an dieser Geschichte führte mich zur Materie zurück und in die späte Auseinandersetzung mit ihr.

 
Auszug aus: Carl Gibson,


Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur

Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe


Philosoph Carl Gibson
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:




"Symphonie der Freiheit"

bzw. in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen

Allein in der Revolte.
Eine Jugend im Banat


Zeitzeuge und Autor Carl Gibson

Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel


Carl Gibson:

„Ohne Haftbefehl gehe ich nicht mit“ - Herta Müllers erlogenes Securitate-Folter-Martyrium


Mit Hass, Hetze, Täuschung und politischer Protektion plagiatorisch bis zum Nobelpreis – ein Skandal?


Ein Pamphlet



ISBN: 978-3-00-045364-9

Titelbild sowie Illustrationen im Innenteil: Michael Blümel


Herausgegeben vom Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim


Inhalt:

Carl Gibson

„Ohne Haftbefehl gehe ich nicht mit“ - Herta Müllers erlogenes Securitate-Folter-Martyrium

Mit Hass, Hetze, Täuschung und politischer Protektion plagiatorisch bis zum Nobelpreis – ein Skandal?
Prolog: Befinden wir uns auf dem Weg in eine Meinungsdiktatur?

Herta Müller und die Securitate – Dichtung oder Wahrheit? – Wie Herta Müller sich selbst neu erfindet

Vorwort: Fragen, Fragen, Fragen …
Reden oder Schweigen?

1. Grundsätzliche Vorfragen:
Darf eine „moralische Instanz“ lügen?

2. Herta Müller erfindet sich selbst neu – Von „Fiktion“ und „Faktion“

Herta Müllers ZEIT-Artikel „Die Securitate ist noch im Dienst“ in kritischer Relecture fünf Jahre nach der Nobelpreisverleihung 2009.
Über „unsauberen Journalismus“ als Mittel zum Zweck in Deutschland und über das fragwürdige Ethos mancher Redakteure und Autoren

3. Aufklärung als Verschleierung? Der Pseudo-Aufklärer täuscht, indem er geschickt lügt.

4. Eine Frage der Ehre

Zum „Circulus viciosus“ der Verleumder als Denunzianten und Ankläger anderer Verleumder.
Geheimdienste, Instrumentalisierung und Deviation

5. „Die Verleumdung gehört zum Brauchtum der Banater Schwaben“ – wer hat das gesagt? Zur Botschaft der Hasspredigerin und den Machenschaften DER ZEIT

6. Eine kompromittierende Email – Herta Müller lügt in alle Richtungen, nur um die eigene Haut zu retten und belastet dabei die ZEIT-Redaktion schwer

7. Das Geschäft in einer Welt ohne Moral?
Cui bono?

8. „Darf gegen Teile des Deutschen Volkes gehetzt werden, verehrter Herr Bundespräsident?
Vom Hass als Antrieb literarischen Schaffens zur offenen Hetze!

9. Cui honorem honorem!
David gegen Goliath … und Leviathan?

10. „Ohne Haftbefehl gehe ich nicht mit“ – zur nachhaltig erschütterten Glaubwürdigkeit der Herta Müller

11. Ein „gedankenloses Versehen“-
Oder:
Wie die ZEIT-Redaktion versucht, mit einer „Richtigstellung“, die keine ist, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, im krampfhaften Versuch, gleich zwei Gesichter zu wahren!

12. Wieder „ fährt ein Zug nach nirgendwo“ …
- Herta Müllers wundersam abstruse Sonder-Zug-Fahrt … ins rumänische Pankow.

13. Post festum-Lügen in unheiliger Allianz und im „Komplott“?

14- Ein Hauch von James Bond – 007 in Draculas Transsylvanien

15. Der ominöse Brief an „amnesty international“?
Herta Müller lügt – aber sie lügt schlecht!

16. „Plagiat“ als Methode! Ist wirklich alles Plagiat – alles „geklaut“ und alles erlaubt?

17. Der „Verhörer“ – „Konkreativität“ im Teamwork – Herta Müllers helfende Hände und Köpfe

18. Die wundersame Mär, wie Herta Müller harte Eier essen musste, um „kotzen“ zu können! –
„Authentische Lebensgeschichte“ oder Münchhausiade und Plagiat der geschmacklosen Art?

19. „Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen“!
Über Opfer mit Opfer-Bonus und Opfer-Abo

20 . Wenn in deutschen Medien Mythen und Märchen als Fakten verkauft werden –
Unprofessioneller, unkritischer Journalismus zwischen politischer Naivität und bewusster Desinformation
oder gezielte Instrumentalisierung zwecks politischer Einflussnahme und Deviation?

21. „April, April!?“ Die Pseudo-Dissidentin rudert zurück!
Mythen, Puppenspieler und Puppe

22. Zu Herta Müllers „Lebenslauf“ und der Securitate- Beobachtungsakte „Cristina“ –
Chronologie einer großen Lüge und Volksverdummung nach Maß –
Wie Lügen salonfähig gemacht werden

Nachwort














Carl Gibsons Buch - und Anklageschrift ist eine kritische Auseinandersetzung mit Herta Müllers gröbsten Lügen, ebenso mit der unrühmlichen Rolle, die das Wochenmagazin DIE ZEIT bei der Verbreitung dieser Lügen und der Behinderung der Richtigstellung durch Aufklärer spielt.

Für die wissenschaftliche Zitation verbindlich ist die am 12. März 2014 erschienene Druckfassung der Darstellung.

Frühere, im Internet veröffentlichte Fassungen einzelner Beiträge zur Thematik verbleiben trotzdem online auf meinen Blogs, da sie die Genese der Materie verdeutlichen.


Der Untertitel dieser Studie, die zwischen der jüngst publizierten, weiter führenden Essay- und Aphorismensammlung "Die Zeit der Chamäleons" und dem eigentlichen, noch unveröffentlichten Plagiatsnachweis entstand,

 ist zugleich Programm:


Mit Hass, Hetze, Täuschung und politischer Protektion plagiatorisch bis zum Nobelpreis – ein Skandal?

Ich antworte mit meinem "J'accuse!" - denn alle relevanten Fragen sind noch unbeantwortet; und alle plumpen Lügen Herta Müllers und ihrer Macher wirken weiten, ohne dass es Konsequenzen gegeben hätte.



Auszug aus der Streitschrift:

 

1. Grundsätzliche Vorfragen:

Darf eine „moralische Instanz“ lügen?

Darf eine Nobelpreisträgerin für Literatur öffentlich lügen?

Darf eine Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland öffentlich lügen?

Darf eine „geistige Autorität“, die den Anspruch erhebt, eine „moralische Instanz“ darzustellen, lügen?

Darf eine Kandidatin für politische Preise und für den Nobelpreis ihre Verfolgung und Martyrium frei erfinden?

Dürfen deutsche politische Persönlichkeiten und Institutionen offensichtliche Unwahrhaftigkeiten und Unwahrheiten decken oder machen sie sich dadurch mitschuldig?

Oder wurden bundesdeutsche Persönlichkeiten und Institutionen wie Bundespräsident a. D. Horst Köhler, Bundespräsident Joachim Gauck bzw. die Konrad-Adenauer-Stiftung nur gezielt getäuscht, bewusst instrumentalisiert, um politische oder pekuniäre Interessen bestimmter Kreise durchzusetzen?

Wurde die internationale Öffentlichkeit ebenfalls getäuscht?

Diese berechtigten Fragen, die ich seit Jahren öffentlich stelle, Fragen, die schon vor mir im Prinzip auch von anderen Personen gestellt worden waren, sind heute noch offen.

Ein Skandal?

Auch heute kann noch nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, wer – im ominösen Fall Herta Müller - wen täuscht: Die kontrovers diskutierte Literatin aus dem rumänischen Banat die deutsche und internationale Öffentlichkeit und Politik oder machen bestimmte Kreise aus Politik, Literaturbetrieb und Medienwirtschaft ihr böses Spiel, nur um noch mehr Macht zu erreichen oder und Geld zu erwirtschaften, wobei die Literatur und Literatin zur Magd machiavellistischer Machtentfaltung reduziert werden?

Fakt ist:
Bisher wurde sehr viel Druck ausgeübt, um mich, den antikommunistischen Dissidenten und Widerstandskämpfer aus den Folterzellen der Ceausescu-Diktatur, von der Beantwortung der oben formulierten Fragen abzuhalten:

Der Zeitzeuge, der das totalitäre Regime der Kommunisten auf der eigenen Haut erlebt hat, soll ebenso schweigen wie der kritische Journalist, Buchautor und Bundesbürger, der – als studierter Philosoph – ein moralisches Problem von besonderer politischer Tragweite aufwirft und öffentlich diskutiert sehen möchte.

Da es aus meiner Sicht – allein schon aus moralischen Gründen - nicht hingenommen werden kann, dass diese schamlosen, werteverzerrenden Lügen einer Person weiter gehen, da die Politik bisher ebenso untätig blieb wie die etablierte deutsche Presse, und dies, obwohl zahlreiche Ungereimtheiten, Abstrusitäten, ja viele schamlose Lügen in den Darstellungen Herta Müllers bekannt wurden, sehe ich mich gezwungen, publizistisch aufklärend weiter machen zu müssen, quasi aus einer legitimen Notwehr heraus, angetrieben vom verfassungsrechtlich garantierten Widerstands-recht des deutschen Bundesbürgers, der nicht bereit ist, Entwicklungen hinzunehmen, die geeignet sind, die Grundwerte der europäischen Demokratie zu zerstören.

Wehret den Anfängen, besonders nach den bitteren Erfahrungen mit der braunen und roten Diktatur auf deutschem Boden!


Noch mehr Kritik an Herta Müller hier:





© Carl Gibson


© Illustrationen und Graphiken: Michael Blümel

 

 

 

SLOMR

Erwin Ludwig, Mitbegründer der SLOMR-Temeschburg (Timisoara, Rumänien)

 

 

 

 https://carlgibsongermany.wordpress.com/2019/12/18/erwin-der-rebell/

Erinnerung an den antikommunistischen Widerstand in Rumänien, mit dem Nachruf:

 

 


Ich hatte einen Kameraden - In Memoriam Erwin Ludwig - der antikommunistische Dissident und Mitbegründer von SLOMR -Temeschburg, der ersten freien Gewerkschaft Osteuropas, 1979, ist tot!

einen besseren[1] Freund findet man nicht!

Der eigentliche Nachruf kommt noch, wenn der Schock überwunden ist, denn Erwin Ludwig war meine Bezugsperson schlechthin, seit 45 Jahren.

Wir telefonierten praktisch täglich, auch am Vorabend seines Todes. Erwin Ludwig verstarb in der Schweiz, wo er beruflich und als Kleinunternehmer seit vielen Jahren tätig war, an den Folgen eines Herzinfarktes.

Seit 1977 hatten wir viel Lebenszeit miteinander verbracht, beginnend mit dem politischen Kampf, dann, ab 1981, im freien Westen.

Erwin Ludwig hat im kommunistischen Rumänien viel gelitten, bei der Armee, im Gefängnis, in der Folterstuben der Securitate - also hat er den Boden Rumäniens nie mehr betreten!

Erwin Ludwig, immer freundlich, immer fleißig, immer sparsam und vor allem geschickt und tüchtig, war ein guter Freund - und vielen ein Gastfreund!

Zweimal reisten wir in die USA, in andere Länder - tausendmal nach Frankreich und in die Schweiz!

Wir arbeiteten zusammen - und feierten zusammen, oft und ausgiebig!

Ein großer Verlust für mich und für alle anderen, die ihn kannten und schätzten!

Der Kampf schweißt zusammen - an der Front im Krieg, aber auch im Kampf um die Freiheit und Werte!

Wir kämpften diesen Kampf, um dann zusehen und erleben zu müssen, wie in Deutschland die Lüge des Kommunismus wieder aufsteigt und freche Lügner und Täuscher geehrt werden.

Kein deutscher Journalist hat an Erwin Ludwigs Tür geklopft und nachgefragt: wie war es damals!

Weder ein deutscher Journalist, noch ein deutscher Politiker wollte die Wahrheit wissen.

Ich würdigte das Lebenswerk des Freundes, solange er lebte. Interessiert an allem, was ich schrieb, verfolgte er den Gang der Dinge auf Art und hatte vor, später einmal die „Symphonie der Freiheit“, in der er ein Handelnder ist, genau zu lesen.

Dazu kam es nicht mehr.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Aufrechten, an einen einmaligen, unwiederbringlichen Freund, , an einen Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes, an einen großen Menschen!



[1] Die Trauerarbeit lähmte mich; ich konnte und wollte auch mit niemand über den Verlust reden. Uhlands Worte drängten sich mir dabei immer wieder auf und die Trauermelodie (auch aus dem großen Zapferstreich der Bundeswehr), die manchen gefallenen Soldaten an das andere Ufer begleitet hat.

  


Vgl. auch:

 

Der Wert des Menschen – im „Sozialismus“, im „dekadenten Westen“ und im Deutschland der Jetztzeit. 

Über „Parasitismus“ damals und heute.

Eine sehr persönliche Reminiszenz.

Während im Deutschland der Jetztzeit - angesichts des Zuströmens von Flüchtlingen seit Merkels Ruf im Jahr 2015 - die Frage nach dem Wert des Menschen an sich überhaupt nicht mehr gestellt wird, was höchst bedenklich ist, weil man sich mit dem Quasi-Tabu nur etwas vormacht, etwas umgeht, was nicht sein soll, da von der politischen Korrektheit her problematisch, wussten die Nazis Hitlers ganz genau, welcher Bürger wertvoll ist für die – deutsche – Gesellschaft und wer nur ein Parasit ist, wert, in „Erziehungsanstalten“ wie und KZ-Einrichtungen „umerzogen“, zum guten Staatsbürger geformt oder gleich über Euthanasie-Maßnahmen aus der Welt geschafft zu werden. Ein großes Geheimnis war das nicht. Viele im deutschen Volk wussten davon, leisteten auch Widerstand, etwa gegen die Euthanasie, im Rahmen derer Tausende Familien ihrer behinderten Kinder oder psychisch erkrankten Angehörigen beraubt wurden – über staatlich angeordneten Mord, andere wurden, willentlich und wissentlich, zu Handlangern des Diktators und des Todes.

Was wurde nun aus den Erfahrungen mit den Verbrechen der Nationalsozialisten nach Kriegsende, im „besseren Deutschland“ und anderswo in den Staaten der kommunistischen Welt im Ostblock und in der Sowjetunion, wo man sich die Erschaffung des „neuen Menschen“ auf die Fahnen geschrieben hatte wie früher mancher deutsche Dichter des Expressionismus?

In der Sowjetunion, wo man schon lange Erfahrungen mit der Umerziehung der Bürger hatte, jener Bürger, die nicht gleich umgebracht wurden, machte Stalin über ein weit gestricktes GULAG-System mit der Menschenvernichtung dort weiter, wo Lenin begonnen hatte, vorbildlich für die Akteure aus der DDR und der anderen Satelliten-Staaten im Warschauer Pakt, die sich Volksrepubliken nannten.

Wer war ein guter Staatsbürger, wer ein schlechter, wert, vernichtet zu werden? Die kommunistischen Führer, die man Eliten nicht nennen kann, denn es waren Gestalten in der Regel ohne Bildung, Kultur und Charakter, dafür aber mit hoher krimineller Energie ausgestattet, wussten es. Sie wussten es sogar sehr genau, immer bereit, ihre verbrecherischen Visionen über Mord umzusetzen, nicht anders als die Nazi-schergen Hitlers.

Was heute oft vergessen wird, speziell in Deutschland, wo man viel verdrängt, anstatt es aufzuarbeiten: die Kommunisten machten, was der Brechen der Individuen über Terror und Gewaltausübung betrifft, genau dort weiter, wo die Nazis aufhören mussten!

Die ganz schlimme Zeit des Stalinismus bleib mir zwar erspart; doch bekam ich n meiner Zeit des antikommunistischen Widerstands immer noch mit, wie ein Mensch, der sich eigentlich bemühte, ein guter Staatsbürger zu sein und seine Pflicht gegenüber der Allgemeinheit zu tun, trotzdem zum „Parasiten“ erklärt und zum Ausgestoßenen, zum Paria gemacht wurde, an den Pranger[1] gestellt von einer „sozialistischen Gemeinschaft“, die sich „Arbeiter“ nannten, in Aktion getreten aber erst nachdem die Partei des Diktators Ceausescu den Auftrag dazu erteilt hatte, zu einer Maskerade der pseudosozialistischer Art, bei der der berüchtigte Geheimdienst Securitate die Regie und Choreographie der Inszenierung in der Fabrik übernommen hatte. Die Arbeiter: das waren die Ausführenden in dem „Schauprozess“ vor dem „kurzen Schau-Prozess“ im Gerichtssaal.

Gründlich wie die Deutschen, die – á la Eichmann und im Geist der Wannsee-Konferenz – alles aufschrieben, ließen auch die Kommunisten Ceausescus die Anklagen gegen mich, gegen das „nicht-sozialliste Element“ in Worte fassen, de facto „objektivieren“, indem meine Arbeitskollegen in der Fabrik ihre Aussagen zu Protokoll gaben, eine lange Liste an wertenden Anschuldigungen, die sich in meiner Securitate-Verfolgungsakte wiederfinden und die ich erst 30 Jahre nach dem Ereignis zu Gesicht bekommen sollte, im Jahr 2010, in Bukarest bei der – rumänischen Gauck-Behörde - CNSAS.

Mehr dazu will ich heute, am 4. Oktober, das ist der Jahrestag meiner Entlassung aus dem roten Gefängnis in Temeschburg, Timisoara, im Banat, nicht schreiben, den die Thematisierung erfolgte bereits in meinem Testimonium[2] und kann dort nachgelesen werden. Trotzdem ist es mir wichtig zu betonen, dass auch ich, und somit einer, der sich bemüht hat, anständig zu leben, aufrecht und ein guter Bürger zu sein, seit Jahren schon ähnlich stigmatisiert[3] dastehe, inzwischen als und gesundheitlich angeschlagen, als ein Philosoph, der kein[4] Philosoph sein soll, als ein Schriftsteller, der kein Publikum mehr hat, schließlich als ein Zeitzeuge, der nicht herumgereicht wird und der auch nicht gehört wird, weil er nicht gehört werden soll, da bestimmte  Wahrheiten hier und heute nicht gefragt sind, in meiner Wahlheimat Deutschland, im Land meiner Vorväter, wo man Ehrlose ehrt und der Dreck in vielen Formen hoch im Kurs steht, während ein Handvoll „vaterlandsloser Gesellen“ tatkräftig bemüht sind, das bewährte anzuschaffen – und mit allen guten Traditionen auch das Vaterland.

In diesem Deutschland, wo man nicht erst seit Nietzsches Zeit über „Übermenschen“ und „Untermenschen“ diskutiert, fragt man nicht mehr: wer hat wann und was[5] für sein Land und Volk getan wie einst noch J.F. K. in den USA, bevor er heimtückisch aus dem Busch heraus von Mörderhand abgeknallt wurde. Heute sagen wenige Politiker dem Vielen im Volk, wer gut ist und würdig, geehrt zu werden, ohne die Frage nach dem Wert des Menschen an sich aufzuwerfen, denn man könnte auf Gestalten kommen, die der augenblicklichen Politik nicht in den Kram passen. Also schafft man sich Helden wie bei Faust und Frankenstein, dem Mythos entsprungen, legendäre Gestalte, an der Wirklichkeit vorbei, Ja-und-Amen-Sager in der Form von Ikonen, potemkisch absurd, aber zweckdienlich als Marionetten, Puppen, Handlanger, damit gewisse graue Eminenzen aus dem Hintergrund, virtuose Puppenspieler, zu ihrem Zweck gelangen, zum Endzweck.

 

 



[1] Mein Freund für Leben und Mistreiter bei SLOMR Erwin Ludwig wurde am „Schwarzen Brett“ der Fabrik „Fructus“ in Temeschburg – dargestellt als Karikatur in Trapez-Hosen - als „Parasit“ angeprangert, und das, obwohl er immer ein tüchtiger Arbeiter war.

 

[2] Symphonie der Freiheit, 2008.

 

[3] Widerständler, das zeigt der Fall „Weiße Rose“, sind im Volk und im System genauso unbeliebt wie Zeitkritiker, denn sie bilden Ausnahmen vom Massenverhalten der Gefügigen, sie setzen sich ab durch die Tat, die Aktion, das kritische Werk.

Selbst bei meinen ausgereisten Kompatrioten aus dem Banat kann ich nicht auf viele Sympathie oder Anerkennung hoffen. Während ich mir meine Freiheit in jahrelangem Oppositionskampf erstritt und dabei Opfer brachte, kauften sich fast alle meine Landsleute frei.

 

Meine Herabwürdigung in Deutschland hingegen begann bereits im Abiturlehrgang, 1980, in Meersburg am Bodensee, als ein Deutschlehrer, mit dem ich kollidiert war, Erkundungen über mich – aus Nitzkydorf, im Banat, also aus dem Ort, wo Herta Müller herstammt – einzog, die ergaben, ich sei ein Querulant, ein Querdenker, auch im Sozialismus.

1989 ging die Stigmatisierung im Akademischen weiter, kulminierte nach der Publikation meines Testimoniums im Jahr 2008 sowie im Zusammenhang mit meiner Kritik an Herta Müllers Nobelpreis-Nominierung in Stockholm durch Michael Naumann aus der SPD und hielt bis zu dem „Schmähbrief“ an, der mich – nach der Krebserkrankung – im Februar 2023 erreichte.

 

[4] Vgl. dazu den Beitrag: ein Philosoph, der kein[4] Philosoph sein soll,

[5] Man fragt auch nicht: wer kommt hier, um der peinlichen „Übermenschen“ - „Untermenschen“- Debatte aus dem Weg zu gehen, während die US-Amerikaner, wie von mir mehrfach erörtert, in diesem Punkt genau hinschauen, wer da um Einlass bittet, Bürger werden will.

So wurde auch ich im Jahr 1989 in New York etwas skeptisch gemustert, genau in den Tagen, als der exekutierte Diktator Ceausescu im Staub lag, da mein Vollbart-Foto im pass wohl aneckte.

Europa aber lässt eintreten, um dann erst viel später nach der Identität zu fragen, zu forschen!

Wie wertvoll der Kommende für den Einzelstaat, für Europa ist, danach fragt wohl niemand!

 

"Schauprozess" nach stalinistischer Art in der Fabrik "1 "Juni" -

Kritik und Autokritik Dokumente CNSAS




Stalins Erben in Rumänien - vor dem "Tribunal der Arbeiter"

Es war Partei - und Staatschef Nicolae Ceausescu persönlich,
der anordnete, alle Unterzeichner und Sympathisanten der
"Paul Goma-Menschenrechtsbewegung"
sollten vor ein "Arbeiter-Tribunal" in den Betrieben gestellt,
kritisiert und moralisch verurteilt werden .

Carl Gibson erlebte seinen "Schauprozess" nach stalinistischem Muster in der Trikotwarenfabrik "1 Iunie" in Temeschburg.

Vor einer Abordnung von "Securitate", Partei ( Rumänische Kommunistische) , Betriebsleitung und einer Anzahl von etwa 150 Arbeitern ( die Zahl stammt aus dem Report von Securitate-Major Köpe) sollten Arbeiter des Unternehmens den Rebellen aus ihren Reihen
"demaskieren",
ordentlich kritisieren und zur Räson rufen.

Die Veranstaltung wurde durchgeführt - sie brach aber in sich zusammen und musste bald abgebrochen werden, als die Fabrikarbeiter sich mit dem angeklagten Kollegen Carl Gibson solidarisierten, dafür aber tatsächliche Probleme des sozialistischen Alltags anzusprechen begannen.

Carl Gibson wurde nach der Maskerade aus dem Betrieb entfernt und ohne jede Kündigung entlassen.



Das Arbeitsverhältnis bricht im Juli 1977 abrupt ab.
Damit wird Carl Gibson die Grundlage entzogen, den Weg zum Abitur im "Nikolaus Lenau-Gymnasium" (Abendkurs) weiter zu beschreiten.


Das hier weiter unten publizierte Dokument ist "schön gefärbt" und enthält
die "Kritik-Berichte" loyaler Arbeiter und der Betriebsleiterin,
Direktorin Iulia Pasca, die bei der sonderbaren Veranstaltung nicht einmal anwesend war.

Die Schönfärberei wurde dann von der Securitate in Timisoara (Temschburg) ins Innenministerium nach Bukarest übermittelt.



Es war die Rumänische Kommunistische Partei selbst,
die auf ihrem Parteitag zu Kritik und Autokritik aufgerufen hatte -
nur am obersten Führer der RKP Nicolae Ceausescu war keine Kritik zugelassen - wie bei Kim und Mao!


 


     Putins Handschrift - die Handschrift eines Kriegsverbrechers, eines Massenmörders, eines Völkermörders? „Tötet so viele Ukrainer, wie ihr nur könnt!“

„Tötet so viele Ukrainer, wie ihr nur könnt!“ – das soll ein Offizieller Russlands gesagt haben, ein Apparatschik, der wohl das in die Welt transportiert, was der selbstherrliche Chef im Kreml angeordnet hat!

Alles nur Kriegspropaganda in einem inzwischen hochgradig verbrecherischen Krieg?

„Fake news[1]“, werden Lawrow, Peskow und andere Sprachrohre Putins sagen und zur Tagesordnung übergehen, während in den Städten und Dörfern der Ukraine, aus der inzwischen über 4,6 Millionen Einwohner ins Ausland geflohen sind, Menschen sterben, ermordet werden, einfach so niedergeschossen, exekutiert, ohne Rücksicht auf die Bestimmungen des Völkerrechts.

Durch Putins Vorspiel an den drei Tagen vor dem Kriegsausbruch vorgewarnt, sah ich mir den Kriegsausbruch – soweit das über die Medien möglich war – in aller Ausführlichkeit am 24. Februar 2022 an und kam sehr schnell zur Feststellung, das dieser Krieg ein sehr blutiger, ein Vernichtungskrieg werden wird, und dass sich „Putins Krieg“ in hohem Maße gegen Zivilisten richten wird, gegen urbane, dicht besiedelte Zentren, gegen Millionenstädte, gegen Unbeteiligte und Unschuldige, gegen das Volk der Ukrainer.

Putins Handschrift war überdeutlich – es war die eindeutige Handschrift eines Kriegsverbrechers[2], eines Massenmörders, eines Kindermörders, eines Völkermörders!

Ein Kriegstag reichte aus, um mir, dem mit dem Völkerrecht vertrauten Menschenrechtler[3], Gewissheit zu verschaffen!

Meine Befürchtung: Dieser Krieg gegen die Menschheit, dessen Schrecken in Mariupol[4] begannen, dort noch anhalten, nun aber in dem „Massaker von Bucha“ überdeutlich erkennbar sind, werde sich zu einem langen Ausrottenkrieg ausweiten, während die Menschen des dekadenten Westens des Schreckens überdrüssig sich abwenden, ist leider schon eingetreten.

Während die jungen russischen Soldaten, von Putin in ein Manöver geschickt, nun im Vernichtungskrieg gegen Zivilisten in der Ukraine aufwachen, dort, satt zu kämpfen, desertieren oder - vom Hunger getrieben – Bauern die Hühner stehlen wie der russische Staat geleaste Passagierflugzeuge[5], Hunde schlachten und verzehren, weil der Nachschub an Nahrung ausbleibt, geht der Deutsche vergnügt mit seinem Hund spazieren und freut sich, wenn der Hund seine Sache erledigt hat.

 



[1] Vgl. dazu meinen Beitrag „Sprachregelung“.

 

[2] Da ich kein Diplomat bin, auch kein Politiker im hohen Amt, der Rücksicht nehmen muss auch auf Verbrecher und Schurken aus Schurkenstaaten, sondern ein freier Denker und Schriftsteller, habe ich mir die Freiheit genommen, die Dinge und Phänomene beim Namen zu nennen, Klartext zu reden, noch bevor alle beweise gesammelt und der Justiz vorgelegt werden. Das kann Jahr e dauern, die Menschen in der Ukraine aber werden jetzt ermordet.

 

[3] Heute, vor 43 Jahren, am 4. April 17979, wurde ich in der rumänischen Diktatur Ceausescus, in Temeschburg, Timisoara, verhaftet, abgeurteilt und einsperrt - als Gründer von SLOMR, der ersten freien Gewerkschaft Osteuropas etwa zwei Jahre vor „Solidarnosc“ in Polen, zusammen mit Erwin Ludwig. Zehn Jahre später fiel der Eiserne Vorhang, beginnend mit dem Fall der Berliner Mauer.  Und heute hat Putin, kaschiert hinter Kerzen und Popensegen, den „Kommunismus hinter der Maske“ wieder zu neuem Leben erweckt – als Ideologie von Lug und Trug und, noch schrecklicher als in der Sowjetunion, als eine Weltanschauung von Krieg und Vernichtung.

 

[4] Am 8. März erkannte ich dort „Putins Stalingrad“. Inzwischen leben in der 440 000-Einwohner-Stadt noch etwa 150 000 Menschen unter schlimmen Belagerungsbedingen ohne Trinkwasser, Nahrung, Heizung in Kellern und Katakomben, immer noch unter Bomben und Geschossen russischer Belagerer.

 

[5] Angeblich 500 Stück im Wert von 10 Milliarden US-Dollar.

 


Erwin Ludwig, Mitbegründer der SLOMR-Temeschburg (Timisoara, Rumänien)

    Leise Töne oder Menschenrechte für alle? Helmut Schmidts Entspannungspolitik gegen Jimmy Carters weltweite Kampagne für individuelle Freiheiten und Bürgerrechte!

In seiner Nachbetrachtung „Menschen und Mächte[1] nennt der deutsche Kanzler, der als Wehrmachtsoffizier noch den Einmarsch in Russland mitgemacht hat, später aber auf Ost-West-Entspannung und auf „Wandel durch Handel“ setzte, eine Zahl, eine sehr hohe und eindrucksvolle Zahl, in der ich mich wiederfinde:

„424 000“!

„424 000“ Schicksale, „424 000“ Menschen in Freiheit!

„Der missionarische Eifer der amerikanischen Administration hat es uns nach 1976 schwergemacht, Deutsch in schwieriger Lage aus der Sowjetunion oder anderen osteuropäischen Staaten herauszuholen. Das ging in aller Regel nur leise; sobald öffentlicher Druck eine Prestigeangelegenheit daraus machte, hatten es die Gutwilligen auf der anderen Seite schwer, sich gegen Widersacher durchzusetzen. Insgesamt haben wir in meiner Amtszeit unter verschiedenen Kriterien, darunter denjenigen der Familienzusammenführung, 424 000 Personen aus den östlich gelegenen Staaten in die Bundesrepublik holen können, viel von ihnen aus Gefängnissen.“[2]

Schreibt der sonst nicht uneitle Schmidt recht bescheiden in seinem Werk, in dem auch manches schöngeredet wird, und ist doch stolz auf die eigene Leistung im Bereich der Menschenzusammenführung.

Schmidt, im Gespräch mit Breschnew und anderen Staatschefs des Ostblocks, auch mit Ceausescu, der 1978, als der deutsche Kanzler Rumänien besuchte[3], um die Ausreise der Deutschen im Land zu beschleunigen, besser ausgedrückt, überhaupt erst möglich zu machen, setzte auf die „leisen Töne“ im vertraulichen Dialog, während US-Präsident Jimmy Carter, von Haus aus Farmer und idealistisch ausgerichteter Baptisten-prediger, eine weltweite Kampagne für Menschenrechte losgetreten hatte, eine Bewegung, die auch mich seinerzeit erfasste und in die aktive Opposition und Dissident trieb.

Das Menschrecht erkämpfen – das war meine Überzeugung und mein Weg damals, der erst über zahlreiche Verhaftungen und Gefängnis in die Freiheit führen[4] sollte, während andere den weniger risikobehafteten Pfad des Kopfgeld-Zahlens gingen, genauer die Heerstraße des doppelt entrichteten Kopfgelds, einmal seitens der BRD, einmal privat aufgebracht und der Securitate ausgehändigt, was manches Leid ersparte.

Carter triumphierte moralisch, Schmidt faktisch, indem er mit Geld die Freiheit vieler erkaufte und das relative Glück jener Menschen sicherte, die in Deutschland einen neuen Anfang für sich und eine Zukunft für ihre Nachkommen begründen konnten.

 



[1] 1987 erschienen.

[2] S. 85.

 

[3] Vor dem Besuch des Kanzlers wurde ich präventiv verhaftet. Mehr dazu in meinem zweibändigen, vergriffenen Werk „Symphonie der Freiheit“, 2008.

[4] Als Gründer von SLOMR Temeschburg (Timisoara), SLOMR, im Februar 1979 in Bukarest gegründet, war die erste freie Gewerkschaft in Osteuropa, fast zwei Jahre vor „Solidarnosc“ in Polen, gelangte ich – unmittelbar nach der Haft – aus eigener Kraft in den Westen; und, im Rahmen der von mir konzipierten und organisierten Aktion, meine Familie und alle, die mir seinerzeit folgten mit familiärem Anhang, ohne dass das sonst übliche, privat aufzubringende Kopfgeld von 10 000 Deutsche Mark pro Person von einem aus diesen Kreis von mehr als 100 Personen bezahlt worden wäre. Später wurde meine Aktion, die vielen Menschen die Freiheit brachte, von verlogenen Kommunisten aus dem Umfeld Herta Müllers kleingeredet, auch in der „Wissenschaft“, selbst in einer jüngsten Studie aus dem Jahr 2021. Undank ist der Welt Lohn? Dafür wurden die verlogenen Kommunisten, die seinerzeit, als ich opponierte und im Gefängnis saß, von ebenso verlogenen Politikern der Bundesrepublik Deutschland mit dem Verdienstkreuz dieses – moralisch verkommen - Landes geehrt.

 

 


Carl Gibson, 

Natur- und Lebensphilosoph, ethisch ausgerichteter Zeitkritiker, politischer Essayist,

Naturfotograf, im März 2022



Mehr zu Carl Gibson, Autor,  (Vita, Bibliographie) hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)



https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/

 Bücher von Carl Gibson, zum Teil noch lieferbar.



Copyright: Carl Gibson 2022.

 

 

DOKUMENTATION 

SLOMR - GESCHICHTE



 

"Gibsons Liste"  ... zum Weg in die Freiheit: 

Das Gründungsdokument von SLOMR 

in Temeschburg!

 

 
Gibsons Liste

Lange nach Leporello und fast zwei Jahre nach der Menschenrechtsbewegung „Charta 77“ sowie Paul Gomas Protestaktion in Bukarest gab es noch einmal eine „Liste“, die nach Freiheit lechzenden Menschen diese Freiheit brachte – das Gründungsdokument von SLOMR in Temeschburg!

Wer seinerzeit, 1979, als der kommunistische Löwe noch Zähnen hatte, den Mut aufbrachte und sich mit eigener Unterschrift an der Gründung dieser ersten größeren Gewerkschaftsbewegung im Ostblock mehr als ein Jahr vor „Solidarnosc“ in Polen beteiligte, der durfte alsbald ausreisen, vorausgesetzt, er durchstand das Securitate- Verhör, ohne zu wanken oder unter Druck die gegebene Unterschrift zurückzuziehen.
 
Die Watschen, Hiebe und Tritte hatte in der Regel nur einer zu erdulden – ausreisen durften dann aber alle, die ganze Sippschaft mit Mann und Maus, ohne die später übliche Freikaufsumme in einer Größenordnung von mehreren Zehntauend D-Mark pro Familie aufbringen zu müssen.
 
Verhaftet und abgeurteilt wurden damals lediglich zwei Personen: die beiden Initiatoren von SLOMR in Temeschburg. Sie büßten die Tat – für sich und alle anderen!
 
Ein „Vergeltsgott“ für die Konzeption und Ausführung der – von feigen Neidern kleingeredeten – Freiheits-Aktion war nicht erwartet worden – und es ist auch ausgeblieben. Dafür wird der Lohn im Himmel groß sein!



Auszug aus: Carl Gibson, 
Zeitkritik

Geschichte der "Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger" "SLOMR" im Banat -

Dokumente aus den Securitate-Akten der CNSAS



Das Gründungsdokument von SLOMR- Temeschburg (Timisoara) ist nie von der Securitate gefunden worden.
Es wurde von Erwin Ludwig und Carl Gibson nach der Entlassung aus dem Versteck geholt und vernichtet.

Ein "Offener Brief" mit Namen von Ausreisewilligen, rumänische Staatsbürger überwiegend deutscher Nationalität, ging der Gründungserklärung von SLOMR- Temeschburg voraus,
gewissermaßen als ein "eiserner Kern" der neu zu gründenden Bürgerprotest-Bewegung:


Je eine Kopie dieser Liste Ausreisewilliger,
die sich auf die
universelle Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte berufen,
die nach der KSZE-Konferenz in Helsinki auch von Rumänien unterzeichnet bzw. ratifiziert worden war,
händigten Erwin Ludwig und Carl Gibson Botschaftsvertretern der BRD; der USA und des Vereinigten Königreichs Großbritannien eigenhändig aus,
mit dem Hinweis,
dass diese Personen sich bereit erklärt hätten, auch der freien Gewerkschaft rumänischer Arbeiter SLOMR beitreten zu wollen.

Die Securitate orientierte sich bei ihren Verhaftungen an diesen Dokument, das wohl im Rahmen einer der Hausdurchsuchungen nach dem 4. April 1979 gefunden worden war.


Vor der Gründung von SLOMR.Temeschburg nahm Carl Gibson eine Tätigkeit als "Hilfsarbeiter" in dem Elekrtobetrieb "ELBA" (Electrobanat) an,
wo Mitstreiter Erwin Ludwig bereits arbeitete.


Fast alle Unterzeichner durften unmittelbar nach der SLOMR- Niederschlagung mit ihren Familien in die BRD ausreisen.

SLOMR - der Weg in die Freiheit!

Exemplarisch abgeurteilt und ins Gefängnis geworfen wurden nur Erwin Ludwig und Carl Gibson

Auf der Liste: Zwei bis drei "rumänische" Namen.

Noch fehlt der Name des späteren Präsidenten von SLOMR- Temeschburg:

Prof. Dr. Fenelon Sacerdoteanu.

Er sollte zwei Wochen später dazu stoßen und das Ehren-Amt übernehmen.

Die "Securitate" hat später in der Bereinigung der SLOMR-Akten alles getan,
um den prominenten rumänischen Repräsentanten der Oppositionsbewegung SLOMR zu tilgen.

Prof. Dr. Fenelon Sacerdoteanu war als Opfer des Stalinismus mehr als 10 Jahre in kommunistischer Haft - Details in meinem Buch "Symphonie der Freiheit".






Bericht von Securitate-Oberst Colonel Istrate über die "Gründung von SLOMR" in Temeschburg/ Timisoara,
verkürzt dargestellt "aus der Sicht der Securitate".

Da die Securitate nach den Verhören aller der mehr als 20 Unterzeichner und deren Familienangehörigen nicht heraus gefunden hatte, wie die Gründungs-Nachricht zu Radio Freies Europa (RFE) nach München gelangt war, wurde willkürlich ein Name aus dem fernen Bekanntenkreis als "Kurier" eingesetzt.

Immerhin wird die Oppositionsbewegung ( in dem internen Papier) beim Namen genannt :

"so genannte SLOMR"!


Bildunterschrift hinzufügen

Der "Entlassungsschein" carl Gibsons aus dem Gefängnis Popa Sapca in Temeschburg/ Timisoara.

Das Dokument wurde von Carl Gibson beim Abflug von Bukarest in einer Zigarettenpackung in den Westen geschmuggelt.


http://www.fnweb.de/region/main-tauber/bad-mergentheim/carl-gibson-gegen-herta-muller-1.1251813

Werke von Carl Gibson: 
http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)



Soeben erschienen:

Carl Gibson: 

Plagiat als Methode - Herta Müllers „konkreative“ Carl Gibson-Rezeption


Wo beginnt das literarische Plagiat? Zur Instrumentalisierung des Dissidenten-Testimoniums „Symphonie der Freiheit“ – 

Selbst-Apologie mit kritischen Argumenten, Daten und Fakten zur Kommunismus-Aufarbeitung 

sowie mit  kommentierten Securitate-Dokumenten zum politischen Widerstand in Rumänien während der Ceaușescu-Diktatur.


Rezeption - Inspiration - Plagiat!?






Herausgegeben vom Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim. Seit dem 18. Juli auf dem Buchmarkt.
399 Seiten.


Publikationen des
Instituts zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa,

Copyright © Carl Gibson 2014
   


 

SLOMR- Widerstand gegen Ceausescus Diktatur und die Securitate (1979) - Dokumente, Bilder aus Bukarest, Temeschburg, (Timisoara) - Banat. Vergessene rumänische Geschichte der Gegenwart, unterlassene Kommunismus-Aufarbeitung in Deutschland und in Osteuropa


In Memoriam SLOMR- Temeschburg – heute, vor 41 Jahren:


Zur Zerschlagung der ersten „freien Gewerkschaftsbewegung“ in Osteuropa

vor „Solidarnosc“ in Polen durch den rumänischen Geheimdienst „Securitate“

am 4. April 1979

Rumänische Geschichte der Gegenwart, Kommunismus-Aufarbeitung, mit nützlichen Links (öffentliche und wissenschaftliche Debatte) zur Thematik



Der Sturz der Diktatoren und der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa waren keine Produkte des Zufalls -

einige Mauerspechte waren schon frühzeitig damit beschäftigt, Löcher in Mauern, Zäune und ideologische Bollwerke zu hämmern.

Die Mauer fiel - das Tor ist offen ... 

und die Akteure des Widerstands sind fast schon vergessen ...    


Es gibt Daten und Ereignisse, die man jedoch nie vergessen kann.

Ein einschneidendes Datum in meinem Leben:

Am  4. April 1979 wurde die 

Freie Gewerkschaft rumänischer Werktätiger“ SLOMR 

in Temeschburg (Timisoara) durch die örtliche „Securitate“ 

aufgelöst, zerschlagen.

Nachdem Radio Freies Europa (RFE) die Gründung von SLOMR in der Stadt an der Bega,
namentlich im Betrieb „Electrobanat“ (ELBA) über die Ätherwellen bekannt gemacht hatte,
wurden die Organisatoren und Unterzeichner der Bürgerbewegung verhaftet und am Sitz der Securitate in Temeschburg verhört,

Den Gründern Erwin Ludwig und Carl Gibson wurde am 6. April 1979 ein „kurzer Prozess“ gemacht.

Beide wurden je zu 6 Monaten Haft verurteilt.


Erwin Ludwig, Mitbegründer der SLOMR-Temeschburg (Timisoara, Rumänien)



Während Erwin Ludwig und Carl Gibson und andere Oppositionelle der Ceausescu-Diktatur im Gefängnis saßen,
standen manche Literaten deutscher Zunge aus dem Banat noch Jahre lang treu zur Rumänischen Kommunistischen Partei,
Opportunisten und Wendehälse,
die sich heute in Deutschland als Verfolgte und Dissidenten ausgeben.

Und man glaubt ihnen sogar

Die Geschichte der freien Gewerkschaft SLOMR in Temeschburg im Banat beschrieb ich ausführlich in dem Werk:

Symphonie der Freiheit.

Widerstand gegen die Ceausescu- Diktatur. 2008, 418 Seiten.


-         aus der Sicht des aktiven Zeitzeugen, der die Ereignisse mit gestaltet hat.



Einblick in das Buch im Internet unter:




Hier auf meinem Blog
bzw. unter



veröffentlichte ich nachträglich (nachdem ich meine CNSAS- Securitate- Akte eingesehen hatte) weitere Dokumente aus der SLOMR- Oppositionszeit und davor bzw. umfassendes Bildmaterial zur Thematik, u. a. unter den Links:




(Dort noch viel mehr zum Themenkomplex „Kommunismus“ , Securitate, Ceausescu- Diktatur, Rumänische Geschichte, Rumänische Gauck-Behörde CNSAS, Vergangenheitsaufarbeitung mit weiter führen Links.)

Die Rumänen waren bisher nicht in der Lage, die Geschichte ihrer wichtigsten Oppositionsbewegung 10 Jahre vor dem Sturz von Diktator Ceausescu wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Bei der CNSAS in Bukarest warten mehrere Ordner dazu auf baldige wissenschaftliche Auswertung.

In Deutschland fehlt leider ein überragendes, wahrhaftiges Interesse an rumänischer Geschichte.

Eine Gegenreaktion auf diesen Missstand ist die Gründung  des


Instituts zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa,

zunächst als Blog.

Band zwei der „Symphonie der Freiheit“ liegt ebenfalls noch nicht im Druck vor,

weil der Verleger seinen verlegerischen Pflichten trotz eindeutigem Vertrag bisher  nicht nachgekommen ist.

Zeitzeugen und Autoren sind – über die Erarbeitung der Materie hinaus – auch oft noch genötigt, Publikationen von allgemeinem Interesse zu finanzieren und sogar die Publikation rechtlich durchzusetzen, insofern sie über die materiellen Mittel dazu verfügen.

Andererseits erschleichen sich ehemals Systemprivilegierte Preise und Leistungen über das Vorspiegeln falscher Tatsachen.
Daran hat kaum noch jemand Anstoß genommen.


 
Dokument: Privatarchiv von Carl Gibson



Der Chef des Geheimdienstes "Securitate" in Temeschburg (Timisoara) General Taurescu
berichtet dem Vize-Innenminister Moise nach Bukarest:

(Die beiden freien Gewerkschaftsgründer) Erwin Ludwig und Carl Gibson wurden ( weisungsgemäß) abgeurteilt und ins Gefängnis geworfen.

Die Unterdrückung von SLOMR hatte höchste Priorität.
Präsident und Diktator Nicolae Ceausescu hielt sich dann noch zehn Jahre an der Macht.

SLOMR- Gewerkschaftsgründer Ionel Cana lebt heute noch verkannt in Bukarest.

Die Kommunisten von gestern, heute als Wendehälse in neuen Positionen, Ämtern und in der Wirtschaft, haben kein Interesse daran,
dass ihre Schandtaten während der Diktatur bekannt werden.


Carl Gibson
Dokument: Archiv Carl Gibson

Der jugendliche Opponent Carl Gibson als "Hilfsarbeiter" in dem Elektro-Betrieb ELBA in Timisoara (Temeschburg).

Der Betrieb ELBA hat die Revolution gut überstanden und existiert auch heute noch.


Erwin Ludwig
Foto: Carl Gibson (2008)

SLOMR-Temeschburg Mitbegründer Erwin Ludwig - seinerzeit ebenfalls Mitarbeiter im Werk ELBA -
wirft einen  Blick in die
"Symphonie der Freiheit" -
Testimonium authenticum früher Opposition 1979.

Erwin Ludwig, von der Securitate mehrfach gefoltert, war seit seiner Ausreise 1981 nicht mehr in Rumänien.  


©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.



Mehr zum Thema SLOMR und Widerstand:




Dokumentation, Zur Geschichte der freien Gewerkschaft SLOMR, 1979, Istoria SLOMR:

 Das "verlorene Schaf" und der wiedergefundene "Freund" - Ein Hirte aus dem Bergland – oder: Von der Freiheit, für seinen Glauben einzustehen, - Zum Widerstand des Baptisten Nicolae Radoi, Caransebes, heute USA.


Auszug aus meinem Buch "Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur":





Die Gefährten aus der Gefängniszelle,
Baptist und Widerständler Nicolae Radoi
und Erwin Ludwig von der "freien Gewerkschft rumänischer Arbeiter" "SLOMR",
der ersten in Osteuropa,
ein Jahr vor "Solidarnosc" in Polen.




Irgendwo in der Bibel kann man sie nachlesen - die Geschichte vom "verlorenen Schaf",
das glücklich zurück zur Herde findet.

Ein Gleichnis!?

Ja, wenn man längst Verlorenes wieder findet, ist die Freude groß.

Die Kirche freut sich, wenn ein reuiger Sünder zurück findet in den Schoß der Mutter.

Die Gesellschaft freut sich, wenn alte Kommunisten zu Wertkonservativen mutieren,
wenn opporunistische Wendehälse ihre geistigen Schandtaten von gestern vergessen wollen.

Ich freue mich, einen "alten Freund" aus der Gefängniszelle wieder zu finden,
den ich mehr als 30 Jahre vermisst hatte:

Nicolae Radoi,

im Gefängnis Popa Sapca von Temeschburg (Timisoara) war dieser Baptist und Widerstandskämpfer gegen die Kommunisten Ceausescus mein "Paketgenosse".

Gestern rief er mich an, aus San Antonio in Texas, USA,  wo er - zu Glück und Wohlstand gelangt - seit 1981 lebt.
Wir redeten eine gute Stunde miteinander und tauschten Erinnerungen aus.

Auf seinem Blog hat er jüngst eine Geschichte veröffentlicht, wie er mich vor dem Gummiknüppel eines sadistischen Wächters bewahrte, der mich verprügeln wollte, nachdem ich während des Wachdienstes in der Nacht in der 13-Mann Zelle eingeschalfen war.
Das war 1979.
Das alles hatte ich längst vergessen.
Er nicht.

Nicolae Radoi klärt weiter auf
und berichtet heute auf seinem Blog über die Unterwanderung des ALRC ( des Komitees zur Verteiding des Christentums in Rumänien, das er mitgeründet hatte) und über die weiteren Machenschaften der Securitate bis zum heutigen Tag.

Er musste seinerzeit ausreisen.

Nach dem Fall des Kommunis mus in Osteuropa kehrte Radoi 1990 nach Temeschburg zurück,
wo die "Antikommunistische Proklamation" auf den Weg gebracht wurde,
sieben Jahre vor dem tatsächlichen Struz der Kommunisten im Land.

Nicolae Radoi hielt damals eine feurige Rede:
"Jos comunismul" -
"Nieder mit dem Kommunismus":

http://www.youtube.com/watch?v=6vI-6kbE_xY&feature=related

Radoi erwähnt seineLeiden in der stalinistischen Gefängniszelle in Temeschburg, wo er mit den "Jungs von der SLOMR" einsaß - "baietii de la SLMR" ( gemeint sind die SLOMR-Gründer in Temeschburg Erwin Ludwig und Carl Gibson).

"?

Foto: Carl Gibson

Litfaßsäule mit der antikommunistischen "Proklamation von Temeschburg".

Temeschburg, die Großstadt im Westen Rumäniens, wo im Herbst 1989 die "blutige Revolution" gegen die kommunistische Diktatur von Nicolae Ceausescu einsetzte, war die erste Stadt im Land, die sich vom "Kommunismus" als Ideologie der Welterlösung für alle Zeiten distanzierte.



In meinem Buch "Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur" widmete ich dem alten Freund und Leidensgenossen aus der Zelle, dem Schäfer Nicolae Radoi, gleich zwei Kapitel.

Wir werden uns treffen, Erinnerungen und Fakten austauschen sowei Versäumtes nachholen.

"wenn Gott will" ... so redete "Lae"

Wohlan! - "Gott hat es gwollt" - deus vult" ( Schlachtruf der Kreuzfahrer im Heiligen Land!),
dass wir uns wiederfanden.

Das Schaf fand zur Herde. Eine schöne Allegorie.


Nicolae Radoi war ein sehr erfolgreicher Schäfer im Banater Bergland.


Wie kam der Kontakt zustande?

Uber den Banatblog unter:

http://www.banatblog.eu/banater-autoren-carl-gibson-symphonie-der-freiheit/comment-page-3#comment-16601

Radoi schrieb dort folgendes:


"Draga Carl Gibson,
Am gasit comentariul d-voastra la addressa :

http://istoriabanatului.wordpress.com/2010/04/01/mircea-rusnac-contributii-banatene-la-miscarea-de-opozitie-religioasa-anticomunista-a-l-r-c-1978/

am ramas impresionat de ce a-ti scris si vreau sa ne intilnim.
telefon meu este : 1(830) 688 – 0050
scriemi pe blogul meu:

 http://www.radoinicolae.blogspot.com/
felictari pentru carte:

Radoi Nicolae, eu locuiesc acum in san antonio, Texas.
aceste rinduri au fost scrise de un prieten de al meu Tarziu Ioan, din NEW YORK"


Bereits vor Jahren hatte ich angeregt, die Materie ALRC ausgiebiger zu erforschen, nachdem im
"Report zur Analyse der kommunistischen Dikatur in Rumänien"
des Historikers und Präsidenten-Reportkoordinators Vladimir Tismaneanu, Professor an der Universität Maryland, USA, und seiner 50 Autoren einiges über ALRC und SLOMR geschrieben worden war.

http://tismaneanu.wordpress.com/


Der Historiker Mircea Rusnac nahm die Arbeit auf und publizierte zwei Arbeiten,
eine über ALRC:

http://istoriabanatului.wordpress.com/2010/04/01/mircea-rusnac-contributii-banatene-la-miscarea-de-opozitie-religioasa-anticomunista-a-l-r-c-1978/


und eine über SLOMR in Temeschburg (Timisoara) Banat, Rumänien:

http://istoriabanatului.wordpress.com/2010/02/21/mircea-rusnac-s-l-o-m-r-sindicatul-liber-al-oamenilor-muncii-din-romania-1979-aspecte-banatene/


.


Foto: Carl Gibson

Denkmal für die Opfer der antikommunistischen Revolution von 1989,
die in Temeschburg ihren Anfang nahm.
Im Hintergrund die Oper. 


Auszug aus meinem Buch "Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur":



Ein Hirte aus dem Bergland – oder: Von der Freiheit, für seinen Glauben einzustehen

Deus volunt!
Schlachtruf der Kreuzfahrer


In der Zelle herrschte eine natürliche Fluktuation. Von Zeit zu Zeit wurde ein Häftling ent-lassen oder nach schwer zu erratenden Kriterien verlegt. Andere kamen hinzu, unter ihnen auch so genannte Zuträger und Petzer, die gezielt eingeschleust wurden, um den wach-habenden Offizieren zu berichten, was in der Zelle ablief und was diskutiert wurde. Die In-formationen der Erpressten konnten dann für weitere Erpressungen eingesetzt werden. Im Rahmen eines solchen Austausches wurde eines Tages ein Häftling in meine Zelle verlegt, dessen Nähe ich bald suchen und mit dem ich mich auch rasch anfreunden sollte.
Er war ein Mann wie ein Bär; groß, etwas korpulent, gutmütig und unscheinbar, ein Rund-kopf mit Mondgesicht und blonden Haaren. Das Haupt einer Großfamilie mit vier, fünf Kindern hatte eine einjährige Gefängnishaft abzusitzen, obwohl ihm keine eigentliche Straf-tat vorzuwerfen war. Dieser Hüne hieß Nicolae mit Vornamen wie der geliebteste Sohn des Vaterlandes, Staatschef Ceausescu, wie Nick aus Bukarest und wie jener Clown aus dem Gerichtssaal, dessen Verdikt unser Hiersein zur Folge hatte. Er war ein fromm gewordener Christ, ein Neoprotestant und als Baptist ein Glaubensbruder des amtierenden amerikani-schen Präsidenten Carter – für uns war er nur Lae.
Nach einem Saulus-Paulus Erlebnis hatte Lae sein sinnlich sündhaftes Leben aufgeben und war, erleuchtet durch die feurigen Zungen zu Pfingsten, auf den Pfad der Tugend zurück-gekehrt. Wie einst ein späterer amerikanischer Präsident hatte er einen neuen Pfad beschritten und sein Seelenheil bei einem Gott hinter den Sternen gefunden. Der Alkohol, dem er zeitweise verfallen war, hieß nunmehr Satan. Inzwischen war aus ihm ein wahrer Christ geworden, ein pietätvoller Christ, ein geläuterter Phönix, wahrhaftig verändert der Asche entstiegen. Das Christentum im Verständnis der Baptisten war nunmehr seine einzige geistige wie religiöse Heimat; und Christus war für ihn der persönliche Gott überhaupt, während der Teufel, den er früher konkret in Rausch und Zorn erfahren hatte, ihm hier noch genauso präsent war als die leibhaftige Verkörperung des Bösen im Gefängnisumfeld. Sein Gottesbegriff und seine naive Religiosität erinnerten mich an mein frühes Suchen als Kind, als ich mir in der Auseinandersetzung mit dem katholischen Religionsunterricht mein Gottesbild zurechtzulegen versuchte und mich fragte, wie die Schlange ins Paradies kam.
Was hatte Lae eigentlich verbrochen? Gegen welche Gesetze hatte er verstoßen? Er war, wie ich es aus seinen mehrfachen Schilderungen erfahren hatte, während eines Gottes-dienstes zusammen mit anderen Glaubensbrüdern recht heftig an die Securitate geraten, die herbei geeilt war, um eine nicht genehmigte religiöse Feier zu unterbinden. Mutig und ent-schlossen hatte er – nach dem Vorbild Christi im Tempel – die rüden Staatsdiener einfach aus dem selbst errichteten Gotteshaus hinaus geworfen. Einfach so, aus dem unmittelbaren Gefühl heraus. Selbst die Frauen der Gemeinschaft hatten sich auf die Atheisten gestürzt und entschlossen die Kultstätte verteidigt. Für diesen Widerstand gegen die Staatgewalt war er dann zusammen mit zwei weiteren Baptistenführern verurteilt und mit Haft bestraft wor-den. Das war seine Geschichte, zumindest die Version, die er im Gespräch mit mir zum Bes-ten gab. Denn noch vertraute er mir nicht ganz. Vielleicht wollte ich ihn ja nur aushören? In Wirklichkeit hatte er viel mehr auf dem Kerbholz.
Nicolae Radoi war einer der neun Gründungsmitglieder des Christlichen Komitees zur Ver-teidigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Rumänien, einer kaum erst ins Leben ge-rufenen oppositionellen Organisation, die sich der schweizerischen Christian Solidarity In-ternational angeschlossen hatte. Zwei weitere Mitglieder, die Baptistenprediger Petre Co-carteu und Dimitrie Ianculovici, waren ebenfalls hier, nur in anderen Zellen. Ihre Grün-dungsaktion war als ein politischer Akt interpretiert worden, der sich gegen das kommunis-tische Regime richtete. Darüber schwieg Lae zunächst, obwohl er wusste, dass wir beide ei-gentlich politische Häftlinge waren, eine Spezies, die es offiziell gar nicht geben durfte.
„Gibt es ein Recht auf Widerstand, ein natürliches Widerstandrecht, Lae?“ fragte ich ihn, nachdem er mir die Rauswurfaktion lebhaft ausgemalt hatte.
„Es gibt sogar eine Pflicht zum Widerstand!“ brach es aus ihm hervor. Seine Augen leuchte-ten vor Begeisterung. Die feurigen Zungen von Pfingsten, ein Fest das wie alle anderen oh-ne Spur an uns Häftlingen vorüber zog, nährten ihn scheinbar immer noch.
„Immer, wenn die Staatsmacht die Menschenrechte mit Füßen tritt, müssen wir Bürger ein-schreiten und unsere biblisch angestammten Rechte verteidigen. Christus, der Herr, hat es uns vorgemacht und uns gezeigt, wie wir handeln müssen! Schau in die Bibel – die Heilige Schrift hat auf alle Fragen eine Antwort! Sie ist das Gesetz. Nach ihren Vorgaben müssen wir handeln. Lese darin, und du wirst meine Worte verstehen.“




Foto: Carl Gibson

Die alte Bastei aus der k. u. k. -Zeit - Treffpunkt Andersdenkender, Ort der "Konspiration" und der Aushorchung durch Spitzel der Securitate.




Religiöse Dissidenz – oder: Von der Vision einer freien Kirche in einem freien Land


Da Lae bereits einige Zeit in Erwins Zelle verbracht und sich dort mit ihm angefreundet hat-te, kannte er unseren nonkonformistischen Werdegang bereits. Und er wusste genau, wes-halb wir saßen. Nur er redete nicht gern darüber, weil ihm das Politisieren nicht lag. Wir verstanden uns auf Anhieb, ohne dass es bedurfte eines tieferen Kennenlernens bedurft hätte – denn wir waren nicht nur gemeinsame Passionsgefährten; sondern wir waren auch, obwohl die Bezeichnung offiziell peinlichst vermieden wurde, faktisch allesamt politisch Verurteilte und als solche miteinander solidarisch.
Trotzdem witterte Lae, der eher von religiösen Impulsen bestimmt wurde als von ideo-logischen, in mir den Ungläubigen, den frivolen Ketzer, der gern auch Mal einzelne Bibel-geschichten verhöhnte, während er in meinem Gefährten den Bruder sah. Intellektuelle Aus-einandersetzungen waren ihm fremd. Vor allem das Gefasel von monotheistischen und dualistischen Weltinterpretationen, von zoroastrischen, manichäischen oder anthropo-sophischen Deutungen wollte er nicht hören. Er hatte seine Linie – und das genügte.
„Lae“, sprach ich ihn während eines ruhigen Moments an, „mir ist beim Duschen einer dei-ner Glaubensbrüder begegnet; ein kleines drahtiges Männlein, mit langem Kopf und starkem Bartwuchs. Er berichtete mir von den oppositionellen Abläufen draußen…und hatte Nach-richten aus Bukarest und aus Paris? Wer war diese fragile Gestalt?“
„Das kann nur Dimitrie Ianculovici gewesen sein! Einer unserer besten Prediger in Karan-sebesch. Wir kennen uns seit Jahren. Treu ist er und absolut zuverlässig! Du kannst ihm blind vertrauen.“
„Weshalb hat man ihn eingesperrt?“, bohrte ich weiter.
„Es hat mit unserer Vereinigung zu tun, mit dem Komitee zur Selbstverteidigung der Chris-ten. Wir haben es zusammen mit unserem Freund Pavel Nicolescu, den sie schon nach New York abgeschoben haben, und einigen anderen Baptisten aus der Region gegründet. Petre Cocarteu, unser anderer Prediger, ist auch hier. Er wird bald entlassen werden – und dann bin hoffentlich auch ich dran. Die Securitate hat unseren Zusammenschluss längst aufgelöst. Sie dulden keine Form der Opposition, auch keine religiöse. Jetzt wollen sie uns in alle Winde zerstreuen…unsere Vereinigungen unterbinden, die Gemeinschaft der Gläubigen zerschlagen… aber wir werden uns wieder treffen, feiern, singen…und neue Zentren grün-den, auch ohne ihre Zustimmung, wenn der Herr es so will! Du weißt, ich bin Hirte und weiß, wie man eine Herde zusammen hält…manchmal braucht man auch ein paar Hunde dazu. Gott hat uns den Weg gezeigt. Wir werden nicht wanken, sondern weitermachen, so wie die ersten Christen in den Löwenkäfigen der Römer! Damals wurden die Urchristen von Diktatoren verfolgt. Von Nero, Caligula, selbst von Mark Aurel, dem Philosophen im Kai-sergewand. Heute ist es nicht viel anders, heut sind wir Baptisten dran, nachdem man die griechisch-katholischen Christen schon ausgerottet hat. Stalin, dieser Teufel, hat den Hass gesät! Und unsere Kommunisten hier, seine Helfershelfer von Anfang an, machen in seinem Sinne weiter mit ihren Verfolgungen. Sie wollen eine reine atheistische Gesellschaft auf-bauen, eine Welt, die ohne Gott auskommt, ohne göttliches Recht und ohne Menschenrechte für alle! Sie hetzen nun wieder gegen uns in der Presse, verunglimpfen und verspotten uns als einfältige und rückständige Menschen! Doch wir vertrauen auf das Gute…und wir hof-fen auf Amerika! Präsident Carter, der, wie du vielleicht schon erfahren hast, ein be-kennender Baptist ist und ein exzellenter Prediger noch dazu, wird uns nicht verlassen – wie auch Gott uns nicht im Stich lassen wird!“
Aus Laes Ausführungen war deutlich herauszuhören, dass er sich als Teil einer religiösen Bewegung verstand, die sich dem atheistischen System widersetzte. Doch Lae war nicht der Theoretiker der Bewegung, die auch orthodoxe Christen und vermutlich auch ungarische Katholiken mit einbezog, sondern nur ein wuchtiges Mitglied des Ganzen, ein Fels in der Brandung, der ihrer Dissidentengruppe noch mehr Gleichgewicht und Stabilität gab. Die denkerische Vorarbeit war schon früher von Iosif Ton geleistet worden, einem freisinnigen Baptisten, der in England studiert hatte und danach heimgekehrt war, ferner von Nicolescu und Cocarteu, den beiden Predigern des Kreises. Ohne die denkerische Vorarbeit, die in un-serem Fall im OTB-Kreis von dem Alten und dem Musiker geleistet wurde, wäre eine dau-erhafte oppositionelle Struktur nicht möglich gewesen. Es bedurfte dieser mehrjährigen Vorarbeit, um das entsprechende Bewusstsein des Ankämpfenden zu formen. Doch Lae ging der politischen Diskussion aus dem Weg, wohl aus Furcht, Cocarteu und Ianculovici irgendwie belasten zu können. Wir waren nach wie vor belauscht mit Ohr und Blick – und im Grunde konnte keiner dem anderen Vertrauen.
Lae selbst war angewiesen worden, über die vertraulichen Gespräche mit mir zu berichten. Davon erfuhr ich erst unmittelbar vor seiner Entlassung. Unsere theologischen Debatten hingegen waren weitaus unverfänglicher, nicht zu letzt deshalb, weil sie von lauschenden Ohren weder richtig verstanden, noch umfassend wiedergegeben werden konnten.
„Meinst du, Lae, es ist göttlicher Wille, dass wir hier im Kerker sitzen? Dass man uns der Freiheit beraubt und uns der Angst und dem Schrecken preisgibt? Kann Gott das wollen?“ provozierte ich weiter, um auszutesten, wo Laes Toleranz endete. Lae hatte weder etwas von Epikur gelesen, noch von Dostojewski oder Nietzsche. Was kümmerte ihn die Theodizee?
„Quäle mich nicht mit solchen Sachen!“, gab er ungehalten zurück. „Was Gott tut, ist gut getan. Wir müssen daran glauben. Und nicht immer unsinnige Fragen stellen wie kleine Kinder, die noch nichts von der Welt verstehen. Zweifle nicht an Gott, glaube an ihn. Gott ist unsere Stütze, auch hier in der Zelle. Nur durch ihn werden wir Erlösung finden. Und wenn er will, dass wir hier eine Weile leiden, dann wird das richtig sein. Wir können den letzten Sinn der Dinge nicht durchschauen. Wir können auch nicht in Gottes Plan eingreifen. Die Allmacht brauchen wir nicht zu erkennen; wir können sie fühlen.“
Laes Argumente überzeugtem mich zwar nicht ganz – doch ich wollte nicht weiter den Ad-vocatus diaboli spielen und, wie ein Naphta auf dem magischen Berg, in ihn dringen, um ei-ne Rechtfertigung Gottes, einen Gottesbeweis oder eine Begründung des Bösen in der Welt zu hören. Hinweise, die gegen eine prästabilierte Harmonie und gegen eine höheren Sinn der Schöpfung sprachen, gab es viele vor unseren Augen als Unrecht und Leiden. Nicht zuletzt waren unsere Biographien ein Teil davon.
Lae war überzeugt, die unselige Zeit des Kommunismus würde irgendwann zu Ende sein, wenn Gott in seiner Weisheit und Güte dies so beschlossen hatte. Vielleicht führte er, dass ein anderer Erzengel nahen würde, ein andere Michael, der den Weg dazu bereiten würde. Wenn alles vorherbestimmt war, dann war jener Michael schon unterwegs – aus der Wüste nach Moskau und von dort in die Welt.
Während ich ein weltanschaulicher Skeptiker blieb, bereit, an allem zu zweifeln, nur nicht an der eigenen Individualität, und damals dem Pantheismus näher stand als mono-theistischen und dualistischen Weltanschauungen, hielt Lae unerschütterlich an einer persönlichen Gottesvorstellung fest, an seinem Christus, der Gewissheit geworden war. Mit etwas Neid bewunderte ich Laes Naivität, hinter der sich ein fester Glaube verbarg und ein hohes Maß an kosmischer Geborgenheit, konnte sie aber nicht übernehmen, da mir die religiöse Innerlichkeit fehlte. Man ist entweder zum Homo religiosus geboren oder zum aufgeklärten Freidenker bestimmt. Trotz der Einsicht in die tiefere Notwendigkeit eines festen Glaubens gerade hier in der Enge der Zelle konnte ich nicht aus meiner Haut heraus. Das war immer schon so. Rationalität und Einsicht konnten keinen Glauben hervorbringen. Ich war eben kein Augustinus, kein asketischer Anachoret, auch kein Mystiker, der Jesus als das Prinzip der universellen Liebe verinnerlicht hat, sondern ein aufgeklärter Mensch der Jetztzeit, der die Gottferne auf seine Art zu bewältigen hatte; über die bloße Vernunft und über das folgerichtige Denken. Religiöser Fanatismus und Fundamentalismus empfand ich als Sackgasse, als der Freiheit entgegengesetzte Prinzipien, die die Welt unsicherer machten. Einige weltpolitische Ereignisse, die mich noch vor der Verhaftung betroffen gemacht, ja geschockt hatten, verwiesen darauf. In Pakistan wurde der reformerisch orientierte Zulfilkar Ali Bhutto von rechtskonservativen Putschisten unter General Zia ul-Haq gestürzt und am Tag unserer Verhaftung am Strang hingerichtet – eine Diktatur mehr auf der Welt. Und in den instabilen Iran, der den Schah verjagt hatte, kehrte ein anderer finsterer Retter zurück: Ayatollah Chomeini. Doch von den kommenden Entwicklungen, die das Ende des Baptistenidols und Menschenrechtlers Jimmy Carter einleiten sollte, ahnten wir beide in der tiefsten Abgeschiedenheit einer rumänischen Gefängniszelle noch nichts.
Im Gegensatz zu mir hatte Lae hatte sogar zwei Seelen in seiner Brust, Wesenheiten, die grundverschieden waren und doch nicht auseinanderstrebten und ihn zerrissen, sondern in eigener Eintracht im Ausgleich bestehen konnten. Die eine Seele führte ihn hinauf, mehr im Glauben als im Erkenntnisstreben, hin in höhere Sphären des Metaphysischen, die Andere aber band ihn an die Scholle, von der er seit Generationen lebte. Einerseits war er der bibel-feste Hirte, der seine Lämmer weidete, der konservativ fühlte und ein familien- und gemein-schaftsbezogenes, gottgefälliges Leben führte, zu dem er nicht viel mehr brauchte als ein paar Freunde, seine Glaubensbrüder und die intakte Natur des Banater Berglands auf dem Munte Semenic; andererseits fuhr er mit einer schwarzen Wolga, eine Marke, die eigentlich nur Parteibonzen zur Verfügung stehen sollte, durch die Gegend und arbeitete noch als Fernfahrer, selbst im westlichen Ausland. Solange seine kopfstarke Familie zurück blieb, durfte er die Grenzen passieren. Das weitete seinen Horizont und verschaffte ihm Einblicke in die demokratischen Wertestrukturen des Westens, die den meisten Rumänen verborgen blieben. Da er seine beiden Welten gut miteinander zu verbinden verstand und darüber hin-aus auch noch ein tüchtiger Mann war, gelang es ihm, in kurzer Zeit ein beachtliches Ver-mögen aufzubauen. Er wurde zum Millionär, und dies vor der galoppierenden Inflation, die sich später mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Niedergang Rumäniens einstellte.
Privater Wohlstand jedoch war den Kommunisten ein Dorn im Auge, reizte sie und forderte sie heraus. In einem Staat, wo alle gleich arm sein sollten, ausgenommen Parteimitglieder, die privilegiert über eigene Kanäle versorgt wurden, galt ein wohlhabender Bürger als Pro-vokation, als Herausforderung der sozialistischen Gesellschaft. Schließlich hatte man doch gerade erst mit großem Aufwand alle bürgerlichen Strukturen des alten Klassenfeindes zer-schlagen – und jetzt regte sich die private Initiative erneut…und war sogar effizienter und erfolgreicher als die sozialistische Kolchos- und Planwirtschaft. Eine Ungeheuerlichkeit! Konnte das mit rechten Dingen zugehen? Oder waren diese antisozialistischen Empor-kömmlinge nichts anderes als Räuber, die sich aus dem Volkseigentum bedienten? Freche Diebe, die sich auf Kosten anderer und der Volksgemeinschaft bereicherten? Dagegen gab es strenge Gesetze!
Lae hatte ein großes Haus, eine wohlgenährte Familie, zeitweise sogar eine Mercedes-Limousine und noch einen stattlichen Batzen auf der einzigen Bank im Land – bei der staat-lichen CEC! Bestimmt hatte er auch noch einiges im Strohsack oder irgendwo im Berg ver-graben. Die Tatsache, dass er auch noch ein Baptist war, ein religiöser Sektierer, der sich von der gleichgeschalteten Orthodoxen Kirche absetze, der die aufgeklärte, atheistische Weltanschauung ablehnte, um an einer rückständigen Gottesvorstellung festzuhalten, mach-te ihn doppelt verdächtig.
„Alles, was sie auf meinem Hof gesehen haben, hat ihnen natürlich nicht gefallen“, erzählte mir der Riese, dessen Unterarm kräftiger war als mein Oberschenkel, im Vertrauen.
„Sie sind eines Tages zu viert bei mir angerückt, mit einem Buchalter, und haben mich zur Rede gestellt, wo das Ganze her sei. Sie wollten mich natürlich brennen, kriminalisieren, einsperren – doch ich habe genau nachweisen können, woher der Besitz stammt. Ich habe ihnen meine Lohnzettel als Fernfahrer vorgelegt. Dann habe ihnen ausführlich erklärt, was ein Hirte so alles erarbeiten kann, wenn er gut wirtschaftet. Du weißt es sicherlich! Wir Ru-mänen sind ein Hirtenvolk! Die Mioritza kündet davon! Drei Landesteile – drei Hirten…Die Schafe durchziehen unser Leben und unsere Literatur wie die Esel unsere Politik, seit Jahr-hunderten! Wir Rumänen verstehen etwas von Schafwirtschaft… Bei der Prüfung habe ich den Leuten von der Geheimpolizei und der Partei genau dargelegt, wie viele Lämmer im Jahr aus einer Herde von sechshundert Schafen hervorgehen, wie diese vermarktet werden, was die Wolle einbringt, was mit der Milch geschieht und wie unser guter Käse entsteht, wie er gelagert und zu welchen Preisen er auf dem Markt verkauft wird…ich habe alles schwarz auf Weiß dargelegt, und ihnen alles vorgerechnet, präzise, mit spitzem Stift. Schließlich mussten die Burschen die Zahlen anerkennen und abziehen, ohne mich wegen illegaler Be-reicherung einlochen zu können. Das war ein Glück. Denn eine ungerechtfertigte Be-reicherung hätte mir ein paar Jahre mehr eingebracht. Also bin ich heilfroh, nur als Christ verurteilt worden zu sein! Als bescheidener Märtyrer unseres Glaubens, für christlichen Widerstand gegen Hammer und Sichel, im Einsatz für das Kreuz! Für eine Abwehrhaltung, für Notwehr gegen die Allmacht eines ideologieblinden Staates! Wenn Gott will, werden die feurigen Zungen auch noch andere erfassen und ihnen den rechten Weg weisen!“
Lae war kein großer Redner; doch seine Worte hatten Substanz. Er war gut doppelt so alt wie ich und weitaus reicher an Lebenserfahrung.
Nach Laes Ausführungen wurde mir schlagartig bewusst, dass auch meine Eltern, die im privaten Sektor mehr erwirtschafteten als über das offizielle Einkommen herein kam, eben-falls jederzeit mit solchen Anschuldigungen konfrontiert werden konnten. Noch gefährdeter waren jene Gemüsebauern aus Triebswetter, woher meine damalige Freundin Edith stammte und Richard, der über die Donau entkommen war, die mit Paprika ein Vermögen verdienten. Da es im Land kein Steuersystem gab, und die Erlöse aus dem Verkauf der Produkte, nach Abzug von Maut und Standgebühren, fast dem Reingewinn gleichkamen, schwammen ein-zelne Erzeuger im Geld. Das repressive System scheute es jedoch nicht, gerade in den Rei-hen der deutschen Minderheit durchzugreifen, wenn nur der leiseste Verdacht einer illegalen Tätigkeit aufkam. Unterschlagung und Bestechung waren ähnliche Delikte, wo man gern nach einem deutschen Sündenbock suchte. Wenn die Situation es hergab, suchte die Polizei gezielt nach einem Baptisten, einem Deutschen, einem Ungarn oder einem Anderen, um ei-ne Straftat zu rechtfertigen und zu ahnden. Blond und Schwarzbraun galten als verdächtige Farben. Allein in meinem persönlichen Umfeld gab es Beispiele dafür.
Was wurde aus Lae, in dessen Biographie sich so viele Abgründe des totalitären Systems spiegelten? Was wurde aus dem fromm gewordenen, religiösen Dissidenten, der mit seinen Glaubensbrüdern von einer freien Kirche in einem freien Staat träumte? So hatten sie ihr I-deal in einer Erklärung selbst definiert. Sie gingen dorthin, wo die Religionsfreiheit sehr großzügig gehandhabt wird; sie gingen nach Nordamerika und dienten dort im Rahmen ihrer Gemeinschaft ihrem Gott auf ihre Weise. Zumindest einigen von ihnen gelang der Aus-bruch. Die Gründungsmitglieder des Komitees zur Verteidigung der Religionsfreiheit im Rumänien, die Prediger Pavel Nicolescu und Petre Cocarteu, lehren auch heute noch das Wort Gottes im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dimitrie Ianculovici, wesentlich sensibler und zerbrechlicher als seine Mitstreiter, verfiel, in der freien Welt angelangt, der Depression, dann dem Alkohol und irrt heute, nachdem er seit vielen Jahren seine Frau ver-lor, haltlos durch die nächtlichen Pubs von New York – als Opfer der Freiheit oder als Op-fer eines totalitären Systems, das ihm die Geborgenheit seiner Heimat raubte.
Und Lae? Der Bär aus dem Banater Bergland? Was ist aus ihm geworden? Erwin besuchte ihn, als ich schon längst das Land verlassen hatte, oben auf dem Semenic, im Kreis seiner Lieben, wo gerade mit Gästen und Glaubensbrüdern aus dem Ausland Gottesdienst gefeiert wurde. Sie wollten ihn gleich dort behalten – als Teil der Gemeinschaft. Doch dann ver-schlug es Lae doch noch nach Kalifornien, wo sich seine Spur zunächst verlor. Andere Mit-glieder der religiösen Dissidenzbewegung, die an der Seite der Ausgewanderten gestritten hatten, war weniger Glück hold. Wie aus dem Präsidialreport zur Analyse der Diktatur in Rumänien hervorgeht, starben einige von ihnen unter rätselhaften Umständen, nicht anders als weitere Systemgegner, die einfach beseitigt wurden. „Gott ist groß“, sagte Lae, „und Leid und Ungerechtigkeit stammen von den Menschen!“ Durfte ich ihm da widersprechen?”


Der Dom in Temeschburg heute

Mehr zur Banater Geschichte und Opposition hier auf diem Blog bzw.  unter
http://istoriabanatului.wordpress.com/2010/04/01/mircea-rusnac-contributii-banatene-la-miscarea-de-opozitie-religioasa-anticomunista-a-l-r-c-1978/


Weiteres über Nicolae Radoi und seine Auflärung als Zeitzeuge auf seinem Blog ( in rumänischer Sprache) unter:

http://radoinicolae.blogspot.com/

Die Oppositionszeit vereint uns - von der Securitate-Folterstube, übers "Gericht" bis in die Gefängniszelle.
Für Herta Müller war die Securitate-Verfolgung ein literarisches Sujet - für uns war alles echt.
Und der Löwe hat damals noch Zähne.


Nach einem "kurzen Prozess" ohne "Verteidiger" in "öffentlicher Verhandlung"
mit ausschließlich Securitate- und Miliz-Kader als Zuschauer und Publikum,
wurden Erwin Ludwig und Carl Gibson in das Gefängnis Popa Sapca
( nur 300 Meter von Gericht und der Securitate-Zentrale am damaligen Leontin-Salajan Boulevard entfernt) eingeliefert.


Im neuen Glanz - Die "Folterkammer der Securitate" am damaligen Leontin Salajan- Boulevard.
Foto: Carl Gibson

Im neuen Glanz - Die "Folterkammer der Securitate" am damaligen Leontin Salajan- Boulevard. heute.

Nach "Stalinisten" benannte Straßen wurden inzwischen in Rückbesinnung auf bürgerliche und monarchische Traditionen umbenannt, Fassaden wurden neu gestrichen -
das Innenleben der Gebäude ist aber oft noch identisch mit dem der Geist der alten Zeit. 

 Polizei und Miliz (links im Bild) nutzen das Bollwerk der Unterdrückung und massiver Menschrechtsverletzungen weiter. 




Das Gericht (Dikasterialgebäude) in Temeschburg, Banat heute.
Foto: Carl Gibson



Hinter diesen Mauern wurden Erwin Ludwig und Carl Gibson,
die Gründer der "Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger "SLOMR"  in Timisoara "
am 6. April 1979 zu je sechs Monaten Gefängnishaft verurteilt.


Weiterführendes zur SLOMR:

http://de.wikipedia.org/wiki/Sindicatul_Liber_al_Oamenilor_Muncii_din_Rom%C3%A2nia

bzw: http://istoriabanatului.wordpress.com/2010/02/21/mircea-rusnac-s-l-o-m-r-sindicatul-liber-al-oamenilor-muncii-din-romania-1979-aspecte-banatene/

http://en.wikipedia.org/wiki/SLOMR

http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Gewerkschaften_(Osteuropa)


http://origin.europalibera.org/content/article/1458425.html (Audio)

http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4191832,00.html




Der "Knast" oder "Bau" in der Popa Sapca-Straße, heute -

Das Gefängnis, wo immer schon "politische Häftlinge" einsaßen.

Foto: Carl Gibson

Eine Gedenktafel am Eingang erinnert heute daran.
Hier saß auch Nicolae Radoi ein.

Ein seltenes Foto - Freunde weigerten sich mehrfach, die Haftanstalt auf meine Bitte hin zu fotografieren;
die Angst vor Repressalien steckt immer noch in den Knochen ehemaliger Staatsbürger.



In den Westen gerettete Bilder zu Nicolae Radois Vita/ Curriculum:


Die Kommunisten haben uns alles genommen,
Haus und Hof,
materielle und immaterielle Güter,
tatsächliche Werte,

einigen nahmen sie die Ehre,
anderen die Würde.

Ein paar Erinnerungen blieben,
auch an Nicolae Radoi ( aus besseren Tagen).
In Rumänien war er ein reicher Mann - als er 1980 in Amerika ankam, hatte er nicht einmal das Geld, um seine Familie zu ernähren.

Es war wie bei Hiob - Gott gab ihm viel
und nahm ihm alles wieder
über die Geißel des Kommunismus -

und nun - im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten",
gab ihm Gott alles wieder zurück!?

Erinnerungen - Amintiri:


Treffen auf dem Semenic.

Der Hüne in derMitte ist Nicolae Radoi,
neben ihm oben: SLOMR-Mitgebründer Erwin Ludwig.



Die Gefährten aus der Gefängniszelle,
Baptist und Widerständler Nicolae Radoi
und Erwin Ludwig von der "freien Gewerkschft rumänischer Arbeiter" "SLOMR",
der ersten in Osteuropa,
ein Jahr vor "Solidarnosc" in Polen.



Picknick auf dem Semenic im Banater Bergland.


Unter Freunden

- Solidarität der Verfolgten.

Im Hintergrund ein PKW der Marke "Wolga",
Laes Wohlstandsausweis nach außen.
Aus dem "Reichtum" wollten die Kommunisten ihm einen Strick drehen, siehe Kapitel oben.


Der gleich Kreis - als die Begegnung stattfand, Monate nach unserer Entlassung aus dem Gefängnis,
weilte ich bereits in der Bundesrepublik.


Mehr zum Thema Kommunismus hier:
Allein in der Revolte -
Carl Gibsons neues Buch
zur kommunistischen Diktatur in Rumänien -
über individuellen Widerstand in einem totalitären System.

Allein in der Revolte -
im Februar 2013 erschienen.

Das Oeuvre ist nunmehr komplett.
Alle Rechte für das Gesamtwerk liegen bei Carl Gibson.
Eine Neuauflage des Gesamtwerks wird angestrebt.
Carl Gibson

Allein in der Revolte, Buchrückseite


Fotos von Carl Gibson: Monika Nickel

©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.




Carl Gibson, Autor, Philosoph

Rumänische Geschichte, Wichtige Dokumente zum Widerstand in der Ceausescu-Diktatur,


Über Carl Gibsons neuestes Buch „Allein in der Revolte“,


Luzian Geiers „Mehr als „eine Jugend im Banat“,
eine Rezension, die keine ist

Gegendarstellung des Autors Carl Gibson mit Richtigstellungen und wesentlichen Zusatzinformationen.


 Carl Gibson, Allein in der Revolte, 


Online-Fassung (nach meiner Intervention bereits redaktionell abgeändert, korrigiert) hier:

http://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/13649-allein-in-der-revolte-carl-gibsons.html



Ist Luzian Geiers „Mehr als „eine Jugend im Banat“ über Carl Gibsons neuestes Buch „Allein in der Revolte“, besprochen in der „Siebenbürgischen Zeitung“ (Druckausgabe!) vom 15. August 2013 eine gut gemeinte Gefälligkeitsrezension?

Gefälligkeitsrezensionen sind bekanntlich kontraproduktiv – sie schaden dem Autor und dem Rezensenten, weil sie auf Anhieb als konstruiert durchschaut werden und in der Regel an des Pudels Kern vorbei gehen, auch wenn sie scheinbar kritisch daherkommen.
Eine Buchbesprechung dieser Art ist zweifellos Luzian Geiers jüngster Schnellschuss.
Obwohl der Journalist Luzian Geier, der sein Handwerk bei KP-Genosse Nikolaus Berwanger in Temeschburg im Banat bei der „Neuen Banater Zeitung“ erlernte, mein Werk bestenfalls quergelesen, also nur oberflächlich durchblättert hat, tut er in seiner „Besprechung“ so „als ob“ das Gegenteil der Fall sei.
Statt den essentiellen Fragen auf den Grund zu gehen, statt die Leistung einer mehrjährigen, intensive Forschungsarbeit herauszustellen, sie zu würdigen oder zu tadeln, verbeißt sich der Rezensent haarspalterisch-pedantisch am Akzidentiellen.
Dabei lenkt vom – gewollt oder ungewollt – vom Wesentlichen ab, von der eigentlichen Substanz des Buches, von seiner Botschaft und dem ihm immanenten Geist.
Namentlich wird das besondere Anliegen der Publikation in zwei Bänden, namentlich die Aufklärung kommunistischer Verbrechen und grober Menschenrechtsverletzungen während der Ceausescu-Diktatur in Rumänien, praktisch unterschlagen – mit Absicht oder nicht!?
Die wichtigsten Sach-Informationen zur Publikation, die zur Lektüre ermuntern sollen, bleiben ebenfalls auf der Strecke
So erfährt der werte Leser, der eine angemessene Auseinandersetzung mit aufklärenden Materie aus der Insider-Sicht eines oppositionellen Antikommunisten erwartetet, in dieser etwas merkwürdigen Buchpräsentation nicht explizit, dass mit dem fünf Jahre verspätet vorgelegten Band
„Allein in der Revolte“
eben der lange ausstehende, nur durch Intrigen verhinderte, zweite Teil der „Symphonie der Freiheit“ der Öffentlichkeit präsentiert wird –
und somit ein weiteres Werk zur Geschichte der konkreten politischen antikommunistischen Oppositionen in Rumänien während der Ceausescu-Diktatur, zum Widerstand bzw. zur Gründung der freien Gewerkschaft rumänischer Arbeiter SLOMR.

Die Veröffentlichung der Publikation, die im eigentlichen Sinne des Wortes nicht „neu“ ist, sondern dem Ausausarbeitungsstand der „Symphonie der Freiheit“ (2008) entspricht, musste – trotz eindeutiger vertraglicher Regelung nach jahrelangem Hin und Her zwischen Autor und Verlag – letztendlich juristisch durchgesetzt werden.

Wer dieser Autor Carl Gibson ist, erfahren die bundesdeutschen Leser (auch jene der Online-Ausgabe der SbZ) in Luzian Geiers Rezension ebenfalls nicht, vermutlich weil der aus der Nachbargemeinde Jahrmarkt im Banat herstammende Rezensent davon ausgeht, dass die aus Rumänien ausgesiedelten Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben ihre Pappenheimer wohl kennen … wie jenen bunten Hund.

Ob hier ein reiner „Schriftsteller“ aus der Langeweile heraus nur fiktionale, „schöngeistige Literatur“ produziert und postdadaistische Experimente in die Welt setzt oder ob ein durch mehrere einschlägige Buchveröffentlichungen ausgewiesener „Historiker“ ein weiteres Sachbuch veröffentlicht, ein „zeitkritischer Philosoph“ einen tausend Seiten-Essay über Freiheit und Widerstand, Material, aus dem eine Herta Müller wohl zehn bis zwanzig dünne Büchlein fabriziert hätte, oder ob letztendlich ein ganz normaler, (unbedeutender) Zeitzeuge spricht, der bestimmte Ereignisse während der Zeit des kalten Krieges und der Konfrontation zweier ideologisch antagonistischer Blöcke miterlebt hat, um diese dann a posteriori subjektiv darzustellen, erfahren die Leser ebenso wenig, obwohl der zweite, doppelte Untertitel das aussagt:

Aufzeichnungen eines Andersdenkenden –
Selbst erlebte Geschichte und Geschichten aus dem Securitate-Staat

Nach Geier artikuliert sich da nicht etwa ein „ehemaliger Bürgerrechtler“, der in die „antikommunistische Opposition schlitterte“, weil ein repressives, totalitäres System ihn in diese Rolle gedrängt hatte - und der dann mehrere Jahre seines Lebens die Kommunisten und die Unterdrückungsformen der verbrecherischen kommunistischen Partei bekämpfte, sondern ein ganz beliebiger Autor, der sich quasi selbstgefällig selbst zum „Andersdenkenden“ stempelt und der ein beliebiges Buch vorlegt, das er als gar als „Lebenswerk“ verstanden wissen will.
Diese undifferenzierte Ambivalenz, die mich in ein falsches, ja hybrishaftes Licht rückt, kann ich so nicht stehen lassen, vor allem deshalb nicht, weil daraus eine unberechtigt erscheinende Selbststilisierung herausgelesen werden kann und weil die Relevanz der Publikationen so en passant untergraben wird. Auf diese Weise kann man Bücher kleinreden

Es mag sein, dass Luzian Geier, wie im Internet auf der Plattform Kulturraum Banat selbstdarstellend zu erfahren ist, in landsmannschaftlichen Kreisen, wo die „Pipatsch“ als Quintessenz der Intellektualität gilt, ein vielgefragter Referent und vielbeschäftigter Schreiber agiert.
Wenn er aber ein zeit- und ideologiekritische Buch zur Besprechung annimmt, dann sollte er –auch ohne Honorar - sauber und gewissenhaft arbeiten -wie etwa der journalistische Kollege Hans-Peter Kuhnhäuser von der „Tauber-Zeitung“, der zwei Monate seiner Zeit in die Lektüre von „Allein in der Revolte“  investierte , sich als Bundesdeutscher wacker durch die diffizile Materie kämpfte, um dann nach sechs weiteren Stunden des persönlichen, vertiefenden Gesprächs mit dem Autor Carl Gibson seinen umfassenden Bericht anzugehen.


Die am 22. Juni 2013 veröffentlichte Buchbesprechung „Auf der Suche nach Freiheit“ ist ein gründlich recherchierten Bericht, in welchem alles Wesentliche nachgelesen werden, namentlich gerade das, was bei Geier –mehr oder weniger bewusst - unter den Tisch fällt, nämlich die „Revolte“ eines Jugendlichen im Banat gegen realkommunistische Missstände.

Während der Bad Mergentheimer Journalist mein Werk aus eigenem Antrieb heraus rezensieren wollte, eben weil er sich mit der „Idee der Revolte“ gegen das Etablierte identifizierte, hat man den Eindruck, anderen Journalisten aus der systemkonformen Ecke liege das Thema Widerstand im Kommunismus überhaupt nicht, nicht zuletzt deshalb, weil sie, bevor sie die chamäleonhaft die Fronten wechselten, opportunistisch mit dem Strom schwammen wie tote Fische und nicht „gegen den Strom“!

Dann aber sollten diese ehemaligen direkten und indirekten Handlanger des Kommunismus – „cu musca pe caciula“ - konsequent bleiben, zu ihrer früheren Mitläufer-Rolle als KP-Mitglieder und Kommunismus-Rechtfertiger stehen, ohne aus falsch verstandener, vom schlechten Gewissen getriebener Kompensation die Biographie der echten Opfer des Kommunismus „würdigen“ zu wollen, auch nicht, um etwas wieder gut zu machen, denn Halbheiten verfälschen mehr als ein radikaler Verriss.
Leider Gottes tummeln sich im journalistisch-literarisch-intellektuellen Bereich überwiegend Leute mit KP-Vergangenheit, die schon aus Selbstrechtfertigungsgründen immer wieder den Bock zum Gärtner machen. Die Geschichte der echten Opfer des Kommunismus wird heute allzu oft von Tätern und Mitläufern geschrieben, die, ohne Verständnis für das Engagement, die Perspektive und Moralität des Opfers nur selten in der Lage sind, tatsächliche Leistungen der anderen Seite objektiv zu würdigen. Den kleinkarierten, oft von Neid und Missgunst und Ressentiments angetriebenen Opportunisten und Karrieristen vorn gestern fehlen in der Regel das intellektuelle Format und die menschliche Größe, den Einsatz und sie Leistungen anderer und konkret Politischen oder im Geistigen anzuerkennen. Wer selbst nichts Großes hervorgebracht hat, missgönnt dies anderen.

Viele Lügen und Mythen aus der Welt der Securitate und des Kommunismus wurden erst möglich, weil recherchefaule Journalisten nicht sauber arbeiteten. Der überwiegend positiv-wohlwollende Duktus einzelner Ausführungen der Besprechung, mit der vielleicht andere gut leben könnten, wird nicht darüber hinwegtäuschen.
Gefällige, ja schmeichelnde Bemerkungen, Carl Gibsons neues Buch sei „lesenswert und sogar empfehlenswert“ sind zwar gut gemeint, machen die Sache aber nicht besser.
Ganz im Gegenteil - sie lenken von der eigentlichen Substanz und Botschaft des Werkes ab – und sie wirken auch deshalb unglaubwürdig, weil das dagegengehaltene „Kritische“ keine Kritik ist, sondern, wie noch zu zeigen sein wird, nur an den Haaren herbei gezogene Unterstellung.

Meine Intention, im Nachwort, das einer Selbstrezension des Gesamtwerkes gleichkommt, ausführlich dargelegt, bestand nicht nur darin, das allgemeine wie politische Leben in Rumänien nach 1944 einzufangen, es plastisch zu beschreiben und zu werten – das können andere Autoren auch … und vielleicht auch besser, als ich es schilderte.

Meine eigentliche Absicht war und ist, in dem Gesamtwerk „Symphonie der Freiheit“ und „Allein in der Revolte“  einige Jahrzehnte real existierender Kommunismus-Realität einzufangen.

Darüber hinaus galt es, einige Jahre intensiv erlebter und durchlittener antikommunistischer Opposition zu schildern, aus der Sicht eines der selten gewordenen echten Securitate-Opfer der nachstalinistischen Zeit, mit einprägenden existenziellen Ereignissen, mit Securitate-Verhör, mit Folter, mit Haft, mit Menschenrechtsverletzungen unterschiedlicher Art.

Mir kam es nicht auf Unterhaltung an, auf die Fabrikation effekthaschender Belletristik, sondern vielmehr auf die „objektive Aufklärung kommunistischer Verbrechen während der Diktatur in Rumänien, die immer noch nicht erfolgt ist, nicht zuletzt deshalb, weil die öffentliche Debatte darüber noch nicht angemessen stattfand, ja verhindert wurde – unter anderem durch das systematische Boykottieren und Totschweigen einzelner Werke wie „Symphonie der Freiheit“.

Die sogar mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Belletristin Herta Müller war sich nicht zu schade, gerade diese authentischen Passagen aus meiner „Symphonie der Freiheit“ und aus den vorab veröffentlichten Teilen aus „Allein in der Revolte“  zu lesen, auf ihre Art zu rezipieren, sie umzumünzen und sie – hochgradig plagiatsverdächtig – in eigenen Beiträgen quasi als selbst gemachte Erfahrungen mit der Securitate auszuschlachten.

Das hätte dem kritischen Rezensenten auffallen können, wenn er denn wirklich akribisch und mit literaturhistorisch-analytischem Sachverstand vorgegangen wäre. Das ist in Geiers „Besprechung“ leider nicht der Fall.

Nichts von dem eminent Wichtigen aus „Allein in der Revolte“ kommt in seiner Buchrezension vor, weder die Schilderung der Ereignisse des „Prager Frühlings“ im Jahr 1968 und die Auswirkungen, noch die Goma-Menschenrechtsbewegung, der ich angehörte oder mein lebensgefährlicher Fluchtversuch an der Donau.
Nahezu alle Schlüsselwörter fehlen, Begriffe und Ausdrücke wie Diktatur, Repression, Kommunismus-Kritik, Revolte, Opposition, Nicolae Ceausescu, SLOMR, deutsche Identität, Widerstand etc.

Wasch mir den Pelz, doch mach mich nicht nass?
Wer Angst vor der brisanten Materie hat, vor der Securitate- und Kommunistenvergangenheit, wer Angst vor Herta Müller hat und vor ihrem Seilschaften, wer Ross und Reiter nicht beim Namen nennen will, der sollte die Finger von politische heißen Buchbesprechungen lassen!

Statt den in meinem Buch dargelegten Oppositionskampf anzusprechen, die Bedingungen von Widerstand im Kommunismus zu erörtern,  das Ringen um Freiheit und deutsche Identität, relevante Themen, denen ich viele Kapitel widme, hält sich Geier, der seinerzeit, als wir opponierten, ein systemloyaler Journalist war – von Haus aus Lehrer - mit Marginalien auf, unter anderem mit dem undifferenzierten Hinweis, ich würde eine Pauschalschelte betreiben und unter anderem meine einstigen Lehrer tadeln.
Wo betreibe ich eine Pauschalschelte?
Meine Lehrer, und das waren bestimmt nicht die staatstragenden Säulen des Systems und der kommunistischen Ideologie, werden in dem Buch durchaus gewürdigt, gerade jene Lehrer und Vorbilder, die mir frühzeitig den Sinn für Freiheit schärften, für das „Lieber tot als in Sklaverei“ der alten Germanen. Angeprangert habe ich nur einen ominösen „Lehrer“ mit Parteibuch und einige weitere, die ihre Schutzbefohlenen prügelten, züchtigten und psychisch quälten, statt sie zu unterrichten.
Wenn der Rezensent mehr und genauer gelesen hätte, dann wäre ihm bestimmt noch einiges mehr aufgefallen.

Dass Luzian Geier das Buch, das er unbedingt besprechen wollte, auf keinen Fall besonders intensiv gelesen haben kann, spricht aus dem meinem Werk zugeordneten Titel
 „Gegen den Strom“,
ein Titel, der überhaupt nicht mehr existiert.

Der zweite Band der „Symphonie der Freiheit“ trägt in großen Lettern die Überschrift
„Allein in der Revolte“.
Es ist rätselhaft, wie dieser die Gesamtkonzeption vorgebende Haupttitel übersehen werden konnte!
Wie konnte das passieren? Peinlich, peinlich!

Statt bei mir das Haar in der Suppe zu suchen, andeutend man hätte gründlich gelesen und besitze Insider-Wissen, hätte Geier den Pfahl in eigenen Auge erkennen müssen.

(In der Online-Ausgabe der Rezension in der SbZ vom 16. August wurde der verräterische Fauxpas redaktionell korrigiert – aber erst nach meiner Intervention! )

Doch woher kam der der Drang, gerade mein kommunismuskritisches Werk besprechen zu wollen, nachdem der Rezensent doch schon vorgewarnt war?

Luzian Geier wollte bereits seinerzeit (2008) die „Symphonie der Freiheit“ für die „Siebenbürgische Zeitung“ besprechen.

Laut Röll-Verlag bekam er damals zwei Exemplare. Wenn er seinerzeit auch darin gelesen hat, kannte er die Materie, die Sprache, den Stil, die Konzeption, die Intention.
Eine Besprechung aber, mit der ich als im öffentlichen Focus stehender Autor fest gerechnet hatte, wurde Monate lang hinausgezögert blieb damals schließlich gänzlich aus, aus welchen Gründen auch immer. Der antikommunistische Bürgerrechtler und Zeitzeuge hatte das Nachsehen! Rezensiert haben damals andere, auf die dann aber auch Druck ausgeübt wurde.

(Vielleicht hatte die von Richard Wagner und Herta Müller verkündete Vendetta-Enthüllungs-Kampagne, die in dem Lügen-Artikel im Wochenmagazin DIE ZEIT gipfelte, einige Leute so sehr zurückgescheucht und sie abgehalten, für den Aufklärer Carl Gibson Partei zu ergreifen.
Jedenfalls freuten sich die von mir in der „Symphonie der Freiheit“ heftig kritisierten Kommunisten aus der so genannten Aktionsgruppe Banat, dass einiges an Fakten nicht an die große Glocke kam und dass die vielen Lügen der Herta Müller nicht weiter beachtet wurden.

So, durch verhinderte Aufklärung, wurde schließlich ein Nobelpreis möglich!)

Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, weshalb Geier mein Werk rezensieren wollte und weshalb der den Auftrag nicht zurückgab, als er feststellte, dass er nicht liefern kann oder will.

Auf diese Weise wurde eine wichtige Besprechung blockiert und verhindert, die ein anderer Rezensent vielleicht sachkompetent erstellt und abgeliefert hätte.

Auf diese Weise wurde seinerzeit auch die kritische, von mir öffentlich geführte  Diskussion um Herta Müllers „moralische Integrität“ ausgehebelt, da die breitere Debatte vereitelt und verhindert wurde.

Auf diese Weise wurde die Nobelpreisehrung einer verlogenen Plagiatorin möglich, die nicht nur aus meinem Aufklärungswerk dreist abgeschrieben hat.


Weshalb bemühte sich Geier dann noch um den zweiten Band?

Wollte Luzian Geier nunmehr etwas wieder gut machen, wo der Kelch doch an einigen vorbei gegangen war und das Racheschwert einige Köpfe geschont hatte?

Als eine Art Kompensation?
Also war ich nicht sehr „amused“, als mir die SbZ-Redaktion den Namen des Rezensenten mitteilte, da mich das monatelangen Abwarten und endgültige Ausbleiben der mehrfach zugesagten Symphonie-Rezension (2008) irritiert und belastet hatte.

Angesetzt waren nun ab März 2013 ein bis zwei Monate Bearbeitungszeit. Als nach vier Monaten Wartezeit immer noch keine Ausarbeitung vorlag, befürchtete ich schon den bereits erlebten Präzedenzfall eines dilatorischen Hinauszögerns ins Nichts.

Nach dem Nachhaken kam dann dieser inadäquate Schnellschuss, der sich nur ganz wenigen Abschnitten widmet, der aber über Struktur, Form, Stil und Sprache meines Werkes nichts aussagt. Ein Buch besteht jedoch nicht nur aus Inhalt!
Und wer ein komplexes Werk angemessen besprechen will, der sollte vielleicht selbst einmal einen anspruchsvolle Buchpublikation vorgelegt haben.

Wie auch immer …
Von meiner Enttäuschung – nach einer Wartezeit von immerhin fünf Monaten – über den nun vorgefundenen kurzen Abriss, berichtete ich auch der „SbZ“-Redaktion.

Ja, in der Tat: Die knappen kritischen Zeilen von Geier erinnern – wie man an der deutschen Alma Mater zu spotten pflegt -  an den kreisenden Berg, der eine Maus gebären wird – und das nach einem halben Jahr!
Doch wir sind bescheiden geworden - Diese Besprechung sei immer noch besser als überhaupt keine Besprechung, meinen einige! Andere könnten mit einer Besprechung dieser Art leben – ich kann es nicht.
 (…)
Luzian Geier weiß wohl nicht, welches Buch er besprochen hat!

Ich habe es bisher noch nicht erlebt, dass ein Rezensent den Haupt-Buchtitel nicht beachtet, wenn er es bespricht.
"Gegen den Strom" ist längst Makulatur.
Darüber hinaus hat Geier in seiner höchst oberflächlichen Besprechung, die jede Opposition und alle Kommunismus-Kritik unterschlägt, einiges behauptet, was falsch ist und von mir widerlegt werden kann. Etwa die Sache mit Ortinau. Und z. B. die Einschätzung seines Chefs Berwanger - Ich gab meine damalige Sicht wieder (1977- 1979) und nicht die historische  Wertung an sich nach CNSAS-Akteneinsicht.
Heute bin auch ich schlauer und könnte viel umschreiben, da ich auch in meiner Sache mehr weiß.
Wesentliche Informationen fehlen in der Besprechung, etwa der Hinweis, dass das Buch Bd. 1 der Symphonie der Freiheit ist, dessen Edition rechtlich durchgesetzt werden musste.
Was die vielen von Geier als noch“ offenen Fragen“ angeht – gerne würde ich noch einige beantworten.

Von den von Geier monierten „Fehler“ trifft nur die Unachtsamkeit „k.u.k“ zu.

Alles andere ist an den Haaren herbei gezogen, ja sogar üble Unterstellung.
Zu meinem Landsmann Gerhard Ortinau aus Sackelhausen, dem ich drei Abschnitte widme, die mehr als 30 Jahre nach den Ereignissen aus dem Gedächtnis erstellt wurden.


Dass er, das Opfer, die Dinge gerade so sah, vergleichbar mit Herta Müllers Haltung in „Niederungen“ zur gleichen Thematik und nicht anders, fand ich später in einer knappen Erzählung bestätigt, die Horst Fassel und Josef Schmidt in dem „Banater Lesebuch“ „An Donau und Theiß“ im Jahr 1986 veröffentlichten. Unter der Überschrift „Kleine Geschichte“ beschreibt Gerhard Ortinau die Situation seiner Geburt in der Verbannung: „Den Erzählungen meiner Eltern ist zu entnehmen, dass ich am späten Abend in einer Art schilfgedeckten Erdhütte geboren wurde. Im Zimmer befand sich das Wichtigste. Draußen hatten die Leute tagsüber Tunnels in den mannshohen Schnee geschaufelt, mittlerweile hatte sie aber der Sturm schon wieder zusammengewirbelt. (…) Ich erblickte am 17. März des Jahres 1953 in dem Weiler Movila Gildaului das Licht des Bărăgans. Alles andere erfuhr ich aus Büchern und aus Zeitungen: die Fehler, die Zufälle. Ich habe vieles begriffen, nicht aber meine Eltern. Sie, die sie ihre Erinnerungen haben, fragen immer noch: warum? Erklärt ihr es ihnen, sie könnten ansonsten noch einen Irrtum mit ins Grab nehmen. (Es wäre der einzige nicht, aber es wäre einer mehr.)“ Soweit Gerhard in der Rückschau, in einer Betrachtung, die er wohl nach unserem Zusammentreffen im Jahr 1980 in Berlin verfasste? Denn damals besaß er wohl noch keine Schreibmaschine, ein – im Text oben mit erwähntes –„Luxusgerät“, das im kommunistischen Rumänien während der Ceauşescu -Diktatur zu den verbotenen Dingen gehörte – wie Waffen, eben weil es eine Waffe war. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die nicht aufhören wollten zu fragen, warum, kannte Gerhard, der aufgeklärte Dichter, die richtige Antwort. Dieses „Darum“ und ein „Deshalb“ markierten den Unterschied zwischen uns. Eine Gesamtverantwortung für eine deutsche Gesamtschuld lehnte ich aus meiner damaligen Erfahrungswelt heraus ab. Eigenverantwortlich sah ich nur mein Tun und die Taten meiner Vorväter aus meiner Familie, die rein waren und nichts Verwerfliches an sich hatten. Was konnte ich mehr verantworten als das eigene Handeln? Mit den Verbrechen des braunen Diktators hatte ich genau so wenig zu tun wie die kommunistischen Utopisten meines Umfelds mit den Gräueln des roten aus dem Kreml. Statt meine Energien „gegen die eigene Identität“ einzusetzen, konzentrierte ich mich auf die Bekämpfung der kommunistischen Ideologie und Gesellschaft, die mir in ihrem Wesen heuchlerisch und vielfach verlogen erschien.

Statt auf die Brisanz der Aussage zu achten, dass hier ein echtes Opfer des Stalinismus die eigene Opfer-Rolle und somit die gesamte Deportation der Banater Schwaben in den Baragan rechtfertigt, ist Geier um das Entstehungsdatum der Kurzgeschichte besorgt, um mir unterstellen zu können, ich hätte das besagte Werk nie gelesen.

Dem Rezensenten entgeht, dass ich zusammenfassend keinen Aussagesatz konstruiere, sondern eine Frage – und er kommt auch nicht darauf, dass ich das Motiv „Schreibmaschine“ nur einsetzte, um die Thematik einer zu „registrierenden Schreibmaschine – als Waffe“  exponieren zu können.
(Zudem wird aus dem Zitat noch deutlich, dass ich als Autor, dem fehlende Quellenangaben unterstellt werden, zahlreiche Quellen in den Text einfließen lasse, um das Werk nicht mit Fußnoten zu belasten.)


Besonders schäbig empfinde ich die Unterstellung, ich hätte die Deportation der deutschen aus Rumänien in das Jahr 1946 verlegt, ein Datum, das als Tippfehler nur im Zusammenhang mit dem Schicksal meines damals deportierten Vaters vorkommt.
Auf die allgemeine Deportation bezogen schreibe ich aber explizit:



Die Deutschen in Rumänien hatten nach 1945 schlechte Karten. Generell galten sie als „Hitleristen“ und Faschisten. Als „Feinde des Vaterlandes“, also der neu entstehenden „Volksrepublik“, standen sie unter Generalverdacht. Wer seinerzeit als Volksfeind denunziert wurde - und jeder Deutsche war aufgrund seiner „ungesunden nationalen Herkunft“ ein potenzieller Volksfeind - war schnell im Gefängnis und manchmal rasch ein toter Mann. Gleichzeitig war dies die Zeit der von langer Hand noch vor Kriegsende in Moskau beschlossenen und vorbereiteten Deportationen. Von den mehr als vierhunderttausend Deutschen in Rumänien wurden ab Januar 1945, einem Befehl Stalins folgend, etwa siebzig- bis achtzigtausend Personen, Männer wie Frauen im arbeitsfähigen Alter, in die Zwangsarbeitslager der Sowjetunion deportiert, Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen. Unter ihnen war auch mein Vater; ein unbescholtener, kaum neunzehn Jahre zählender junger Mann, der nunmehr fünf Jahre seines Lebens in einem tristen Arbeitslager in der Dnepr-Region bei Kriwoj Rog in der heutigen Ukraine verbringen sollte - als Sühne für eine Schuld, die er nicht auf sich geladen hatte..


Trotzdem will der Rezensent kleinlich-pedantisch einen Kasus daraus machen.
Wird man auf diese Weise einem vielschichtigen Buch gerecht, dessen Haupttitel man nicht einmal zu Kenntnis nimmt?
Solche Rezensenten lobe ich mir!

Zu Luzian Geiers Chef aus der NBZ-Redaktion und der  Kommunistischen Partei Nikolaus Berwanger:

Da es mir in meinem Werk auf die Darstellung der „geistigen Situation der Zeit“ in Temeschburg im rumänischen Banat ankommt, widme ich dem System- und Kulturrepräsentanten Nikolaus Berwanger ebenso mehrere Kapitel wie dem Poeten aus der Aktionsgruppe Ortinau, Kapitel, die durchaus konziliant  und keinesfalls apodiktisch sind.
Ein aufmerksamer Leser oder Rezensent kann dort (Siehe unten!) die  Sätze vorfinden:

Einiges an guten und nützlichen Dingen hat Berwanger sicherlich auch bewirkt und umgesetzt, doch um welchen Preis?
Manche, die ihm näher standen und auch den Kulturbetrieb der Stadt näher kannten, unter ihnen seine Protegierten und Mitarbeiter bei der NBZ, die heute allesamt in der Bundesrepublik leben, könnten und sollten, schon aus historischen Überlegungen heraus, seine Taten ansprechen und seine eventuellen Meriten aus heutiger Sicht bewerten. Reden wir doch darüber, was er „angerichtet“ hat!

Ergo delegiere ich die Einschätzung an diejenigen Akteure, die den Repräsentanten der deutschen im Banat besser kannte als ich.


Da Geier sich scheut, viele im Werk kritisch angegangene Phänomene und Personen beim Namen zu nennen und oft diffus ausweichend bleibt, selbst im positiven, würdigenden Duktus, wo auf tiefere Einblicke verwiesen wird, wird der Materie die Brisanz genommen, die ihr innewohnt, ja sie wird indirekt verniedlicht, sogar abgewertet und trivialisiert.
Als Autor kann ich nur hoffen, dass nicht allzu viele potenzielle Leser von der Lektüre angehalten werden und jeder kritische Geist sich selbst ein Bild macht.

Jeder Rezensent kann nur das hermeneutisch vermitteln, was er erfasst –im Rahmen seiner Kompetenz und Möglichkeiten. Komplexere Sachverhalte bedürfen eines umfassenderen Instrumentariums.
Bevor rein subjektive Meinigen artikuliert werden wie „langatmig“, „weitläufig“ etc., sollte das erörtert werden, was objektiv an Materie vorgelegt wurde, z. B. die „Destruktion des Ideals Freiheit“ im Freien Westen, der den letzten Teil des Buches einnimmt, statt nach terminologischen Spitzfindigkeiten zu suchen oder Zitate aus dem Kontext zu reißen.
Zur „politisch korrekten“ bzw. Überkorrekten Terminologie, die mir von Geier vorgeworfen wird.
Dem ehemaligen NBZ-Journalisten ist wohl nicht aufgefallen, dass ich zwanzig Seiten meines Buches „Allein in der Revolte“.
 anderen Andersdenkenden widme, namentlich den „Zigeunern“, ihrer Freiheit und ihrer Musik.
Und was den Terminus meiner Geburtsstadt „Temeschburg“ angeht: ich setze diesen historisch begründeten Begriff systematisch ein und werde ihn auch künftig beibehalten, weil ich ihn der ungarischen Bezeichnung „Temesvar“ oder dem umgangssprachlichen „Temes(ch)war“ aus vielen Gründen vorziehe.

Doch solche Kleinkariertheiten sind nicht signifikant. In meinem Buch geht es um weitaus relevantere Dinge.
Es geht um die kritische Aufarbeitung des Kommunismus, um den auf eigener Haut erlebten Securitate-Terror, um Folter, um Flucht, um existenzielle Belange, um Geist und Kunst, um Werte und Moral.
Von alle diesen Dingen hat Luzian Geier nichts bemerkt – kein Wunder, dass letztendlich auch der Haupttitel des Buches „Allein in der Revolte“.
unter den Tisch fiel.
Aufgrund meiner Intervention, konnte der Buchtitel noch in die Online-Ausgabe hinüber gerettet werden.
Ich würde es begrüßen, wenn die Redaktion der „Siebenbürgischen Zeitung“ das ihr von mir zur Verfügung gestellte Material zu einer weiteren vertiefenden Konkretisierung nutzen würde.

Nachdem er sich durch meine 409 großformatigen Buchseiten in Kleinschrift durchgearbeitet hatte, legte der professionelle Journalist Luzian Geier, der heute die Seiten der aus der Bukowina vertrieben Deutschen betreut, seine ultimativen Erkenntnisse der Redaktion der „Siebenbürgischen Zeitung“ vor, aber ohne die sonst üblichen „bibliografischen Daten“ der Rezension voranzustellen.
Wenn diese Daten nicht noch rechtzeitig vom Autor nachgereicht worden wären, dann hätte Geier ein Buch besprochen (Gegen den Strom), das es de facto nicht gab, das jedenfalls nicht unter diesem Titel erschienen war.
Fakt ist: Ein Autor, der als Jugendlicher im Kommunismus rebellierte und sich gegen totalitäre Willkür eines repressiven Systems zur Wehr setzte, muss sich auch heute noch wehren, wenn ihm – auch unbeabsichtigt - Unrecht geschieht, etwa in einer richtigstellenden „Gegendarstellung“ wie dieser, zu der ich, Gott sei’s gedankt, als „selbstbewusster Autor“ durchaus noch in der Lage bin.
Seinerzeit, vor Jahren, als ich die Aufklärungsarbeit aufnahm und die 1000 Seiten erstellte, gab ich alles, um allein und aus eigener Kraft ohne Seilschaften und Protektion eine – mir notwendig erscheinende - Aufklärung über die vor mir erlebten Verbrechen des Kommunismus aufzuzeichnen.
Also werde ich es nicht zulassen, dass meine Arbeit entstellt und trivialisiert wird.
Wird uns die Aufklärung kommunistischer Verbrechen schwer gemacht?
In der Tat, es ist so!
Und die Zurückweisung und Ausbremsung der wenigen Opfer des Kommunismus, die ihr „Testimonium authenticum“ literarisch-wissenschaftlich darlegen, beginnt bereits mit einer „Rezension“!
Fazit des Ganzen:
Wer Angst vor Brandwunden hat, der sollte eine heißes Eisen nicht anfassen!
Wer ein halbes Leben angepasst war und mit roten Wölfen geheult hat, der sollte nicht über Revolte und Widerstand schreiben.
Und wer ein Buch nicht gründlich gelesen und angemessen durchreflektiert hat, der sollte es auch nicht „besprechen“.
Die „Oberleichthindrüberschuscher“ aus der Rezensenten-Kaste, gegen die bereits der im Banat geborene Dichter vom Weltformat Nikolaus Lenau wettert, sind noch nicht ausgestorben. Eine einfach redaktionelle Notiz ist solch irreführenden Besprechungen sicher vorzuziehen.
Der Wahrheitsfindung in einer Welt ohne Moral in der Zeit der Chamäleons  dient solch fragwürdiger Journalismus jedenfalls nicht.






Carl Gibson, Allein in der Revolte

Eine Jugend im Banat

Aufzeichnungen eines Andersdenkenden –Selbst erlebte Geschichte und Geschichten aus dem Securitate-Staat

J.H. Röll Verlag, Dettelbach, 409 S.

ISBN 978-3-89754-430-7


Preis: 39,90
Eine Edition des Autors als E-Book ist vorgesehen.

Deutsche Nationalbibliothek:


Das Buch kann über Amazon oder direkt beim Röll-Verlag in Dettelbach  bezogen werden:




(Die Titelabänderung von „gegen den Strom“ wird hier begründet,
ebenso in dem Ihnen vorliegenden Interview-Material.

Material eventuell für eine zusätzliche redaktionelle Notiz:



Carl Gibson, Allein in der Revolte

Eine Jugend im Banat

Aufzeichnungen eines Andersdenkenden –Selbst erlebte Geschichte und Geschichten aus dem Securitate-Staat

J.H. Röll Verlag, Dettelbach, 409 S.

ISBN 978-3-89754-430-7



„Allein in der Revolte“ –

Ein Buch über individuelles Freiheitsstreben während der kommunistischen Diktatur Ceausescus,
über Rumänien,
über deutsche Identität und Exodus,
über kritische Kommunismus-Aufarbeitung, Vergangenheitsbewältigung und Neubeginn in Europa

Der Leser wird in „Allein in der Revolte“ Erinnerungen vorfinden, Aufzeichnungen, die sich zum fragmentarischen „Lebensroman“ zusammenfügen, zum „autobiografischen Roman“, der literaturtheoretisch bewertet nur bedingt einer ist, weil das „Romanhafte“ fehlt, das Romantisch-Versponnene und Irreale.

Das Buch ist vielmehr eine „realistisch gehaltene Zeitstudie“, die zwar nicht die gesamte Existenz einfängt, aber repräsentative Teile daraus in einer bestimmten Zeit, wobei möglichst viel von der damaligen Erkenntnisweise herübergerettet werden soll - die „Perspektive eines jungen Menschen in der Revolte“ gegen einen selbstherrlichen Staat.
Dargestellt werden allerdings nur jene biografischen Abschnitte, die zur Erklärung von Regimekritik, Dissidenz und Widerstand notwendig sind. Dabei erschließt sich dem Leser das „Psychogramm einer Diktatur.

Die Kerngeschichte von „Allein in der Revolte – Eine Jugend im Banat“, der Weg eines Jugendlichen deutscher Herkunft in die Auseinandersetzung mit einem totalitären Staat und das „unfreiwillige Hineinschlittern in Dissidenz und Opposition“, wird, umrahmt von Elementen einer musikalischen Komposition - wie im 2008 voraus gegangenen Band des Gesamtwerkes „Symphonie der Freiheit“ - in mehreren Sätzen einer sprachlichen Symphonie eingefangen.
Der Symphonie-Begriff markiert die offene Struktur des Ganzen, während die Freiheit das tragende Thema ist, das Hauptphänomen, dem alle anderen Motive, auch der Widerstand, nachgelagert sind:
Freiheit - großes Thema mit Variationen bis hin zur Destruktion des Ideals in der freien Welt des Westens.
Die vielen Facetten und Nuancen der großen Thematik werden dabei literarisch zum Zusammenklang gebracht.
Die Geschichte selbst, in welcher der Name des Protagonisten unwichtig ist, steht repräsentativ für vergleichbare Schicksale, speziell im zweiten Band, die von anderen Menschen aus dem ehemaligen Ostblock und in anderen Diktaturen der Welt ähnlich erlebt wurden.
Neben der Gewerkschaftsgründung, die eine reale Einzelgeschichte ist, umkreisen die zahlreichen Miniaturen, Erzählungen und Essays, das Kernmotiv wie Planeten ihre Sonne, und bilden zwischen Prolog und Epilog angesiedelt, einen Rahmen des Gesamtgeschehens, das die jüngste rumänische Vergangenheit und die aktuelle Situation in Rumänen einzufangen sucht.
Der Rhapsodische Block verweist noch einmal auf die Priorität der freien Form des Dionysischen vor der Begrenztheit des apollinischen Systems. Auf diese Weise entsteht ein Ausschnitt aus einer intensiv erlebten Zeit und einer Welt, Vergangenheit spiegelnd und in die Zukunft ausstrahlend.
Ohne den Anspruch, eine ausführliche Autobiografie sein zu wollen, wurde diese Sammlung von Geschichten und Essays in erster Linie für den westlichen Leser geschrieben, für den Deutschen, den Österreicher, den Schweizer, den Franzosen, der sich für das noch ferne Volk der Rumänen interessiert - aber auch für das Schicksal der deutschstämmigen Landsleute vor seiner Haustür, die unter den Völkern des Ostens aufwachsen und die Kriegsfolgen austragen mussten.
Das Buch soll eine geistige „Heranführung“ sein an eine noch junge europäische Nation, an das Kulturvolk der Rumänen, die durch die Jahrhunderte der Geschichte ihrer Selbstwerdung oft selbst Opfer mächtigerer Konstellationen waren, aber auch ein Element der inneren Versöhnung unter Deutschen.
Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen werden hier etwas von ihrem Ringen um die schwer zu wahrende, eigene „Identität“ wieder finden und einiges, was ihnen vielleicht „aus der Seele spricht“, während die genuinen Rumänen selbst, denen hier nochmals aus der Ferne die versöhnende Hand gereicht wird, gerade in „Allein in der Revolte“ mit der Perspektive eines Deutschen konfrontiert werden, der sie aus einer Minderheit heraus, aber auch von der eigenen kulturellen Warte aus betrachtet.
Keiner aus den im Werk thematisierten Völker und Volksgruppen wird nur Harmonisches vorfinden, dem er uneingeschränkt zustimmen kann - doch das liegt im Wesen der Sache. Im Blickpunkt des Autors steht, fern von schöngefärbtem Harmoniestreben, die tatsächlich erlebte realsozialistische Gesellschaft in ihrem Querschnitt darzustellen - immer aus der Perspektive des Ankämpfenden, des politisch Andersdenkenden, der manches anders sah, der aber auch heute weit davon entfernt ist, eine ideologische Abrechnung betreiben zu wollen.

Geisteswissenschaftlich betrachtet wird versucht, zusätzlich die Sicht des Philosophen einzubringen. Da dieser der historischen Wahrheit und dem Ethos mehr verpflichtet ist als der absolut frei und somit wertungsfrei gestaltende Dichter, wird er - bis zu einem gewissen Grad auch aus südosteuropäischer Sicht - politisch-gesellschaftlich doch wesentlich anders werten, indem er aufgrund seiner Erfahrungen existenzielle wie ethische Prioritäten setzt, wobei die Klarheit eines Descartes zum Vorbild wird:
Nicht Verdunkelung ist angesagt, kein Obskurantismus im neuen hermetischen Gewand des Irrealen, Surrealen und Unmoralischen, sondern ein spätaufklärerisches Erhellen - als Existenzerhellung und als Welterhellung.

Diese Pressemitteilung wurde auf openPR veröffentlicht.

Carl Gibson
Ketterberg 8
D-97980 Bad Mergentheim
Tel. 07931 99 27 176

Carl Gibson, M.A., geboren 1959 in Temeschburg, Rumänien, aufgewachsen im Banat. Von 1976 bis 1979 engagierte sich Gibson als Bürgerrechtler und Dissident in in Rumänien. Nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland (1979) setzte er sich weiter für demokratische Strukturen in Rumänien ein und trat als Sprecher der SLOMR im Westen auf. Ab 1982 studierte er Politik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Tübingen, Wien, Freiburg und Würzburg. Nach seinem Abschluss (Philosophie, Germanistik, Geschichte) arbeitete er als Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Carl Gibson veröffentlicht seit 1982 und ist journalistisch tätig. Neben wissenschaftlichen Buchpublikationen schreibt Gibson Essays. Gibson lebt seit 1992 überwiegend in Bad Mergentheim, wo er 1993 ein Institut für Wirtschaftsethik begründete, das 2005 zur philosophischen Praxis ausgeweitet wurde. Gibson publiziert auch online und betätigt sich als Blogger.

Veröffentlichungen:
Nikolaus Lenau, Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Carl Winter Universitätsverlag, Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Folge 3, Bd. 100.
Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur. Chronik und Testimonium einer tragischen Menschenrechtsbewegung in literarischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen, J. H. Röll Verlag, Dettelbach, 2008. 418 S. Mit 16 Tuschezeichnungen von Michael Blümel.

Aufsätze:
"Nietzsches Lenau-Rezeption" In: Sprachkunst,1986,
"Auftakt mit einer Bestie – oder: Zuckerbrot und Peitsche", In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik.
"Ion Caraion: Der Konflikt zwischen dem Bleibenden und dem Vergehenden." In: Matrix. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Herausgeber Traian Pop. Nr. 2
"Das kurze Aufleuchten von Widerstand. Die Gründung und Zerschlagung der ersten freien Gewerkschaft in Rumänien." In: Horch und Guck: Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur.
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(Die Gauck-Behörde hat den Titel angeschafft.)



Von Freidorf aus in die Unfreiheit – Verschleppung Deutscher in die Sowjetunion


Die Deutschen in Rumänien hatten nach 1945 schlechte Karten. Generell galten sie als „Hitleristen“ und Faschisten. Als „Feinde des Vaterlandes“, also der neu entstehenden „Volksrepublik“, standen sie unter Generalverdacht. Wer seinerzeit als Volksfeind denunziert wurde - und jeder Deutsche war aufgrund seiner „ungesunden nationalen Herkunft“ ein potenzieller Volksfeind - war schnell im Gefängnis und manchmal rasch ein toter Mann. Gleichzeitig war dies die Zeit der von langer Hand noch vor Kriegsende in Moskau beschlossenen und vorbereiteten Deportationen. Von den mehr als vierhunderttausend Deutschen in Rumänien wurden ab Januar 1945, einem Befehl Stalins folgend, etwa siebzig- bis achtzigtausend Personen, Männer wie Frauen im arbeitsfähigen Alter, in die Zwangsarbeitslager der Sowjetunion deportiert, Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen. Unter ihnen war auch mein Vater; ein unbescholtener, kaum neunzehn Jahre zählender junger Mann, der nunmehr fünf Jahre seines Lebens in einem tristen Arbeitslager in der Dnepr-Region bei Kriwoj Rog in der heutigen Ukraine verbringen sollte - als Sühne für eine Schuld, die er nicht auf sich geladen hatte.. Nach dem Debakel bei Stalingrad im Jahr 1943 kämpften neu rekrutierte Volksdeutsche, nahezu 55 000 an der Zahl, - wie es oft plakativ hieß und heißt - freiwillig in Verbänden der Waffen-SS für das Deutsche Reich gegen den Bolschewismus, gerade an jenen Fronten, wo es am härtesten zuging. Entsprechend hoch waren die Opfer. Von den sechshundert eingezogenen sogenannten „Freiwilligen“ aus Sackelhausen fielen bis zum Kriegsende einhundertfünfzig Mann für Volk und Vaterland - und, mehr gedrängt als freiwillig, für einen von Anfang an kranken Führer sowie für Hitlers aberwitzige Wahnvorstellungen von germanischem Übermenschentum und Lebensraum im Osten.
Vater Jakob Gibson, 1926 in Sackelhausen geboren und dort aufgewachsen, ein junger Mann mit visionärem Blick und stets freundlichem Antlitz, war nicht unter den Eingezogenen - vielleicht, weil er ziemlich klein und schwächlich war; weil er nicht ausreichend nationalistisch fanatisiert war; vielleicht aber auch nur deshalb, weil er „kein Held“ sein wollte, zumindest nicht in einer Sache, die ihm fremd war und die nicht die eigene war. Doch büßen sollte er trotzdem als Teil der deutschen Minderheit - nach den sonderbaren Gesetzmäßigkeiten der Kollektivschuld der Attischen Tragödie, die einen Urahn fehlen und dann tausend Nachkommen büßen lässt, über Generationen hinweg! Schließlich hatten alle deutschen Siedler irgendwann gebüßt, seitdem die Ansiedlung sie zwischen die Nationen der Ungarn, Serben und Rumänen versetzt hatte. So betrachtet waren die Deutschen im Banat nicht weniger eine stigmatisierte Minderheit in Rumänien als die verfemten und auch heute noch verfolgten Zigeuner aus Hinterindien. Sie saßen alle im gleichen Boot - und viele genuine Rumänen, die keine Kommunisten waren, mit ihnen.
Der Zufall wollte es, dass Vater, dessen Familie im Herbst 1944 auf Geheiß der Wehrmacht nicht „heim ins Reich“ geflüchtet war, vielleicht deshalb, weil sie bereits eine Heimat hatten, zusammen mit weiteren einhundertvierundzwanzig Personen aus Sackelhausen zunächst zehn Kilometer zu Fuß nach Freidorf marschieren durfte – bei Wind und Wetter in der Eiseskälte eines Januarmorgens, damit nicht alle mitbekamen, was da vor sich ging. Viele bürgerliche Juden waren aus deutschen Städten ebenso still und leise aus ihren Betten geholt, im Morgengrauen zu den Zügen gebracht und dann in zweitausend Kilometer entfernte Vernichtungslager ins Baltikum verschickt worden. Das war bekannt. Doch die hehren Kommunisten, die eigentlich bessere und gerechtere Menschen sein wollten, waren sich nicht zu schade, das ganze „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ noch mehrfach zu wiederholen, getreu nach Plänen, die Stalin bereits ein Jahr zuvor selbst ausgeheckt hatte. Die Vergeltung an den Deutschen, wo immer man ihrer habhaft werden konnte, ob im Banat oder an der Wolga, hatte System. Die den Nazis in effizienter Diversion vielfach vorgeworfene „Menschenvernichtung in Arbeitslagern“ praktizierten die Kommunisten nun selbst; und dies sogar im Bewusstsein, das „moralische Recht“ auf der eigenen Seite zu wissen. Stramme Antifaschisten der ersten Stunde – sogar aus den Reihen der deutschen Minderheit – sahen die Dinge – mit den Linken der Bundesrepublik und den Offiziellen der DDR - ähnlich. Recht so sagten sie. Und einige ihrer Nachgeborenen Bert Brechts wiederholten die gleichen Worte, als sie die Pforte der roten Alma Mater überschritten gute zwanzig Jahre später. Was an jenem Januarmorgen 1946 geschehen war, interessierte sie nicht weiter.
Vater, ein Jüngling in den besten Jahren wie viele Millionen in der Wehrmacht, die gerade erst in blindem Gehorsam gen Osten marschiert waren, stapfte ergeben durch den Schnee, dem nahen Temeschburg entgegen, er, einer aus der Hundertschaft der anderen Opfer aus Sackelhausen, die nur des Verbrechens bezichtigt wurden, deutsche Zivilisten zu sein, Menschen, die sich ihrer Unschuld bewusst, nicht „heim ins Reich“ geflohen waren. Sie waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Fügung des Schicksals? Göttlicher Wille? Welcher Sinn stand dahinter, Unschuldige zum Schafott zu führen? In Freidorf endete für ihn - wie für alle anderen aus der Gruppe der zum Leiden Auserkorenen – jede Form von Freiheit! Oder, anders formuliert: Die Unfreiheiten und Qual eines fünfjährigen Martyriums in Straflager-Verbannung für eine fiktive, unbekannte Schuld, begann in zynischerweise in Freidorf. Von „Freidorf“ aus sollte es noch am gleichen Tag auf „Große Fahrt“ gehen – an den Dnepr, sozialistisch korrekt und human in einem Viehwaggon, in dessen Ecke ein kleines Loch für die Erledigung der Notdurft eingeschnitten worden war. Der Transport von neunzig Menschen, eingepfercht in einem Waggon mit zugenagelten Türen, kam zehn Tage später am Zielort an, in der Ukraine bei Kriwoj Rog. Wenn einer dem Stress schier unerträglicher Bedingungen nicht gewachsen war, der durfte ableben – wie die Juden auf dem Weg nach Lettland oder wie das Vieh auf neuzeitlichen Tiertransporten. Auch „Dezimierung“ war integraler Bestandteil der Vergeltung an den Deutschen.





Zu G. Ortinau

Dass er, das Opfer, die Dinge gerade so sah, vergleichbar mit Herta Müllers Haltung in „Niederungen“ zur gleichen Thematik und nicht anders, fand ich später in einer knappen Erzählung bestätigt, die Horst Fassel und Josef Schmidt in dem „Banater Lesebuch“ „An Donau und Theiß“ im Jahr 1986 veröffentlichten. Unter der Überschrift „Kleine Geschichte“ beschreibt Gerhard Ortinau die Situation seiner Geburt in der Verbannung: „Den Erzählungen meiner Eltern ist zu entnehmen, dass ich am späten Abend in einer Art schilfgedeckten Erdhütte geboren wurde. Im Zimmer befand sich das Wichtigste. Draußen hatten die Leute tagsüber Tunnels in den mannshohen Schnee geschaufelt, mittlerweile hatte sie aber der Sturm schon wieder zusammengewirbelt. (…) Ich erblickte am 17. März des Jahres 1953 in dem Weiler Movila Gildaului das Licht des Bărăgans. Alles andere erfuhr ich aus Büchern und aus Zeitungen: die Fehler, die Zufälle. Ich habe vieles begriffen, nicht aber meine Eltern. Sie, die sie ihre Erinnerungen haben, fragen immer noch: warum? Erklärt ihr es ihnen, sie könnten ansonsten noch einen Irrtum mit ins Grab nehmen. (Es wäre der einzige nicht, aber es wäre einer mehr.)“ Soweit Gerhard in der Rückschau, in einer Betrachtung, die er wohl nach unserem Zusammentreffen im Jahr 1980 in Berlin verfasste? Denn damals besaß er wohl noch keine Schreibmaschine, ein – im Text oben mit erwähntes –„Luxusgerät“, das im kommunistischen Rumänien während der Ceauşescu -Diktatur zu den verbotenen Dingen gehörte – wie Waffen, eben weil es eine Waffe war. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die nicht aufhören wollten zu fragen, warum, kannte Gerhard, der aufgeklärte Dichter, die richtige Antwort. Dieses „Darum“ und ein „Deshalb“ markierten den Unterschied zwischen uns. Eine Gesamtverantwortung für eine deutsche Gesamtschuld lehnte ich aus meiner damaligen Erfahrungswelt heraus ab. Eigenverantwortlich sah ich nur mein Tun und die Taten meiner Vorväter aus meiner Familie, die rein waren und nichts Verwerfliches an sich hatten. Was konnte ich mehr verantworten als das eigene Handeln? Mit den Verbrechen des braunen Diktators hatte ich genau so wenig zu tun wie die kommunistischen Utopisten meines Umfelds mit den Gräueln des roten aus dem Kreml. Statt meine Energien „gegen die eigene Identität“ einzusetzen, konzentrierte ich mich auf die Bekämpfung der kommunistischen Ideologie und Gesellschaft, die mir in ihrem Wesen heuchlerisch und vielfach verlogen erschien.



Gebt Gedankenfreiheit - oder: von der unfreien Presse im real existierenden Sozialismus


Die rumäniendeutschen Politiker der Ceauşescu-Zeit sind alle tot: Nikolaus Berwanger, Ernst Breitenstein, Eduard Eisenburger. Der interessanteste von ihnen, der widersprüchlichste, war sicher Berwanger. Durch ihn konnten wir am Anfang der achtziger Jahre manches innerhalb des Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreises machen, Regimekritisches, andererseits hat er auch manchen Schaden angerichtet. Was seine wirkliche Rolle war, lässt sich auch heute nicht feststellen, sagt Richard Wagner in einem Gespräch mit Stefan Sienerth. Damit ist eine Richtung markiert, die auf eine „höchst ambivalente Figur“ der Temeschburger Neuzeit verweist. Nikolaus Berwanger, Chefredakteur des deutschsprachigen Regionalblattes „Neue Banater Zeitung“, die er selbst mit dem Segen und unter der Ägide der kommunistischen Partei in die Welt hatte setzen dürfen, war zweifellos der Mittelpunkt des Wortgeschehens. Doch, wem diente und nutzte jene Miniaturzeitung mit dem Sitz in Temeschburg, die eine Alternative, doch kein regionales Gegengewicht zum landesweit erscheinenden Neuen Weg, darstellte?
Den Freunden der Mundart vielleicht? Die sich an ihrer literarisch unterhaltsamen Beilage erfreuten; an der „Pipatsch“, in welcher der leitende Redakteur, der auch ein Mundartdichter war, am liebsten eigene Beiträge druckte? Einem Temeschburger Bildungsbürger bot die NBZ kaum mehr als ein Mitteilungsblatt. Der Dialekt war ihm unzugänglich. Aber auch auf dem Land, wo es sehr verschiedene Dialekte gab, war es nicht immer einfach, das nachzuvollziehen, was gerade gedruckt wurde. Dessen ungeachtet war die Zeitung in gewissen Kreisen recht populär und wurde überwiegend in den Hecke- und Heidedörfern gelesen. Mir entsprach sie nicht, da sie neben der stark provinziellen Ausrichtung auch noch eine Tendenz ins Seichte aufwies und oft unkritisch im Unerheblichen verflachte. Heute behagt mir das zur Beilage zusammengeschrumpfte Blättchen noch weniger, da ich über dieses Medium, also von Rumänien aus von Richard Wagner angegriffen und verleumdet wurde, ein Blättchen, das von dem Aktionsgruppenkollegen Wagners Werner Kremm redigiert wird.
An dem damaligen Blatt, das immerhin einigen wenigen, weitgehend „angepassten“ Journalisten aus der Region eine gewisse, wenn auch nicht adäquate Wirkungsstätte bot und auch Mal den Beitrag eines frei Schaffenden abdruckte, störte mich seinerzeit nicht nur die kurzsichtige Innenschau, die einer Volksverdummung Vorschub leistete, sondern der grundsätzliche Aspekt, dass die NBZ als Presseorgan zu keinem Zeitpunkt wirklich frei war und nie an ein „journalistisches Ethos“ appellierte. Jetzt, nach drei Jahrzehnten ein solches von Redakteuren wie Werner Kremm einfordern zu wollen, der sich, fern von internationalem Presserecht weigerte, meine legitime „Gegendarstellung“ auf Wagners Replik zu drucken, wäre vergebliche Liebesmüh.
Es ist heute nur schwer vorstellbar, dass kritische und konsequente Journalisten wie taz- Autor William Totok, Horst Samson, Luzian Geier, Eduard Schneider und andere, die jahrelang in der Redaktion der NBZ agierten, dort zuständig für Literatur und Kultur, unter den gegebenen Verhältnissen über Jahre geistig überleben konnten - solange bis etwa Totok, offiziell als Übersetzer tätig, aus „Inkompetenz“ und „mangelndem patriotischen Geist“ rausgeworfen wurde. Die „Neue Banater Zeitung“ war ungeachtet einer gewissen Nischenexistenz genau so wenig souverän und frei wie die größere Tageszeitung aus Bukarest, der „Neue Weg“, in dessen Redaktionstuben mein Landsmann aus Sackelhausen Heinrich Lauer sein Brot verdiente. Beide Zeitungen deutscher Zunge und die Blätter aus Siebenbürgen waren genau so unfrei wie alle Zeitungen und Zeitschriften im Land oder im gesamten Ostblock. Schließlich waren Zeitungen und Zeitschriften „Instrumente der Meinungsbildung“, die sich nicht in Freiheit vollziehen sollte. Inzwischen ist einiges vom Ungeist des Journalismus in den Redaktionen westlicher Publikumszeitungen angekommen, wo es auch längst nicht mehr um „Wahrheit“ geht, sondern nur noch um die Durchsetzung bestimmter Positionen, die gerade opportun und zweckdienlich sind.
Wenn es gesellschaftspolitische Entwicklungen von hoher politischer Brisanz gab - wie bei der freien Gewerkschaftsgründung SLOMR in Bukarest und bald darauf durch uns in Temeschburg oder beim Ausbruch von Studentenunruhen - durfte einfach nicht berichtet werden. Realsozialistische Zeitungen waren reine Mittel der Machtausübung und des Machterhalts. An den Schalthebeln der Macht in den Zentralen saßen loyale Stützen des Systems, Handverlesene, die an der Partei- und Journalismushochschule „Stefan Gheorghiu“ ausgebildet worden waren, leider Gottes auch Deutsche.
KP- Mann Nikolaus Berwanger war eine der tragenden Säulen des Systems. Kraft seiner Position als „Chefredakteur“ und Vertrauensmann hatte er ein serviler Diener des Systems zu sein. Alle Bürger im Land, die sich des gesunden Menschenverstandes bedienten, wussten, dass die Partei alle Führungsfunktionen ausschließlich mit loyalen Kräften bestückt hatte, vom kleinen Meister in der Fabrik aufwärts bis zum „Direktor“, der auch nur Direktor sein durfte, wenn es der Partei gefiel. Persönlichkeiten, die auf die politische Meinungsbildung Einfluss nehmen konnten, die besondere Presseaufgaben umzusetzen hatten, wichtige Multiplikatoren wie er und seine leitenden Mitarbeiter, mussten „ganz auf Linie“ sein. Das waren die oft ungeschriebenen „Spielregeln“, ostblockweit - und das war allen bekannt. Überall im kommunistischen System war dies so - also war das auch jedermann bewusst, der in einem der osteuropäischen Staaten lebte und „offenen Auges durch seine Welt schritt“. Die potjomkinschen Fassaden waren da – man brauchte nur dahinter zu gucken!

„Gegen den Strom“? „Repräsentant“ ohne Legitimation und Kulturfunktionär im Auftrag


Da jede Medaille zwei Seiten hat und die komplexe Existenz eines Menschen in schwieriger Zeit viele Facetten aufweist, kann, je nach veränderter Perspektive, auch das hervor gekehrt werden, was andere nicht sahen. Es gab viele Möglichkeiten und Gründe, zum Kollaborateur zu werden und sich in individuelle Schuld zu verstricken, vor allem dann, wenn man erpressbar war. Und Schriftsteller und Dichter, die ihre Werke veröffentlicht sehen wollten, waren - viele Beispiele verweisen darauf - tatsächlich erpressbar.
In den Augen seiner damaligen Gefolgsleute und Anhänger war Berwanger ein sozialistisches Vorbild; eine Person, die sich aus einfachen Anfängen heraus auf der vielversprechenden Welle des Antifaschismus mit Parolen in eine soziale Stellung hochgedient hatte, die ihm Ehre und Macht verlieh; die ihm - im Rahmen einer tolerierten Narrenfreiheit - auch die Möglichkeit bot, „einiges für das Deutschtum in der Region zu tun, speziell für die Beibehaltung der deutschen Sprache und der deutschsprachigen Literatur.“ Einiges an guten und nützlichen Dingen hat Berwanger sicherlich auch bewirkt und umgesetzt, doch um welchen Preis? Manche, die ihm näher standen und auch den Kulturbetrieb der Stadt näher kannten, unter ihnen seine Protegierten und Mitarbeiter bei der NBZ, die heute allesamt in der Bundesrepublik leben, könnten und sollten, schon aus historischen Überlegungen heraus, seine Taten ansprechen und seine eventuellen Meriten aus heutiger Sicht bewerten. Reden wir doch darüber, was er „angerichtet“ hat!
Ein kleines Symposion zu dem Thema „Berwanger“ beim IKGS in München, dessen Essenzen eigentlich veröffentlicht werden sollten, brachte laut Presse nicht viel Neues. Das Thema wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Je nach Interessenlage wurde auch ich in den letzten Jahren kräftig munitioniert – von beiden Seiten, wobei es an gegenseitigen Verfehlungen und Schuldzuweisungen nicht mangelte. Der vielsagende und in manchen Punkten erhellende Briefwechsel Berwangers mit früheren „Genossen“ und Freunden - etwa mit Dieter Schlesak - verstaubt noch unausgewertet in den Literaturarchiven. Anderes unterliegt dem Datenschutz – Nahrung für neue Mythen.
Mir erschien Berwanger seinerzeit im Jahr 1978 aus meiner systemkritischen und deshalb nicht gerade objektiven Sicht nur als ein Typus, den die Rumänen „lichea“ nennen, als ein saturierter Bonze und ein systemtreuer Opportunist, der auch als willfähriger Literaturfunktionär agierte. Als solchen hat ihn selbst Richard Wagner in „Ausreiseantrag“ skizziert. Wagner, damals serviler Untertan seines Herrn, müsste es genau wissen. Er, der Lyriker, diente ihm, dem Chef, dem Chefredakteur und Mundartdichter, als Chauffeur!
Nur Berwanger heute posthum gar als „Schwimmer gegen den Strom“ stilisieren zu wollen, was auch schon erfolgt ist, übersteigt jedoch jeden Realitätssinn, jeden guten Geschmack, ist hochgradig absurd, eine Verhöhnung all jener, die unter solchen Handlangern der Diktatur bis in die Gefängnisse hinein zu leiden hatten. Wenn Berwanger „gegen den Strom“ schwamm – wogegen schwamm ich dann selbst in meinem jahrelangen Ankämpfen gegen Totalitarismus und kommunistische Diktatur? Etwas Aberwitzigeres lässt sich dem Titel dieses Buches „Gegen den Strom“ kaum noch entgegenstellen!? Berwanger, der, mit einem sehr bescheidenen Talent ausgestattet, selbst dichtete, menschlich sogar jovial und bisweilen vielleicht sogar integer sein konnte, war jedoch nicht nur ein serviler Zuträger des Systems und ein Literaturverwalter. Er war darüber hinaus - und das wird oft vergessen – ein „waschechter kommunistischer Politiker deutscher Nationalität“ mit klar definierten Aufgaben. Er war ein klarer Funktionsträger und der beratende Ansprechpartner der Kommunistischen Partei schlechthin, wenn es um Minderheitenangelegenheiten der Deutschen im Banat ging und Fragen, die uns alle betrafen, auch jenseits der Literatur und Kultur. In dieser Eigenschaft, das wussten wenige und vergaßen nach dem Umsturz viele Zeitgenossen, griff er direkt in die Existenz seiner donauschwäbischen und Temeschburger Landsleute ein und bestimmte ihr Schicksal mit.
Für die von ihm wahrgenommenen Aufgaben, die deutsche Minderheit im Banat kulturell und indirekt auch politisch zu vertreten, hatten viele ehemalige Banater überhaupt kein Verständnis, da sie zu keinem Zeitpunkt demokratisch legitimiert war. Mit den Wölfen zu heulen war eine Haltung, die vielen einfachen Menschen zutiefst fremd war, da das Mitjaulen nur den Schrecken verstärkt, den das Rudel verbreitet. Für mich, den politisch wie historisch Festgelegten, waren „Charaktere“, die „ihre Identität“ preisgaben, um ehrgeizig Karriere zu machen und ihre Selbstverwirklichung zu betreiben nicht mehr als seelenlose Vehikel der Macht, Marionetten im Tanz, die um den Despoten Ceauşescu rotierten.
Berwanger, dessen angebliche „antifaschistische Haltung“ ich durch keine entsprechenden Taten belegt und bestätigt sah, war nur einer unter den sanktionierenden Stützen des Systems - und er lebte gut dabei. Die Partei dankte es ihm und den anderen in ähnlicher Position mit Privilegien aller Art.
Immer wenn ich seinerzeit als Jugendlicher über diese Ungerechtigkeiten nachdachte, kam Wut auf und heftige Erregung. Verrat aus den eigenen Reihen? Da rebellierte es in mir. Doch Berwanger war nicht nur Journalist, Berufsantifaschist, Mundartdichter und Politiker; er war ein Tausendsassa und - man mag es gar nicht aussprechen - er repräsentierte sogar die „Kultur“ in der Region. Er, das Proletarierkind aus dem Zuckerfabrikhof in Freidorf, bestimmte über die Kultur eines ganzen Raumes, schlechthin über unsere Köpfe hinweg, selbst den Gang des Geistes in den Köpfen bestimmte er mit. Als Kultur-„Macher“ war er mir vor allem deshalb unerträglich, weil er, ähnlich der Schlange im Paradies, als verkappter Kulturimperialist auftrat, der andere, vor allem junge Künstler, die sich noch nicht festgelegt hatten, verlockend korrumpierte, einen Köder einsetzend, den die Partei genehmigt hatte.
Im Umfeld, wo er mir begegnete, kam ihm die von den Oberen auferlegte Aufgabe zu, den losen Kreis kreativer Menschen, die dichteten und schrieben, an sich zu ziehen, ihn zu binden und ihn so zu instrumentalisieren, dass von seinen Mitgliedern keine geistige Gefahr mehr ausgehe. Mich wunderte es nur, wie gerne die „sonst so kritischen Geister“ dem „Rattenfänger“ folgten.
Zuviel Macht war in seiner Person gebündelt. Er stand dem „Adam Müller Guttenbrunn-Kreis“ vor und bestimmte über diesen die Literaturpolitik der Region. An ihm vorbei konnte kaum ein Schriftsteller debütieren. Er war früher Lektor, Liktor und Zensor zugleich. Er war der Mann mit der großen Schere, von dem Heine spricht, er war der Metternich Lenaus. Er war die Kontrollinstanz, die das „Plazet“ aussprach, der allem seine Weihe und damit die indirekte Sanktion der Partei gab.
Während meiner seltenen Begegnungen mit diesem selbst ernannten Mäzen kam es zu keinen Erkenntnissen mit nachhaltiger Wirkung. Kurz: Berwanger beeindruckte mich nicht, da er nur durch seine Position präsent war, nicht aber als Persönlichkeit von Format. Vielmehr scheute ich ihn, da mir nichts einfiel, was ich mit ihm hätte erörtern können, ohne zu heucheln und ohne mich selbst verbiegen zu müssen.
Weshalb ich ihm und dem Kreis meine damals verfassten Texte vorenthalten habe, fragt man mich heute? Was hätte ich damals im Dialog erörtern können oder sollen? Mein „antistalinistisches Zeitromanprojekt“ vielleicht, „Die Flucht in die Heimat“, in welchem es um stalinistische Geschichtsschreibung und primär um die Verbrechen der Roten ging, um den Genozid an Deutschen? Wie hätte Berwanger das unzeitgemäße und ketzerische Werk aufgenommen? Hätte er geschwiegen? Oder hätte er doch gleich diskret zum Telefon gegriffen und kurz Hauptmann Pele oder Major Köppe von der „Securitate“ informiert, im typisch vorauseilenden Gehorsam und als potenzielle Empfehlung? Solch ein Risiko konnte ich nicht eingehen. Mir fehlte einfach das Vertrauen. Nie konnte ich herausfinden, ob er wirklich integer war.
Als „Mann des Systems“ unterhielt Berwanger exzellente Kontakte zum Geheimdienst „Securitate“, namentlich zu ihrem damaligen Chef Mortoiu. Er soll auch - in einem Anflug von schriftstellerischer Solidarität - einzelne Dichter, deren Verse gerade auf dem Prüfstand der Sicherheit standen, aus der Untersuchungshaft herausgeholt haben. Mag sein. Doch sollte man deshalb auch den verbrecherischen NS-Bonzen Hermann Göring sympathisch finden, nur weil er von den Vielen auf der „Liste zur Vernichtung im KZ“ einige Wenige gerettet hat - und dies vielleicht nur aus dem perversen Antrieb, um seine Macht voll auszukosten?
Aus solchen Überlegungen heraus verhielt ich mich Berwanger gegenüber stets reserviert, mied seinen Umgang, seine Nähe und reduzierte meine Rolle in dem weiten, losen Kreis auf die untätige Präsenz eines Statisten, der alles aus der relativen Ferne einer Ecke beobachtete und auf diese Weise seine Konsequenzen zog. Lieber im Obskuren ausharren, als mitschuldig werden an einem geistigen Verrat, der die Gesellschaft bedrohte.
Berwangers Verhalten erschien besonders dann hochgradig suspekt, wenn er, ungeachtet der Mangelgesellschaft, in der wir lebten, einem generösen Pascha gleich, im Bierkeller großzügige Bestellungen für alle aussprach und ebenso selbstgefällig wie leger die dicke Zeche beglich, aus welchen Mitteln auch immer. Entsprach das nicht einer „direkten Vereinnahmung“ junger Menschen? Einer Vorform zur Ermöglichung einer Buchproduktion? Wer konsequent war, hatte wenig Verständnis für solche Formen materiellen Bezirzens, die irgendwann in eine weitere Kollaboration münden konnten. Wer „A“ sagte, musste später auch „B“ sagen; zunächst zur „Partei“ – und dann, das vergaßen die Dichter, auch zur „Securitate“.
Selbst die erste Stufe der Mitarbeit über Vereinnahmung und Privilegien hatte nach meiner damaligen Auffassung bereits etwas „Verräterisches“ an sich. Zahlreiche Menschen aus meinem Umfeld lehnten diese Art des unterwürfigen und speichelleckerischen Vasallentums ebenfalls ab, weil es weitgehend dafür verantwortlich war, dass die Heuchelei im Land weiterhin triumphieren und regieren konnte. Es waren die Gleichen, die es ablehnten, der „einzigen Partei“ beizutreten und die vielen daraus folgenden Konsequenzen negativer Art ertrugen.
Berwanger, der zeitweise im bescheidenen Maße literarisch aktiv war, publizierte und irgendwann, nachdem ihn seine Minderheit verlassen hatte, noch vor seinen Schützlingen in der Bundesrepublik ankam, empfand sich selbst als Mäzen und Protektor junger Dichter, selbstherrlich und freigiebig wie ein barocker Fürst im Absolutismus. Dank seiner guten Kontakte zur Partei hat er auch die Edition des einen oder andern Lyrikbändchens ermöglicht. Wer waren die Nutznießer? Eine „Handvoll Leute“ aus dem Partei-Umfeld, deren Büchlein in kleiner Auflage allesamt gedruckt wurden, die aber auch die Preise der Jungendorganisation dieser totalitären Partei einheimsten – ohne Scham, „Preise“, die später andere Preise ermöglichen sollten! Als lohnte sich die unethische System-Kollaboration doch?
Über den literaturhistorischen Wert solcher Lyrikeditionen, die kaum ein Publikum fanden, mag man diskutieren. Vielleicht glaubte Berwanger daran, so auf dem richtigen Weg zu sein und im Rahmen seiner Möglichkeiten das herauszuholen, was machbar war. Ihm und seinem Umfeld standen alle Verlagstüren im sozialistischen Rumänien offen; und er durfte sich als einer der wenigen „ein paar Zwischentöne“ erlauben wie früher der Hofnarr am Königshof, „leise Kritik“, die anderen Akteuren sicher eine Verfolgung wegen „antisozialistischer Propaganda“ und somit „einige Jahre Haft“ eingebracht hätten, ganz nach dem Motto: Quod licet Iovi … Immerhin fand ich in einigen seiner kleinen, unerheblichen Geschichtlein aus dem realsozialistischen Alltag mit satirischem Unterton mehr „Kritik“ vor, als in Herta Müllers „Niederungen“, wo nur die „deutsche Gemeinschaft“ des Banats unter Anklage stand. Weshalb ließ Berwanger dieses Spott-Bändchen gegen das eigene Volk zu? Weshalb förderte er es gar direkt oder indirekt? Vielleicht um mit den rumänischen „Genossen“ aus der Kommunistischen Partei einmal genüsslich über die „dummen Deutschen“ im Land zu lachen?



Januskopf - Ein Bild im Wandel


Nikolaus Berwanger, der eigentlich erst sehr spät als „Poet“ debütierte, eigentlich als „Mundartdichter“, erst 1976, zu dem Zeitpunkt, als ich mit seinem erstmals Kreis in Berührung kam, wurde von der späteren „regionalen Literaturkritik“ recht schonend behandelt, verständnisvoll, ja gnädig - selbst von Personen, die unter dem von ihm gestützten System als Literaten zu leiden hatten wie Herbert Bockel, dessen Dissertation am Anfang der siebziger Jahre nach Faschismustendenzen untersucht wurde. Bockel, dem die zahlreichen ambivalenten und fragwürdigen Verhaltensweisen Berwangers sehr wohl bewusst sind, findet in einem 1997 gehaltenen, veröffentlichten Vortrag auch manches Positive und Lobenswerte an dem Mundartdichter, bisweilen auch ein paar tiefgründige Zeilen.
Berwanger, der glaubte, seine Zeit gelebt zu haben - und nicht sein Leben, wurde ein Opfer seiner Zeit, weil er ihren „Ungeist“ mittrug und sich vom billigen „Zeitgeist“ tragen ließ. Als er seine „herausgehobene Stellung des einzigartig Privilegierten“ doch noch aufgab, was für eine gewisse menschliche Größe spricht, für späte Einsicht und Reue - und von einer Besuchsreise in die Bundesrepublik nicht mehr nach Temeschburg zurück reiste - katapultierte er sich selbst in die Bedeutungslosigkeit und in die Isolation. Die Anfeindungen in der Bundesrepublik aus konservativen Kreisen gingen über die Würdigung der spärlichen Meriten hinaus. Die Kompromisshaltung des Paktierers, der aus dieser Haltung heraus vielleicht auch etwas an Gutem bewirken konnte, wurde von vielen ausgereisten Landsleuten genauso wenig verstanden und geachtet wie einst von mir im zarten Alter von achtzehn Jahren. Doch Berwanger wurde nicht nur von seinen früher oft übergangenen Landsleuten geschnitten, gar bestraft und von seinen marxistischen Zöglingen, die sich allesamt von ihm abwandten, sondern auch von der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die ihn der Anonymität und der Bedeutungslosigkeit preisgab. Das Resultat war existenzielle Verbitterung, die aus einer späten, in der Bundesrepublik entstanden Lyrik herausgelesen werden kann. Nach seiner Flucht 1984 saß er nicht nur „zwischen den Stühlen“; er geriet sogar zwischen die gnadenlosen Mühlenräder aus Stein, die ihn letztendlich zermalmten. Ob er noch eine späte Würdigung erfahren wird für das Positive, was er in einem ausgefüllten Leben „zwischen den Fronten“ als „ehrlicher Makler“ geleistet hat? In seiner Heimatstadt Temeschburg hat man immerhin eine Straße nach ihm benannt, nicht in „Freidorf“, sondern zentral, im Herzen der Stadt. Wenn das nicht mehr ist, als nur der Wink einer alten Seilschaft? Viele Fragen bleiben offen – Raum für die Forschung!?
Ob eine aktive „Kollaboration“ der deutschen Minderheit mit der RKP überhaupt sein musste, um das Überleben der Kultur zu sichern und im Interesse vieler Menschen, das ist eine Grundsatzfrage, die hier nicht zu Ende diskutiert werden kann. War sie notwendig? Wie weit konnte, durfte man gehen? Wurde sie von den richtigen Personen wahrgenommen? Und hat Berwanger das Maximale herausgeholt, bevor er sich 1984 von den „Kommunisten“ endgültig absetzte? Ob er auch „über seinen Schatten springen“ konnte, ob er es „durfte“, um sich dabei „Freiheiten herauszunehmen“ wie andere Protegés in anderen Diktaturen, Narrenfreiheiten, die gar „Regimekritisches“ ermöglichten?“ Ob Berwanger gar die „schwere Last des Amtes“ nur aus „Altruismus“ angenommen hatte, um, sich selbst aufopfernd, für die „Deutschen im Banat Gutes zu tun“? Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Ob er das, was er tat, vor seinem Gewissen rechtfertigen konnte? Später scheint er wirklich einiges bereut zu haben? Ob er nur da war, eingesprungen war, um einen „Schlimmeren an gleicher Stelle zu verhindern“?
Das alles sind Denküberlegungen beruhend auf Fakten, die jedem von uns, ob Schriftsteller, Dissident oder normaler Staatsbürger, mehr oder weniger bewusst waren. Vieles aber, was beim Wägen der Meriten und Verfehlungen wichtig wäre, ist noch nebulös und unbeantwortet. All das wird auch noch eine Weile im Bereich der Spekulation verbleiben, nicht zuletzt deshalb, weil enge Wegbegleiter, die Licht ins Dunkel bringen könnten, nur das zu seiner Person aussagen, was ihnen aktuell in den Kram passt, Leute wie Richard Wagner, die nicht „historisch aufklären“, sondern rücksichtslos bis impertinent die „Version“ und „Interpretation“ der Ereignisse in die Welt setzen, die den „eigenen Interessen“ dient. Das habe ich in meiner Auseinandersetzung mit ihm auch in der Sache Herta Müllers innerhalb von zwei Jahren immer wieder erfahren müssen.
„Regimekritisches“ jedenfalls hat – nach meinem Erkenntnisstand – weder Berwanger ermöglicht, noch einer aus dem kommunistischen Umfeld, am wenigsten der von ihm geförderte KP-Genosse Richard Wagner, der „kein Dissident“ sein wollte und deshalb mit der „Metapher“ opponiert haben will, nach eigener Aussage unter einer Tarnkappe versteckt. Grotesk! „Regimekritisches“!? Ein schönes Thema für eine Abhandlung, für eine Apotheose oder eine Apologie. Schon seit längerer Zeit warte ich auf einen Bericht über die regimekritischen Aktivitäten der Linksintellektuellen aus Berwangers Umfeld vor 1985. Bisher ist er ausgeblieben - vielleicht kommt er noch!
Ironie des Schicksals: Gerade diejenigen unter den linken Literaten, die Berwanger als Mäzen, Mentor und Protektor wohl am meisten verdanken, ignorieren ihn heute fast vollkommen und tun so, als ob sie ihn und seinen Kreis nie gekannt hätten. Undank ist der Welt Lohn – Unser oberster Repräsentant im  Ceauşescu -Staat könnte ein Lied davon singen, auch eines von „kommunistischer Solidarität“, wenn er denn nicht bereits verstorben wäre. Bereit „auszupacken“ war er in jedem Fall, zumal er die Selbstinszenierungen, Stilisierungen und Retuschierungen gerade in der Vita von Herta Müller nach ihrer Ankunft 1987 in der BRD nicht mittragen wollte. In einem weitgehend nur Insidern bekannten Interview an entlegener Stelle in der Zeitschrift für Politik „Düsseldorfer Debatte“, namentlich in dem Gespräch mit Volker Kaukoreit, plaudert der einst mächtige Mann des Banats aus dem Nähkästchen und sagt dort mehr, als Herta Müller angenehm sein kann. Auszüge aus dem brisanten Dialog wurden von mir in der internationalen Presse mehrfach zitiert und kommentiert – trotzdem: Die Karawane zieht weiter … ohne dass bestimmte historische Details weite Kreise interessieren würden.
Nikolaus Berwanger, von mir und anderen Oppositionellen seinerzeit als reiner Funktionsträger der KP wahrgenommen, interessiert heute primär als „Zeitzeuge“. Da er eine Schlüsselposition innehatte, kann sein Schrifttum viel über das „Innenleben des Systems“ aussagen; darüber hinaus auch noch einiges zum literarischen Werdegang früherer Systemzöglinge, deren Lebenslauf gerade in Sachen Opportunismus und Kollaboration manche dunklen Stellen aufweist.
Weshalb er sich absetzte und wie es ihm gelang zu fliehen, ohne dass die „Securitate“ dem langjährigen Vertrauensmann der KP in hoher Stellung ein Mordkommando hinterherschickte, das ist eine andere Geschichte. Vielleicht gelang es ihm, sich zu arrangieren? Vielleicht baute man ihm eine „goldene Brücke“ und ließ ihn ziehen, wohl wissend, dass er zwischen den Fronten und in der Bedeutungslosigkeit landet? Wie auch immer! Fakt ist allerdings, dass Berwanger floh, als der Exodus der Deutschen im Banat über doppelte Freikaufzahlungen auf seinen Höhepunkt zustrebte. Ein interessanter Zeitpunkt, denn Herta Müller und ihr KP-Gatte Richard Wagner sagten damals noch „Nein“ zu einer Ausreise in die BRD. Sie wollten in Ceauşescus Staat bleiben!
Weshalb? Weil es ihnen dort schlecht ging? Weil sie verfolgt wurden? Weil sie gar gemartert wurden? Ganz im Gegenteil! Ceauşescu ließ sie reisen! Herta Müller kam seit 1984 bis zu ihrer Ausreise mehrfach in die Bundesrepublik, während ihr KP-Gatte 1985 zum Schriftstellerkongress nach Münster in Westfalen durfte – vier Jahre vor der Wende. Berwanger lief davon – seine Zöglinge Müller und Wagner blieben! Weshalb?




















Zur Geschichte des Kommunismus in Rumänien,

Securitate- Dokumente aus der "Opfer Akte" des Oppositionellen
Carl Gibson bei der CNSAS



Original-Dokumente können wesentlich zur Vergangenheitsaufarbeitung beitragen.

So mancher informelle Mitarbeiter des kommunistischen Geheimdienstes "Securitate" hat inzwischen unter der erdrückenden Last veröffentlichter Dokumente eingeräumt, für die "Securitate" tätig gewesen zu sein.

Unliebsames oder Aussagen, die nicht in das aktuelle Image passen oder dem eigenen Mythos zuwiderlaufen, einfach als "gefälscht" abzutun, wird bei genauerer Betrachtung nicht funktionieren.

Wichtig:

In meiner Akte aus dem Zeitraum 1977 - 1981 sind nach meiner Einschätzung keine Dokumente zu finden, die nachträglichvon der "Securitate" eingefügt worden wären.

Das nachträgliche Fälschen von Dokumenten ist zwar denkbar und möglich, doch nicht wahrscheinlich.

Das "Verfälschen" von "historischer Wahrheit" erfolgt primär durch das

"Weglassen"und "Entfernen" von Dokumenten in den Akten, also durch systematisches "Säubern" bzw. durch das Tilgen (Eliminieren) von ganzen Dossiers.

Es ist bekannt, dass "Dossiers" sogar vollständig verschwanden.

Gerade Akten von Personen aus Politik und Wirtschaft, heute in Amt und Würden und seit dem Umsturz bzw. dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems im Ostblock in einflussreichen Positionen, sind einfach unauffindbar.

Noch vor dem Einblick in die eigene Opfer-Akte habe ich wichtige Dokumente auf meiner Homepage veröffentlicht, u. a.
Urteil, Entlassungsschein aus dem Gefängnis etc. sowie Fotos vom Ort des Oppositionsgeschehens in Temeschburg im Banat, unter:

http://www.gibsonpr.de/

- Bilddokumentation.

An dieser Stelle präsentiere ich der interessierten Öffentlichkeit weitere Dokumente.

Der rumänische Text ( für viele Leser leider sprachlich nicht nachvollziehbar!) wird knapp erläutert.

(Zur Ansicht bitte das einzelne Dokument anklicken oder aufzoomen!)




In diesem zweiten Band, der nur einen Torso darstellt, fehlt die Dokumention meiner Aktivitäten im "rumänischen Exil",
namentlich die Vorgänge um die Beschwerde der ILO der UNO (Vereinte Nationen) über die CMT ( Confederation Mondial du Travail), wo ich 1981 als Auslandssprecher der unterdrückten SLOMR auftrat und als Hauptzeuge der ILO/CMT gegen die Regierung Ceausescus aussagte.

Die mehrsprachige Dokumentation ist auch heute noch im Internet abrufbar, unter:

http://webfusion.ilo.org/public/db/standards/normes/libsynd/LSGetParasByCase.cfm?PARA=2657&FILE=1066&hdroff=1&DISPLAY=CONCLUSION,BACKGROUND










In diesem Dokument wird beantragt, den im westlichen Exil seit 1979 staatsfeindlich aktiven Carl Gibson auf die Liste der "unerwüschten Personen" zu setzen.

Bezeichnend:

Der - sonst strikt vermiedene Begriff "SLOMR" für die freie Gewerkschaft rumänischer Arbeiter, die 
ich in Temeschburg nach der Niederschlagung in Bukarest neu ins Leben rief, wird explizit erwähnt.

(Schließlich schrieb die "Securitate" an sich selbst - und konnte so "Klartext" reden.)

Ferner heißt es, ich ( Carl Gibson) würde andere Ausreisewillige ermutigen und aufhetzen.
Typisch Securitate:

Der "Feind" kam immer aus dem Ausland - eine bequeme Art, das Versagen des sozialistischen Systems zu rechtfertigen

Ein Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa war 1981 noch nicht absehbar.




Dem Antrag wird entsprochen -

Der Nichtdiplomat Carl Gibson wird zunächst für "5 Jahre" de facto zur "persona non grata" im Rumänien Ceausescus - faktisch aber bis zur Rumänischen Revolution im Herbst 1989 und noch darüber hinaus, da die Kommunisten um den Altstalinisten Ion Iliescu als Präsident noch weitere 7 Jahre das politische Sagen hatten.

Mitglieder der SLOMR- Temeschburg, die nach ihrer Ausreise (ab 1979) versuchten,
ihre zurück gelassenen Verwandten im kommunistischen Rumänien zu besuchen,
wurden allesamt an der Grenze abgewiesen - bis 1989.


Da mir vielfach massiv seitens der Securitate gedroht worden war, unternahm ich nie den Versuch, nach Rumänien zu reisen.

Erst in diesem Jahr (2010) wurde die "Heimkehr ins Banat" möglich - nach mehr als 30 Jahren Abwesenheit.



Foto: Carl Gibson

Denkmal für die Opfer der antikommunistischen Revolution von 1989, die in Temeschburg ihren Anfang nahm.
Im Hintergrund die Oper.

Widerstand gegen die kommunistische Diktatur in Rumänien -

Aus Carl Gibsons Securitate- "Opfer- Akte" -

Dokumente zur frühen Regimekritik



In den Jahren 1976/1977 - ich war damals 17 Jahre alt - wurde es ernst.

Wie viele andere Jugendliche aus meinem Umfeld im deutschsprachigen Banat,
wollte ich in die Bundesrepublik ausreisen,
während die Linken, Marxisten, Antifaschisten aus der Literaturszene noch eine Weile "bleiben" wollten.

Gehen oder bleiben?
Das war damals die Frage!

Die Einen "arrangierten" sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im Land, auch mit der Kommunistischen Partei (KP),
denn sie wollten Karriere machen!
Gut leben!

Die Anderen opferten alles, um frei zu sein,
um die Diktatur Ceausescus zu verlassen,
selbst um den Preis ihres Leben an der "Grünen Grenze".

Die Vielen aus der deutschen Gemeinschaft der Banater Schwaben standen dem Kommunismus skeptisch gegenüber -
und sie standen uneingeschränkt zur Bundesrepublik Deutschland.

Ich war einer aus der großen Schar, jung, rebellisch, kritisch, direkt.

Ein Brief an die "Deutsche Liga für Menschenrechte", in welchem ich 1976 betonte,
ich wolle das Land "so oder anders" verlassen,
rief erstmals die "Securitate" richtig auf den Plan,
namentlich Untersuchungsrichter Hauptmann Petre Pele und Major Rudolf Köpe
(beide ausführlich in meinem Werk "Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur",2008 porträtiert!)
Der zweite Band (Gegen den Strom) konnte aus Gründen, die ich nicht zu verantworten habe, leider noch nicht veröffentlicht werden.


Das Dossier "Gibson Karol" NR. I 257 993 Bd. 1 wurde unmittelbar nach meiner Ausreise im Jahr 1980 "mikroverfilmt".



Carl Gibson ist nunmehr im "Visier der Securitate".
Er wird von Hauptmann Petre Pele und Major Köpe verwarnt, nachdem seine Fluchtabsichten bekannt geworden waren.

Carl Gibson muss sich verpflichten, während des Unterrichts am Nikolaus Lenau-Gymnasium nicht weiter regimekritische Äußerungen vorzunehmen und Vergleiche mit der Bundesrepublik herzustellen.


Foto: Carl Gibson

Das "Nikolaus-Lenau-Lyzeum" in Temeschburg, Banat, im Herbst 2010

Ein Spitzel ("Rodica") hatte die kritischen Aktivitäten des aufmüpfigen Schülers der "Securitate" gemeldet.




Spitzelbericht der Quelle "Rodica" über Äußerungen des Lehrers am Lenau-Gymnasium
Rudolf Richter-
Richter hatte im Gespräch mit einem Kollegen die permanenten regimekritischen Äußerungen eines Schülers (Carl Gibson) und seine Vergleiche Rumänien mit der BRD erwähnt.

RKP - Mitglied Rudolf Richter wird bald darauf in einem Gespräch mit der Securitate ( Pele, Köpe) die Identität von Carl Gibson preisgeben müssen.

Sonst hätte er seine gute Position als Lehrer an einer der wenigen Elite-Schulen im Land eingebüßt.


Der kaum achtzehn Jahre alte "Regimekritiker" Carl Gibson ist jetzt als staatsfeindlicher Bürger (1977) aktenkundig.


Foto:Carl Gibson

Der Domplatz in Temeschburg, in unmittelbarer Nähe von Lenau-Schule, Gericht und Bastei

Andere linke Studenten und Schriftsteller aus Carl Gibsons Umfeld standen seinerzeit noch viele Jahre loyal zur Rumänischen Kommunistischen Partei (RKP) (als Mitglieder) und zum System,
das sich mehr und mehr zur Diktatur wandelte.




Foto: Carl Gibson

Die Synagoge - Temeschburg, immer schon ein Ort der Toleranz.






Major Rudolf Köpe legt fest, dass der potenzielle Staatsfeind Carl Gibson ab sofort "observiert" wird.

Gleichzeitig ist Untersuchungsrichter Hauptmann Petre Pele bereit, ein "Strafverfahren" gegen Carl Gibson vorzubereiten.

Ab diesem Zeitpunkt sammelt die Securitate Spitzelberichte, in welchen dem Regimegegner Carl Gibson Straftaten bescheinigt werden (Fluchtplanung für andere, Devisenvergehen etc.).

Offenbar wurde Druck auf Personen aus dem weiten Bekanntenkreis Carl Gibsons ausgeübt, um solch belastende Erklärungen ( die sich in der Akte finden) zu beschaffen.


Foto: Carl Gibson

Die alte Bastei aus der k. u. k. -Zeit - Treffpunkt Andersdenkender, Ort der "Konspiration" und der Aushorchung durch Spitzel der Securitate.


Zur
Opposition von Carl Gibson -
Sympathisant der Menschenrechtsbewegung von Paul Goma

Original-Erklärung Carl Gibsons
als Anhänger der
Menschenrechtsbewegung
von Paul Goma
im Frühling 1977




Im März 1977 bebte in Bukarest die Erde.
Die Naturkatastrophe richtete schwere Schäden an.


Foto: Carl Gibson

Sitz der Regierung Rumäniens in Bukarest, Oktober 2010

Gleichzeitig gab es in der rumänischen Hauptstadt ein kleines "politisches Beben",
das die regierende Kaste um Nicolae Ceausescu zutiefst verunsicherte.

Im Gefolge der "Charta '77"-Bewegung von Vaclav Havel und Pavel Kohout
in der Tschechosklowakei hatte der
rumänische Schriftsteller Paul Goma
zur Solidarität mit der Bürgerbewegung im Bruderstaat aufgerufen und nationale Reformen angemahnt.

Daraus entwickelte sich die so genannte "Paul Goma Menschenrechtsbewegung".

Einer der Sympathisanten und potenzieller Unterzeichner der von Goma ausgearbeiten und veröffentlichten "Petition", die sich an Ceausescu und die KP richtete,
war der Jugendliche Carl Gibson aus dem Banat.


Foto: Carl Gibson

Die langjährige Machtzentrale von Diktator Nicolae Ceausescu:

Das ehemalige Zentralkomitee der Rumänischen Kommunistischen Partei,
heute Sitz von diversen Ministerien.


Carl Gibson wurde vor Gomas Appartement im Viertel "Drumul Taberei", Bukarest verhaftet
und musste die oben publizierte Erklärung abgeben.

Wie es heißt, wurde er "eingeladen", eine Erklärung abzugeben,
"freiwillig"!

Teile der Erklärung wurden dem jungen Deutschen aus dem Banat in die Feder diktiert,
speziell der Passus, er wolle "nur" ausreisen,
diese Ausreise durch den Protest und die Unterzeichnung der Petition Gomas beschleunigen -
er strebe aber keine "politisch-gesellschaftlichen Veränderungen" an.


Foto: Carl Gibson

Der Triumphbogen in Bukarest,
unweit das Diplomatenviertel mit der Deutschen Botschaft,
der Carl Gibson auf der Suche nach Unterstützung seit 1976 regelmäßig Besuche abstattete.

Die Aktion, an Paul Gomas kommunismuskritischer Menschenrechtsbewegung mitwirken zu wollen, sollte für Carl Gibson noch zahlreiche Konsequenzen haben,
Verfolgung, Bespitzelung, ein "Schauprozess" in der Vorzeige-Fabrik "1. Juni" , Verhöre, U-Haft u. a. mehr.



"Schauprozess" nach stalinistischer Art in der Fabrik "1 "Juni" -

Kritik und Autokritik Dokumente CNSAS




Stalins Erben in Rumänien - vor dem "Tribunal der Arbeiter"

Es war Partei - und Staatschef Nicolae Ceausescu persönlich,
der anordnete, alle Unterzeichner und Sympathisanten der
"Paul Goma-Menschenrechtsbewegung"
sollten vor ein "Arbeiter-Tribunal" in den Betrieben gestellt,
kritisiert und moralisch verurteilt werden .

Carl Gibson erlebte seinen "Schauprozess" nach stalinistischem Muster in der Trikotwarenfabrik "1 Iunie" in Temeschburg.

Vor einer Abordnung von "Securitate", Partei ( Rumänische Kommunistische) , Betriebsleitung und einer Anzahl von etwa 150 Arbeitern ( die Zahl stammt aus dem Report von Securitate-Major Köpe) sollten Arbeiter des Unternehmens den Rebellen aus ihren Reihen
"demaskieren",
ordentlich kritisieren und zur Räson rufen.

Die Veranstaltung wurde durchgeführt - sie brach aber in sich zusammen und musste bald abgebrochen werden, als die Fabrikarbeiter sich mit dem angeklagten Kollegen Carl Gibson solidarisierten, dafür aber tatsächliche Probleme des sozialistischen Alltags anzusprechen begannen.

Carl Gibson wurde nach der Maskerade aus dem Betrieb entfernt und ohne jede Kündigung entlassen.



Das Arbeitsverhältnis bricht im Juli 1977 abrupt ab.
Damit wird Carl Gibson die Grundlage entzogen, den Weg zum Abitur im "Nikolaus Lenau-Gymnasium" (Abendkurs) weiter zu beschreiten.


Das hier weiter unten publizierte Dokument ist "schön gefärbt" und enthält
die "Kritik-Berichte" loyaler Arbeiter und der Betriebsleiterin,
Direktorin Iulia Pasca, die bei der sonderbaren Veranstaltung nicht einmal anwesend war.

Die Schönfärberei wurde dann von der Securitate in Timisoara (Temschburg) ins Innenministerium nach Bukarest übermittelt.



Es war die Rumänische Kommunistische Partei selbst,
die auf ihrem Parteitag zu Kritik und Autokritik aufgerufen hatte -
nur am obersten Führer der RKP Nicolae Ceausescu war keine Kritik zugelassen - wie bei Kim und Mao!



Securitate- Major Köppe vermerkt den Vorgang in einem Bericht:



Nach der Entlassung aus dem Betrieb war Carl Gibson "vogelfrei"
und konnte jederzeit wegen "Parasitismus" verhaftet
und auf der Grundlage des Dekrets 153 abgeurteilt und ins Gefängnis geworfen werden.

Köpe bestätigt mein Festhalten an der Ausreise in die BRD.




Die Rumänische Kommunistische Partei Ceausescus ist Auftraggeber der "Securitate" -

Wichtiges Dokument

In linken Kreisen wurde bereits 1985 und dann nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa die These in Umlauf gebracht,

der repressive Geheimdienst der Ceausescu-Diktatur "Securitate"sei "ein Staat im Staat" innerhalbdes real sozialistischen Systems gewesen.

Das war und ist eine Selbstlüge im Versuch, die eigene Mitgliedschaft in der Rumänischen Kommunistischen Partei klein zu reden,

zu verniedlichen,

um so von der Mitverantwortung aller Partei-Mitglieder abzulenken.

Die Kommunistische Partei -

und das ist die Summe aller Mitglieder und Funktionäre -

ist für den ökonomisch-politischen Niedergang des Landes und den totalen Ruin in Rumänien allein verantwortlich.

Die Linken und langjährigen KP-Mitglieder auch deutscher Zunge,

die ursprünglich wohl von idealistischen Antrieben geleitet eigentlich die unzulängliche "real sozialistische" Gesellschaft über Kultur und Literatur positiv zu verändern gedachten,

wollen nun, nachdem sie die Fronten gewechselt haben und im Freien Westen Aufnahme und ein Auskommen gefunden haben,

plötzlich nur noch quasi apolitische "Mitläufer"gewesen sein, Opportunisten, die allein aus Laufbahngründen der Kommunistischen Partei Ceausescus beitraten.

10, 15 Jahre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei sind über Nacht vergessen?


Altkommunisten,

die seinerzeit die "Zeichen der Zeit"eklatant verkannten

und auf eine totalitäre Monopol-Partei Nicolae Ceausescus setzten,

wollen nun selbst als Verfolgte gelten,

als Widerständler -

und, wie damals schon, wieder als die "Guten und Gerechten",

wo sie doch nur opportunistische Wendehälse sind, schnöde Pharisäer,

die Fakten verdrehen, um eigene Ziele zu verfolgen - jenseits der historischen Wahrheit.

Dass einige aus ihren Reihen "ideologische Scharfmacher" waren,

echte Propagandisten der Kommunisten-Partei

wie Herta Müllers zweiter Ehemann, Dichter Richard Wagner aus Perjamosch im Banat,

wird verschwiegen, verdrängt und der deutschen Öffentlichkeit vorenthalten.


Foto: Carl Gibson


In diesem Palazzo hatte sich die Arbeiter- und Bauern-Partei der Kommunisten wohlig eingenistet.

Das Beste war für die Parvenus aus dem Nichts gerade gut genug.

Als Carl Gibson seinen Bürgerprotest in dieser Machtzentrale loswerden wollte, quittierten RKP und "Securitate" das mit Entrüstung - non licet!


Aus dem unten publizierten Dokument, wo der Fall Carl Gibsons auf dem Schreibtisch des

"Ersten Sekretärs der Rumänischen Kommunistischen Partei (RKP) "Genosse Telescu"

landet,

der dann "genehmigt", wie weiter zu verfahren sei,

wird ein gewichtiger Aspekt überdeutlich:


Es ist allein die "Kommunisten-Partei" von Diktator Nicolae Ceausescu ,

die im "sozialistischen Rumänien" nach 1965 das Sagen hat.

Der repressive Geheimdienst "Securitate" ist als Teil der Exekutive der Kommunisten-Partei untergeordnet und ein Vollzugsorgan, dass Ideologie umsetzt und Befehle der obersten Parteiführung ausführt.


In der DDR war es nicht anders:




Die "Staatssicherheit der DDR"war "Schwert und Schild der Partei" -

und die SED mit ihren Vasallen-Parteien "hatte immer recht"!







Nach der Mitwirkung Carl Gibsons an "Paul Gomas Menschenrechtsbewegung" ist Aktionismus angesagt.



Um das seinerzeit noch positive Image von Partei- und Staatschef Nicolae Ceausescus auf der politischen Weltbühne nicht zu gefährden, wird Druck aus dem Kessel abgelassen -

Paul Goma wird im Jahr 1978 ausgewiesen.

Er lebt bis heute in Paris, im Exil.



Unterzeichner und Sympathisanten der mit Gomas Namen verbundenen Menschenrechtsbewegung dürfen zum Teil ausreisen.


Carl Gibson soll "allein" ausreisen,
 ohne Eltern und Bruder.

Die Familie soll quasi als Geisel in Rumänien zurück bleiben, um den Ausgereisten im Westen mundtot zu machen.

Carl Gibson lehnt diese bei anderen aus einem Umfeld erfolgreich praktizierte Methode ab und setzt seine Regimekritik unbeirrt fort.

Ab diesem Zeitpunkt übernimmt der große KP-Chef im Kreis Temesch das Heft des Handels, "Genosse Telescu "-



Er wird bald bestimmen, dass die gesamte Familie Jakob und Anna Maria Gibson aus Sackelhausen, unmittelbar neben Temeschburg gelegen, die so genannten "großen Formulare" erhalten wird.

Dessen ungeachtet wird Bukarest diese Ausreise nach lange Zeit blockieren.

Die Unterschriften "Major Köpe" etc. beweisen, dass die "Securitate"

der "politischen Führung im Land" ,

der Rumänischen Kommunistischen Partei (RKP), den Fall Carl Gibson unterbreitete

und Weisungen abwartete.

Kurioserweise wird der Name "Gibson Karl" im oben veröffentlichten Dokument einmal sogar "richtig" geschrieben,

nach diversen Abweichungen "Gipson", "Gybson", "Chibson"

bzw. "Carol" oder Karol" etc. etc.






Das lange erwartete Ausreisedokument Carl Gibsons -
Ein "Reisepass für Staatenlose",
ausgestellt vom Innenministerium der Sozialistischen Republik Rumänien am 21.Mai 1979.
(Carl Gibson saß zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis Popa Sapca in Timisoara ein.)



"Hungerstreik" in Bukarest -

Verzweifelter Bürgerprotest im Innenministerium Rumäniens 1977



Carl Gibsons Hungerstreik-Erklärung im Innenministerium, Bukarest, 21. September 1977




Verzweiflungstaten dieser Art waren ohnmächtige Formen des Bürgerprotests gegen selbstgefällige Parteifunktionäre und einen ignoranten Staat auf dem Weg in die Diktatur.



Verwarnung nach dem "erklärten Hungerstreik" beim Innenministerium in Bukarest (21. September 1977) bzw. nach dem Verhör von Vater Jakob Gibson durch Capitan Petru Petre Pele (Untersuchungsrichter) und Securitate-Offizier Major Balan.





Securitate-Bericht zur "Hungerstreik"-Aktion von Carl Gibson am 21. September im Innenministerium in Bukarest.

Das Vorbild schlechter Berater aus dem Ausland wird ebenso hervorgehoben wie künftige "Maßnahmen der Bearbeitung und Überwachung" von Carl Gibson und der gesamten Familie.

Verzweiflungstaten im Versuch, elementare Menschen- und Bürgerrechte gemäß den KSZE-Beschlüssen von Helsinki durchzusetzen, kulminierten gar in Selbstverbrennungen nach dem Vorbild von Jan Palach in Prag beim Einmarsch der Sowjets 1968.


Foto: Carl Gibson

Bürgerprotest im "demokratischen Rumänien" Anno Domini 2010, 3. Oktober
vor dem Gebäude des ZK der RKP, der ehemaligen Machtzentrale Ceausescus.

An diesem Ort lief die "Revolution"ab, die zum Sturz des Diktators führte:

Eine Gruppe Oppositioneller ruft die "Miscarea verzilor" ins Leben -
es ist der Versuch, eine bewegung bzw. Partei der "Grünen" in Rumänien zu gründen,
um eine alternative, vor allem gegen Korruption gerichtete Politik durchzusetzen.
Zufällig erlebt und fotografisch dokumentiert.


Für mich bedeutete die direkte Konfrontation mit der Staatsmacht seinerzeit 1977 eine Radikalisierung des konkreten politischen Kampfes und der offenen Regimekritik.

Die Freie Gewerkschaft SLOMR -

Geschichte und Dokumente zur SLOMR- Gründung in Temeschburg, Banat



Um es vorweg zu nehmen:

Der Geheimdienst "Securitate" war bestrebt, das Bürger-Protest-Phänomen

Freie Gewerkschaft rumänischer Werktätiger" SLOMR,

ein wichtiger Vorläufer der ein Jahr später entstehenden
Freien Gewerkschaft "Solidarnosc" in Polen,
von Anfang an aus der Öffentlichkeit zu verbannen.

Nachdem die Bürger- und Menschenrechtsbewegung SLOMR
die erste "koordinierte", überindividuelle ihrer Art in Rumänien -
niedergeschlagen worden war, bemühte sich die Securitate,
"SLOMR" auch aus den "Akten" der Dissidenten, Regimekritiker und Oppositionellen zu verbannen,
auch aus meiner Akte.

Es sollte nicht aktenkundig werden, dass es diese erste frrei gewerkschaft größeren Ausmaßes in osteuropa überhaupt gegeben hatte, denn die Idee einer Freien Gewerkschftsgründung war gefährlich und konnte überspringen.
(Mir ist nicht bekannt, ob die polnischen Intellektuellen seinerzeit ( Februar/März 1979) möglicherweise über den Sender Radio Freies Europa von der SLOMR-Gründung in Bukarest und temeschburg erfuhren und sich insspirieren ließen.
Eines steht aber fest:

Ende und Untergang des Kommunismus in Osteuropa nahmen ihren Anfang bereits im Rumänien des Jahres 1979!


Wie mir vor Ort mitgeteilt wurde, lagern bei der rumänischen Gauck-Behörde CNSAS in Bukarest noch 6 weitere Bände Aktenmaterial zur Thematik SLOMR, die noch nicht ausgewertet sind.


In meiner "Opfer-Akte" ist noch einiges zu SLOMR übrig, auch wenn kräftig "gesäubert" wurde.



Davon ausgehend, dass mein "Beitrittsschreiben zur SLOMR Bukarest" an den Initiator Ionel Gheorghe Cana von der "Securitate" abgefangen wird, fügte ich dem Brief mit der Erklärung noch folgenden Zusatz bei:

"Mein Fall ist bei der UNO in Genf bekannt, ebenso bei westlichen Gesellschaften für Menschenrechte. Wenn dieser Brief seinen Bestimmungsort nicht erreicht, werde ich selbst zum Adressaten reisen".

Damit war die bald darauf erfolgende Vierer-Fahrt nach Bukarest - zu Botschaften (BRD, USA, GB) und den Dissidenten dort sogar angekündigt.




Original-Briefumschlag - Schreiben an SLOMR-Begründer Cana, Bukarest, Rückseite: Abs. Carl Gibson




Der "Rückschein" des "Einschreibens" an SLOMR-Gründer Ionel Gheorghe Cana, Bukarest.
Er wurde mit dem Brief abgefangen bzw. auf der Poststelle der "Securitate" ausgehändigt.


Zu Ionel Cana: http://www.romanialibera.ro/opinii/aldine/s-l-o-m-r-lupta-celor-putini-46265.html

Auch d inzwischen "demokratischen" ie Rumänen haben es bisher versäumt, die Geschichte der ersten größeren freien Gewerkschaft in Osteuropa aufzuarbeiten.

Der Arzt und Gründer von SLOMR lebt noch und betreibt ein Blog zur Thematik:

http://iocan-drcanaionel-slomr.blogspot.com/2010/06/cronica-la-o-serata-regala-pe-15-iunie.html

Immerhin wurde Ionel Cana von König Michael empfangen, nachdem Präsident Traian Basescu bereits SLOMR-Mitstreiter Vasile Paraschiv die Ehre erwiesen hatte.

König Michael erinnerte im Jahr 1981 in seiner Botschaft an das Land aus dem Genfer Exil auch an SLOMR, zum gleichen Zeitpunkt, als Carl Gibson in Genf die UNI-Beschwerde gegen das Ceausescu-Regime als SLOMR-Auslandssprecher vorbereitete.

Wie Ionel Cana auf einem seiner Blogs berichtet, erfuhr er erst kürzlich übers Internet bzw. über diese Veröffentlichungen von Carl Gibsons Beitritt zur SLOMR und die SLOMR-Gründung in Timisoara im März/April 1979.




Beitrittserklärung von Carl Gibson zur SLOMR ( Freie Gewerkschaft rumänischer Werktätiger).

Eine Übersetzung des Textes werde ich bei Gelegenheit noch einfügen.
Der Text enthält Gesellschaftskritik bzw. die MotivationsgründeSLOMR beizutreten.


Foto: Carl Gibson

Das Königsschloss.

König Michael und die Königliche Familie leben heute wieder in Rumänien.
Einige Besitztümer wurden ihnen zurückgegeben, nicht aber der "Palast", heute als Kunstmuseum genutzt, wo neben großen Meistern Europas auch die wichtigsten rumänischen Gemälde ausgestellt sind.



Foto: Carl Gibson

Eine Einfahrt zur Residenz des Rumänischen Staatspräsidenten, Cotroceni, Bukarest


Inzwischen normalisiert sich das Leben in der Hauptstadt, die zur Zeit Ceausescus eher als Zentrale von Terror, Angst und Schrecken erlebt wurde.

Geschichte der "Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger" "SLOMR" im Banat -

Dokumente aus den Securitate-Akten der CNSAS



Das Gründungsdokument von SLOMR- Temeschburg (Timisoara) ist nie von der Securitate gefunden worden.
Es wurde von Erwin Ludwig und Carl Gibson nach der Entlassung aus dem Versteck geholt und vernichtet.

Ein "Offener Brief" mit Namen von Ausreisewilligen, rumänische Staatsbürger überwiegend deutscher Nationalität, ging der Gründungserklärung von SLOMR- Temeschburg voraus,
gewissermaßen als ein "eiserner Kern" der neu zu gründenden Bürgerprotest-Bewegung:


Je eine Kopie dieser Liste Ausreisewilliger,
die sich auf die
universelle Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte berufen,
die nach der KSZE-Konferenz in Helsinki auch von Rumänien unterzeichnet bzw. ratifiziert worden war,
händigten Erwin Ludwig und Carl Gibson Botschaftsvertretern der BRD; der USA und des Vereinigten Königreichs Großbritannien eigenhändig aus,
mit dem Hinweis,
dass diese Personen sich bereit erklärt hätten, auch der freien Gewerkschaft rumänischer Arbeiter SLOMR beitreten zu wollen.

Die Securitate orientierte sich bei ihren Verhaftungen an diesen Dokument, das wohl im Rahmen einer der Hausdurchsuchungen nach dem 4. April 1979 gefunden worden war.


Vor der Gründung von SLOMR.Temeschburg nahm Carl Gibson eine Tätigkeit als "Hilfsarbeiter" in dem Elekrtobetrieb "ELBA" (Electrobanat) an,
wo Mitstreiter Erwin Ludwig bereits arbeitete.


Fast alle Unterzeichner durften unmittelbar nach der SLOMR- Niederschlagung mit ihren Familien in die BRD ausreisen.

SLOMR - der Weg in die Freiheit!

Exemplarisch abgeurteilt und ins Gefängnis geworfen wurden nur Erwin Ludwig und Carl Gibson

Auf der Liste: Zwei bis drei "rumänische" Namen.

Noch fehlt der Name des späteren Präsidenten von SLOMR- Temeschburg:

Prof. Dr. Fenelon Sacerdoteanu.

Er sollte zwei Wochen später dazu stoßen und das Ehren-Amt übernehmen.

Die "Securitate" hat später in der Bereinigung der SLOMR-Akten alles getan,
um den prominenten rumänischen Repräsentanten der Oppositionsbewegung SLOMR zu tilgen.

Prof. Dr. Fenelon Sacerdoteanu war als Opfer des Stalinismus mehr als 10 Jahre in kommunistischer Haft - Details in meinem Buch "Symphonie der Freiheit".






Bericht von Securitate-Oberst Colonel Istrate über die "Gründung von SLOMR" in Temeschburg/ Timisoara,
verkürzt dargestellt "aus der Sicht der Securitate".

Da die Securitate nach den Verhören aller der mehr als 20 Unterzeichner und deren Familienangehörigen nicht heraus gefunden hatte, wie die Gründungs-Nachricht zu Radio Freies Europa (RFE) nach München gelangt war, wurde willkürlich ein Name aus dem fernen Bekanntenkreis als "Kurier" eingesetzt.

Immerhin wird die Oppositionsbewegung ( in dem internen Papier) beim Namen genannt :

"so genannte SLOMR"!


Bildunterschrift hinzufügen

Der "Entlassungsschein" carl Gibsons aus dem Gefängnis Popa Sapca in Temeschburg/ Timisoara.

Das Dokument wurde von Carl Gibson beim Abflug von Bukarest in einer Zigarettenpackung in den Westen geschmuggelt.


Bespitzelung in kommunistischer Gefängniszelle -

Aus Carl Gibsons Securitate-Opfer-Akte bei der CNSAS




Nach einem "kurzen Prozess" ohne "Verteidiger" in "öffentlicher Verhandlung"
mit ausschließlich Securitate- und Miliz-Kader als Zuschauer und Publikum,
wurden Erwin Ludwig und Carl Gibson in das Gefängnis Popa Sapca
( nur 300 Meter von Gericht und der Securitate-Zentrale am damaligen Leontin-Salajan Boulevard entfernt) eingeliefert.


Foto: Carl Gibson

Im neuen Glanz - Die "Folterkammer der Securitate" am damaligen Leontin Salajan- Boulevard. heute.

Nach "Stalinisten" benannte Straßen wurden inzwischen in Rückbesinnung auf bürgerliche und monarchische Traditionen umbenannt,
Fassaden wurden neu gestrichen -
das Innenleben der Gebäude ist aber oft noch identisch mit dem der Geist der alten Zeit.

Polizei und Miliz (links im Bild) nutzen das Bollwerk der Unterdrückung und massiver Menschrechtsverletzungen weiter.


Hauptmann und Untersuchungsrichter Petre Pele verbrachte die Verurteilten Erwin Ludwig und Carl Gibson in seinem Dienst- PKW "Dacia" in die Haftanstalt -

ein bis dahin einmaliger Vorgang.

Gefängnisdirektor Deleanu ordnete eine Audienz mit Ludwig und Gibson an - ein weiterer, nie dagewesener Vorgang, meinten alt einsitzende Häftlinge.


Foto: Carl Gibson

Das Gericht (Dikasterialgebäude) in Temeschburg, Banat heute.

Hinter diesen Mauern wurden Erwin Ludwig und Carl Gibson,
die Gründer der
"Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger "SLOMR" in Timisoara "
am 6. April 1979 zu je sechs Monaten Gefängnishaft verurteilt.

Das Gerichtsurteil von Richter Nicolae Busuioc fehlt in der Akte Carl Gibsons.

Es wurde aber in den Westen geschmuggelt und auf der Homepage Carl Gibsons veröffentlicht,
- nachdem alle Ereignisse in dem Buch zur Geschichte von "SLOMR"

"Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur", 2008

vom Autor beschrieben worden waren,
(neben Entlassungsschein und anderen Dokumenten.).





Der "Securitate- Beauftragte" im Gefängnis erhält Carl Gibsons "Akte" (62 Blatt mit allen bisherigen Schandtaten).

Direktor Deleanu verfügt, die beiden eng befreundeten Häftlinge
Erwin Ludwig und carl Gibson
für die gesamte Haftzeit von einander zu trennen.
um jede Kommunikation zu unterbinden bzw. um sie besser
professionell von eingeschleusten Spitzeln ausspionieren und aushorchen zu lassen.

Die Spitzel des Geheimdienstes Securitate warteten bereits in der Gefängniszelle,
bereit, als "agent provocateurs" die Intentionen der politischen Häftlinge auszuloten.






Den eindeutig "politischen Häftlingen" Erwin Ludwig und Carl Gibson war beim Haftantritt "absolutes Schweigen" über SLOMR, Widerstand, Opposition, Unzufriedenheit mit dem kommunistischen System im Land Nicolae Ceausescus auferlegt worden.

Aus den Spitzelberichten, die sich in Carl Gibsons Securitate- Opfer-Akte finden,
ist zu erkennen,
dass die beiden "Politischen" -
die es "offiziell im sozialistischen Rumänien" überhaupt nicht hätte geben dürfen,
trotz des Verbotes und der angedrohten Konsequenzen (Haftzeit-Ausweitung etc.) über die "freie Gewerkschaftsbewegung" ( Sindicatul liber al oamenilor muncii din Romania) redeten und ihre Mitgefangenen über die oppositionellen Ereignisse informierten.

Das war im April 1979.

Weiterführendes zur Gründung und Geschichte der Freien Gewerkschaft SLOMR:

http://de.wikipedia.org/wiki/Sindicatul_Liber_al_Oamenilor_Muncii_din_Rom%C3%A2nia

bzw: http://istoriabanatului.wordpress.com/2010/02/21/mircea-rusnac-s-l-o-m-r-sindicatul-liber-al-oamenilor-muncii-din-romania-1979-aspecte-banatene/

http://en.wikipedia.org/wiki/SLOMR

http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Gewerkschaften_(Osteuropa)


http://origin.europalibera.org/content/article/1458425.html (Audio)

http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4191832,00.html


(Leider sind viele Quellen, Dokumente, Interviews, Beiträge etc. in rumänischer Sprache, was die rezeption der materie in Westeuropa deutschlich einschränkt.)


Die erfindungsreichen "Quellen" "Prolog" "Doraimanu" u. a. schmücken ihre Spitzelberichte aus,
um sich interessant, ja unverzichtbar zu machen und tragen so zur Verfälschung der Angaben bei.

So wird etwa Carl Gibson der belastende Satz in den Mund gelegt,
er wollte "ein zweiter Paul Goma werden".

In den Akten legt sich die Securiate ihre Variante zurecht.
So behauptet die Securitate mehrfach, die Gründung von SLOMR sei vom Sicherheits-Apparat selbst gestoppt worden,
was so nicht zutrifft.


Foto: Carl Gibson

Der "Knast" oder "Bau" in der Popa Sapca-Straße, heute -

Das Gefängnis, wo immer schon "politische Häftlinge" einsaßen.
Eine Tafel am Eingang erinnert heute daran.

Ein seltenes Foto - Freunde weigerten sich mehrfach, die Haftanstalt auf meine Bitte hin zu fotografieren;
die Angst vor Repressalien steckt immer noch in den Knochen ehemaliger Staatsbürger.




Die Abenteuerliche Reise zur CNSAS nach Bukarest



"Keine zehn Pferde bringen mich wieder nach Rumänien",
meinte mein alter Mitstreiter Erwin Ludwig von SLOMR Temeschburg, als ich auszuloten versuchte, ob ich vielleicht auch ihn zu dieser "Heimkehr" bewegen könnte.

Heinrich Heine war irgendwann heimgekehrt aus dem fernen Paris in das in fast 40 Staaten zerspliltterte Deutschland, obwohl die Grenzer nach Konterbande suchten und der frivole Poet mit "scharfer Feder und Zunge" vielleicht sogar steckbrieflich gesucht wurde.
Daraus entstand schönste Dichtung - "Deutschland, ein Wintermärchen".

friedrich Nietzsche war einst heimgekehrt in seine Einsamkeit von Sils-Maria!
Weshalb, das beschreibt er nicht in seiner Polemik gegen Richard Wagner,
sondern in "Zarathustra", in dem Buch "für alle und keinen".

Weshalb sollten wir es nicht auch noch wagen, nach 30 Jahren "Exil" in der Fremde,
die nie richtig "Heimat" werden konnte,
trotz "Vaterland " und "Mutterland?

Endlich wollte ich es wissen:

Was war aus Rumänien geworden?
Nach Nicolae Ceausescus Sturz,
nach dem Fall des Kommunismus, den wir von der freien Gewerkschaft SLOMR bereits 1979 mit eingeleitet hatten?
War die "Securitate immer noch im Dienst"?

Herta Müller hatte sich dort im Land ihrer Herkunft erneut verfolgt gefühlt im Jahre Domini 2008!
Und sie war trotzdem hingereist, mutig, wie sie ist!

Ungeachtet vieler Gefahren am Wegrand und auf noch unbekannten Bahnhöfen war sie mit ihrem früheren Gatten aus Perjamosch bzw. der RKP Richard Wagner bald darauf wieder in die ehemalige Diktatur Ceausescus gereist!

Um Brücken zu bauen?

Um dort mit der Konrad Adenauer-Stiftung (KAS) an einem Tisch in Hermannstadt (Sibiu) zu sitzen,
zu tafeln und dabei über die
EU-Integration Rumäniens zu reden,
namentlich mit KAS-Präsident Dr. Bernhard Vogel,
Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen a. D.,
um zu diskutieren,
wohin Rumäniens Reise geht - noch vor dem Nobelpreis!

Von der "Securitate" und ihrer Nachfolgeorganisation SRI,
die bei der CNSAS die Dossiers der Verfolgten nachträglich gefälscht haben soll,
berichteten Herta Müller und die KAS seinerzeit nichts.

( Ich schrieb darüber auf http://www.siebenbuerger.de/ ellenlange Kommentare . umsonst!)

Einmal wurde sie von der alten oder neuen Securitate (SRI) verfolgt - und einmal nicht!?

Mein Mistreiter Erwin Ludwig blieb bei seiner Meinung:

"In Rumänien regieren immer noch die Kommunisten!

Traian Basescu ist nicht besser als Ion Iliescu!
Hat einer seine CNSAS-Akte zu Gesicht bekommen?"

Wohl kaum!

Was konnte ich erwidern?
Nicht viel!

Ich konnte nur reisen, mir selbst ein Bild von der "neuen", veränderten Lage im "EU-Land Rumänien" machen oder es gleich bleiben lassen!

Die CNSAS hätte mir die Kopien meiner Akte auch per Post zugeschickt!

Doch wollte ich Gewissheit haben, um Ruhe zu finden, dann musste ich schon selbst dahin,
in die Höhle des Löwen,
in die Mausefalle, um kritisch zu überprüfen,
wie die rumänische Gauck-Behörde CNSAS tatsächlich arbeitet und
ob die demokratisch geläuterten Rumänen es diesmal ernst meinen mit der
kommunistischen Vergangenheitsaufarbeitung.

Ein Versuch war der
"Bericht zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien", auch "Raport final" oder "Raportul Tismaneanu" genannt.

Der Koordinator des von Präsident Traian Basescu in Auftrag gegebenen Berichts, Professor Vladimir Tismaneanu, heute in Maryland, USA,
an der dortigen Universität mit der Geschichte des Kommunismus in Osteuropa beschäftigt, auch mit Dissidenz und Widerstand,
wurde hundert-, ja tausendfach angefeindet : für diese Aufklärungsarbeit!

Er macht weiter, unter anderem auf seinem Blog: http://tismaneanu.wordpress.com/

während andere zwielichtige Gestalten der Zeitgeschichte, die Vergangenheit auf den Kopf stellen, nur um das eigene Versagen unter den Roten zu verdecken, vergessen zu machen.


Was hatte da eine dieser zwielichtigen Gestalten öffentlich gemeint?
Seine Akte will er nicht sehen - und unsere will er auch nicht sehen ...

Doch, doch!

Mich interessieren alle Akten, die etwas zur Wahrheitsfindung beitragen, Genosse Tarnkappendichter!

Und ich analysiere und interpretiere die Akten auch gerne selbst - über die ausgewählten und vorgesetzten erlesenen Zitate hinaus!

Nachdem ich als "Forscher bei der CNSAS akkreditiert" und eine erste Kurzvisite ins Banat und nach Siebenbürgen im Mai dieses Jahres erfolgt war, wagte ich es im September noch einmal -
die Fahrt in die "Mausefalle" bzw in die "Höhle des Löwen" ,
der zu meiner Zeit noch quicklebendig war und kräftig zubeißen konnte,

diesmal begleitet, nicht von der Malerin Monika Nickel, wie im Frühling,
sondern von Maler, Graphiker und Buch-Illustrator Michael Blümel aus Bad Mergentheim.

Monika kannte die "Mausefalle" bereits aus eigener Anschauung - und Michael, der waschechte Bundesbürger und Illustrator der "Symphonie der Freiheit" wollte sie erst kennen lernen -

und mit ihr den "A-posteriori-Kitzel" einer roten Diktatur.

Die "Mausefalle" als Schreckens-Phänomen an sich hatte ich schon mehrfach erlebt
:
Im großen Gefängnis Ostblock,
im Land Rumänien ,
in der "Folterkammer der Securitate" mit und ohne Erwin Ludwig,
dann
- nach meiner Ausreise - bei einer Fehlausfahrt vor Berlin in der DDR,
wo nach mir gefahndet wurde (1984),
schließlich in Kiew (1995), wo ich nie richtig wissen konnte, ob ich noch einmal "entrinnen" werde, ohne von einer allmächtigen Katze aufgefressen zu werden, die am Ausgang der Mausefalle wartet.

Also reiste ich mit Michael, dem Maler, 2000 Kilometer gen Osten, nach Bukarest.

Nach mehreren Tagen und zum Teil unfreundlichen Berührungen mit der allpräsenten Polizei in Rumänien erreichten wir schließlich das Ziel, Bukarest, die Hauptstadt Rumänies,
die in Sachen Verkehr "das vollendete Chaos" ist - noch jenseits von Italien und Kairo.

Wir waren da - zwei Tage vor dem Termin am 4. Oktober bei der CNSAS,
in der Matei Basarab Straße Nr. 41.

Da war noch viel Zeit für Malerei, Kultur, Stadtbesichtigung und Architektur, auch wenn mir stressbedingt die Muße fehlte:

Bauten vom Feinsten zogen uns magisch an:


Foto: Der freundliche Taxifahrer Emil


Diktator Ceausescus Protzbau im stalinistischen Stil.
Die halbe Nation arbeitete jahrelang, um diesen Prestigeklotz zu vollenden.

Heute: Sitz des Parlaments, Leute wie Emil sind stolz darauf, dass Rumänien das zweitgrößte Gebäude der Welt aufweisen kann - später Dank an den Führer der Nation!?


Nach der Prolet-Kultur des schlechten Geschmacks sahen wir uns noch ein paar historische Sehenswürdigkeiten an, Bauten, die Bukarest zum "Kleinen Paris" machten:


Foto: Michael Blümel

Imposanter Jugendstil-Bau - Das Museum "George Enescu"



Foto: Carl Gibson

Die Ienei-Kirche.
Das Schicksal von Vacaresti blieb ihr erspart - sie überdauerte auch Ceausescu, der andere Kirchen niederreißen ließ.


Foto: Carl Gibson

Eine Adresse für Bonzen - Offizierskasino, auch heute?


Foto: Carl Gibson

Die "Dimbovita" - Fluss und Kanal



Foto: Carl Gibson

Der "Cismigiu"-Park


Foto: Carl Gibson

Einer darf nicht fehlen: Graf Dracula - Rumänien gedenkt "Vlad Tepes" - dem Vorbild für "Dracula"

Vor der Pflicht kam die Kür - Wir sahen uns die berühmten Gemälde an, im Königsschloss, fanden aber keine Zeit mehr für den berühmten "Pfähler"!


In der "Höhle des Löwen" -

Bukarest zwischen Pflicht und Kür im Intermezzo mit einer Herta Müller- Lesung


Nach mehr als 30 Jahren!
Bukarest zwischen Pflicht und Kür im Intermezzo mit einer Herta Müller- Lesung


Wer in einem Land entwürdigt, gedemütigt, misshandelt, gefoltert und ohne Grund in ein Gefängnis geworfen wurde, der wird es sich gut überlegen, ob er sich noch einmal exponiert, ob er noch einmal die schwer errungene "Freiheit" aufs Spiel setzt, sich in Gefahr begibt und riskiert, aufs Neue "alles" zu verlieren.

Was brachte mir die "Heimkehr"?
Die anschließende Fahrt zur CNSAS in die "Höhle des Löwen" nach Bukarest, an den Ort,
wo ich mehrfach verhaftet, verprügelt, gedemütigt worden war?
Die Ruhe der Seele?

Ein kluger Kopf begibt sich nicht ohne Grund in die Höhle des Löwen,
wenn er denn Äsops Fabel gelesen und die Botschaft auch verstanden hat?

Der "Horror-Trip" in das "Land aller Möglichkeiten", Rumänien, das auch heute noch ein von Polizei durchsetzter Staat ist, begann mit einer ersten Polizei-Kontrolle und dem Ruf nach einer "Vignette".

Das moderne Wegelagerertum der Weststaaten,
ausgerichtet, den Autofahrer überall zur Kasse zu bitten und zu melken, wo es nur geht (Maut, Toll!!!) via "Vignette"
hat nun auch den EU-Staat Rumänien erreicht. Abkassieren ist angesagt in Zeiten knapper Kassen.

Die Rumänen erheben eine Straßenbenutzungsgebühr - fällig für alle Straßen,
denn Autobahnen haben sie nicht, bis auf ein kleines Stück zwischen Pitesti und Bukarest, kaum 150 Kilometer.

Wer keine Vignette hat, riskiert sehr hohe Geldstrafen.
Wir hatten Glück - der Polizist wurde durch einen Anruf abgelenkt, und wir durften weiter fahren, bis zu einer Tankstelle, wo eine "Vignette" erworben werden konnte.

Dann fuhren wir in eine der zahlreichen Radar-Falle!
(Die Behörden der Rumänen haben schnell begriffen, wie man Geld verdient, ohne zu arbeiten: Mit Vignetten und Radar - nicht anders als hier überall! )

Der Dorfpolizist in Traian Vuia auf dem Weg vom Banat nach Siebenbürgen wollte gleich den Wagen stilllegen, nachdem wir die "Grüne Versicherungskarte" nicht auf Anhieb finden konnten, die in einem EU-Land nicht einmal benötigt wird, oder?

Ein Horrorszenario - mit Angstschweiß und viel Adrenalin!

Was hätten wir getan in der Einöde vor Transsylvanien "ohne Auto"?

Mit "Furcht und Zittern" ging es weiter,
durch Roma-Siedlungen bei Tirgoviste und neue Polizei-Kontrollen, bis nach Bukarest in das alte "Miliz- Ghetto" im Umfeld der Matei Basarab-Straße.

In dieser Stress-Konstellation erlebte ich Bukarest - nach mehr als 30 Jahren!

Es wurde ein Deja- Vu mit hoher emotionaler Belastung!
Überall Spuren früherer Verfolgung - überall Polizei!
Das Gehirn regte sich, ich erinnerte mich, auch an viel Unerquickliches.

Trotzdem begaben wir uns auf Spurensuche - ich wollte die Stellen sehen,
wo ich früher "opponiert" "protestiert" hatte,
damals als einige meiner deutschen Landsleute noch hier an der

Partei-Kaderschmiede "Stefan Gheorghiu" studierten.

Die deutschen "KP-Genossen" von gestern" leben heute saturiert in der Bundesrepublik Deutschland
- ihren Opportunismus von einst, als sie noch mit den "roten Wölfen" heulten,
haben sie längst verdrängt, ja vergessen.

Die Unverschämtesten aus ihren Reihen beschimpfen heute von scheinbar sicherer, protegierter Warte aus sogar die ehemaligen antikommunistischen Dissidenten,
die Aufrechten des Widerstands gegen die Diktatur, als Helfershelfer der Securitate und als "nützliche Idioten",

ohne zu bedenken, dass sie selbst über viele Jahre "nützliche Idioten der Kommunisten" waren.

Aber, weil sie selbst der verbrecherischen Partei Ceausescus als "Mitglied" angehörten und dem System, diesem huldigten und stützten, waren sie damals für all die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen blind.

Nur noch ein paar Dissidenten und "Betroffene" erinnern an das,
was in der Ceausescu-Diktatur Alltag war.


Foto: Carl Gibson


Die Kader-Schmiede der Rumänischen Kommunistischen Partei -

Die marxistisch- leninistische Hochschule "Stefan Gheorghiu" -
Wer als RKP- Politiker, Journalist, Historiker etc. im Rumänien Ceausescus
Karriere machen wollte, musste hier studiert haben.
Davor: "Der Löwe"!

In dem kommunistisch-nationalistischen Hymnus "Pui de lei" werden die Rumänen
als "Junge Löwen" glorifiziert, die, aus dem Fels gebrochen, überall wachsen und gedeihen -

vivat, crescat, floreat!?

Ja, ich erinnerte mich!

Vis – à-vis des Löwen liegt der Präsidentenpalast Traian Basescus – und
nicht sehr weit entfernt …. „Cartierul Primaverii“, das „Stadtviertel des Frühlings“,
wo Ceausescu und sein Clan lebten
und wo heute immer noch die Bonzen hausen,
die Nomenklatura der Neuzeit, Wölfe im Schafsfell, Wendehälse und Chamäleons aller Art, Demagogen der Sonderklasse, oft als lupenreine Demokraten kaschiert.

Fürst Potjomkin lässt grüßen, mit neuen Fassaden –
und der Pawlowsche Hund auf der Straße,
der fügsam den Schweif absenkt und nach dem Knochen schnappt,
den man ihm gnädig zuwirft – für gute Dienste!

Foto: Carl Gibson

Wachturm vor der Residenz des Präsidenten der Republik.
Vom Palast sieht der Bürger nichts.


Foto: Carl Gibson

Das "Rumänische Athenäum"


Der Zufall wollte es, dass in diesen Tagen am 27. und 28 September die aus Rumänien stammende Herta Müller in diesen "heiligen Hallen" lesen sollte -
in dieser "Arena" oder "Circus" wie die Nobelpreisträgerin im Gespräch mit
Gabriel Liiceanu (Phänomenologe und Chef des Verlagshauses "Humanitas) sagte.

Eine "Dissidentin", betonte Herta Müller vor Ort,
sei sie nicht gewesen,
aber sie hätte im Kindergarten mit der Leiterin des Kindergartens lebhaft kritisch diskutiert.

Ob sie auch der RKP und der "Securitate" seinerzeit etwas "Kritisches" zu berichten hatte, damals zu Ceausescus Zeiten,
das sagte Herta Müller nicht.


Foto: Michael Blümel

Carl Gibson, einer der schärfsten Kritiker von Herta Müllers Werk,
vor der "Humanitas"-Buchhandlung neben der Ienei-Kirche im Herzen der Hauptstadt Bukarest.

Eine Teilnahme an der Werbeveranstaltung im "Rumänischen Athenäum" wollte ich mir dann doch nicht zumuten.

Gabriel Liiceanu von der Phänomenologischen Gesellschaft in Rumänien und Kopf des Verlages "Humanitas", der gerade Herta Müllers "Atemschaukel" in rumänischer Sprache herausgab,
dachte wohl mehr ans Geschäft, als an "kritische Fragen" und historische Wahrheiten.

Den "Dingen auf den Grund gehen", die "Wesenheit schauen", "des Pudels Kern" entlarven - das wollte dieser wohlwollende Intellektuelle nicht.

Foto: Michael Blümel

Bürgerprotest am Piata Unirii in Bukarest - Was aussieht wie Werbung, ist eigentlich der friedfertige "Aufruhr" eines Bürgers, der sich von einem ausländischen Konzern benachteiligt fühlt.


Es folgte ein besinnlicher Ausklang am Abend im Hotel:


Foto: Carl Gibson

Sonnenuntergang über den Neubau-Dächern von Bukarest - Folgt bald die "Morgenröte"?



























 Gerhard  Ortinau: 

Verteidigung des Kugelblitzes mit : "Kleine Geschichte", ein Werk, in welchem die Baragan_Deportation moralisch gerechtfertigt wird.





 G. Ortinau: "Kleine Geschichte" - Geier unterstellt mir, den Text nicht zu kennen.
















Copyright: Carl Gibson

 

 

 

 

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