Dienstag, 12. April 2011

Roman Rocek: Dämonie des Biedermeier. Nikolaus Lenaus Lebenstragödie - Buch-Rezension von Carl Gibson




Carl Gibson, Buchbesprechung:


Roman Rocek, Dämonie des Biedermeier. Nikolaus Lenaus Lebenstragödie.

Erschienen in der Reihe: Literatur und Leben, Neue Folge, Bd. 65. Böhlau Verlag Wien- Köln – Weimar, 2005. 398 Seiten mit 60 Abbildungen.

Roman Roceks jüngst erschienene Lenaudarstellung ist ein Buch, auf das die teilweise aus weltanschaulichen wie methodischen Gründen auseinanderdriftende Lenauforschung lange warten musste. Die umfassende Studie zum Leben und Oeuvre Lenaus ist zwar als Biographie des - zunehmend in breiter Aufwertung begriffenen - Dichters angelegt und kann gut als solche gelesen werden. In ihrem Gesamtcharakter jedoch geht sie weit über die Möglichkeiten einer Lebensdarstellung hinaus. Es ist nicht nur ein von den Notwendigkeiten der Forschung diktiertes Werk, sondern, und dies in hohem Maße, auch ein sehr persönliches Buch über Nikolaus Lenau, das Rocek vorlegt. Fast hundert Jahre lang musste sich der an Lenau Interessierte mit zum Teil unbefriedigenden Kurzcharakteristiken zufrieden geben, die teilweise mehr verschleierten, als sie offen legten. Das ändert sich nunmehr mit Roman Roceks Lenaudarstellung schlagartig. Rocek, der nach eigener Aussage im Vorwort mit Lenaus Versen und vorgesungenen Liedern im Ohr groß geworden ist, nimmt sich die Zeit, um, was die Werkinterpretation betrifft, in die Tiefe zu gehen. Darüber hinaus ist es ihm ein besonderes Anliegen, die spezifischen Eigenheiten der historisch wie ideengeschichtlich hochinteressanten Zeit zwischen 1802 und 1850, die der Lebenszeit des Dichters entspricht, in ihrer Vielschichtigkeit als Zeit des Umbruchs zu erfassen. Es ist einerseits noch die viel erforschte Goethezeit, die Klassik und Romantik im Literarischen, die absolutistische Epoche eines Napoleon Bonaparte im Historisch-Politischen, aber auch die Zeit der Freiheitsbewegungen und des Vormärz, die in die Revolution von 1848 mündet. Ein Spiegelbild dieser turbulenten Tage in der Menschheitsgeschichte stellt Nikolaus Lenaus Lebensgeschichte dar, die nach Rocek als Lebenstragödie aufgefasst wird. Rocek macht in seinem Werk nicht nur einen pantragischen Zug aus; er steigert den Zugang noch ins Geistig-Metaphysische, wenn er den Begriff des Dämonischen wählt und den Lebensweg des großen österreichischen Lyrikers als Dämonie des Biedermeier überschreibt. Das entspricht einer leichten, das Interesse des potentiellen Lesers stimulierenden Provokation, denn Dämonie und Biedermeier sind eigentlich antithetische, an sich nicht kompatible Begriffe, die sich nahezu aufheben. Die Dämonie, ein weitgehend negativ besetztes und von Irrationalismus geprägtes Phänomen, das unkontrolliert um sich greift und das – bis ins Ekstatische und Dionysische hinein – seine Eigenwirkung entfaltet, verträgt sich nur schlecht mit der beschaulich-geordneten Welt des Biedermeier, die von Lenaus Freundeskreis aus der Stuttgarter Gegend verkörpert wird, von Lenau aber in keiner seiner unterschiedlichen Lebensphasen verinnerlicht wurde. Sieht man von Justinus Kerner ab, der sowohl eine Vorliebe als auch einen besonderen Zugang zum Dämonischen hatte, dann weiß der Schwäbische Dichterbund, sprich Gustav Schwab, Ludwig Uhland und die anderen, heut weniger bekannten Dichter des literarischen Freundeskreises, nicht viel mit Dämonie anzufangen. Dämonie entzieht sich dem Rationalen und bewegt sich, wie Lenaus Vita vielfach offen legt, hinein in das Unüberprüfbare und Mystische. Doch das macht auch Lenaus enigmatischen Reiz aus.
Lenau gehört zu jenen Dichtern, deren facettenreiches Werk auf dem Hintergrund eines nicht geordneten, ja turbulenten Lebens entsteht. Roman Rocek gelingt es in besonderer Weise, das Wechselverhältnis von Existenz und Dichtung in seiner Komplexität und Tiefe einzufangen, wobei das Neue, das Innovatorische im Mittelpunkt des Zugangs steht. Wer Lenau noch überhaupt nicht kennt, wird durch dieses Buch einen guten und angemessenen Einstieg erhalten. Der Lenaukenner hingegen wird eine Vielzahl von Neuansätzen vorfinden, die interpretatorisch neue Wege gehen und neue Perspektiven der Deutung eröffnen. Dem Lenauforscher wird schnell deutlich, dass der Autor im Bereich der Werkinterpretation auf das literaturhistorisch weitgehend gesicherte verzichtet und dort ansetzt, wo individuell und subjektiv Neuland betreten werden kann. Perlen Lenauscher Lyrik wie die Schilflieder, die Waldlieder, der Sonett-Zyklus Stimmen, die populären und gleichzeitig kunstvollen Gedichte Die drei Zigeuner, Der Postillion, Die Wurmlinger Kapelle, Bitte, Welkes Blatt, Die nächtliche Fahrt, die zahlreichen, originellen Herbstgedichte und Zeugnisse von extremer Vereinsamung und Melancholie wie das Doppelsonett Einsamkeit oder ganz besondere Gedichte wie Blick in den Strom, um nur einige große Dichtungen heraus zu greifen, werden – weitgehend als bekannt vorausgesetzt – und als gesicherte Werte praktisch nicht mehr explizit einbezogen. Stattdessen richtet sich der Fokus des interpretierenden Biographen auf periphere Gedichte wie Frühlings Tod, Frühling oder Das Blockhaus, Dichtungen von hoher Prägnanz, in welchen Sublimierungsprozesse offen gelegt und politische Neuwertungen angestrebt werden. Auf diese Weise gelingt es Rocek, das bestehende, an sich schon multivalente Lenaubild in vielen Punkten substanziell zu erweitern und gleichzeitig diskrepante Dissonanzen zu harmonisieren. Man spürt die intuitive Nähe zu dem Faszinosum Lenau und die Einfühlsamkeit des Hermeneuten, der über seine Wege neue Ansätze zu erschließen versucht.

Von allen, die den Sänger lieben,
Die, was ich fühlte, nachempfanden,
Die es besprochen und beschrieben,
Hat keiner mich wie du verstanden,

formulierte es Lenau einst in Zueignung. Etwas von diesem tieferen Verstehen schwingt in der durchweg positiv wertenden Darstellung mit. Neben der individuellen wie originellen Annäherung über einige weniger bekannte Gedichte Lenaus, die allerdings schon ausreichen, um das geistige Format und die poetische Potenz des Lyrikers zu verdeutlichen, bezieht Rocek die großen Dichtungen Lenaus, seinen Faust, dann Savonarola und die freien Albigenser-Dichtungen ansatzweise in seine Interpretationen mit ein, insofern es die Möglichkeiten einer Biographie erlauben. Diese gesamte Welt neuer, vielfach befruchtender Gedanken zum Werk Lenaus ist von Roceks Darstellung fast schon als Zuschlag zu werten, denn die eigentliche Leistung des Buches wird in den gründlich erarbeiteten, sehr überzeugenden biographischen Teil erbracht, die dem vielfach ausgewiesenen und brillanten Essayisten aus der Feder fließt. Diese Lenau-Biographie ist, um es vorweg zu nehmen, nicht nur ein großer Gewinn für die Forschung, sondern auch ein Buch für den anspruchsvollen Leser, das mit Lust gelesen werden kann.
Der Autor nimmt sich viel Zeit und Raum, um im Rahmen der Schilderung an sich bekannter Lebensstationen des Dichters, sein individuelles Lenaubild zu entwickeln. Prägnante Überschriften der acht großen Kapitel, die jeweils weiter differenzierend unterteilt sind, verweisen auf die ideengeschichtlichen Prioritäten dieser Biographie, in deren Mittelpunkt – seinem Wert angemessen- erfreulicherweise neben dem Dichter nun auch der Denker Lenau steht. 
Die Philosophieverbundenheit Lenaus, speziell sein Verhältnis zum Deutschen Idealismus, zu Schelling, vor allem aber zu Hegel, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Studie, immer interessiert, den Gang des Denkens und die künstlerische Rezeption von Ideen zu verfolgen und darzustellen. Die Überschreibungen der Einzelabschnitte wie: Faustisches Verlangen oder der ewige Student, Amerika – Tod und Wiedergeburt, Flucht aus der verlorenen Zeit und Eine Ästhetik des Schreckens markieren die Stoßrichtung. Hinter der Lebensbeschreibung entsteht dabei ein vielschichtiges Lenaubild, das selbst dem profunden Lenaukenner deutlich macht, auf wie vielen Wegen man sich nach wie vor dem Dichter nähern kann, ohne ihn erschöpfend zu erfassen. Die unruhige und wechselvolle Lebensbeschreibung steht für einen proteushaften Lenau, dem immer neue Züge abzugewinnen sind – und dies, obwohl die in jüngster Zeit abgeschlossene historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Lenaus keine nennenswerten Zusatztexte und Materialien erschlossen hat.

Foto: Privatarchiv Carl Gibson

Alte Lenau-Gedenk-Postkarte aus dem Jahr 1940 - mit Bildern aus "Lenauheim" im Banat.

Im ersten Teil der Lebensbeschreibung Gefährdete Kindheit, wo Roman Rocek sich weitgehend auf die manchmal selbst stilisierenden Aussagen der frühen Biographen Lenaus Anton Xaver Schurz, Ludwig August Frankl, Max von Löwenthal bis hin zu Eduard Castle verlassen muss, werden wichtige Einzelaspekte konsequent herausgearbeitet; speziell das Vaterbild, die Mutterbindung, die melancholische Disposition des jungen Knaben sowie sein weiteres determinierendes familiäres Umfeld mit der labilen Schwester Magdalena und der überstrengen aristokratischen Großmutter. Lenaus Vater, als der schöne Niembsch bekannt, erscheint als herunter gekommener Bohemien, der in den Bordellen von Temesvar im Banat, wo Lenau das Licht der Welt erblickte, herumstreunt, sich dem Spiel ergibt, ihm hoffnungslos verfällt, Spielschulden macht und damit – über seinen Tod hinaus - das künftige Schicksal der Familie und seines Kindes Nikolaus schwer belastet. Ein Stich aus der Zeit um 1817, der eine Kapelle mit Leichenkammer darstellt, ein trauriges Gemäuer, in welchem die völlig veramte Familie Lenaus überleben musste, veranschaulicht, weshalb die Melancholie des Knaben gerade in diesem Umfeld zum ersten Mal erwachte.
Rocek geht sehr detailliert auf die besonders intensive Mutterbindung des späteren Dichters ein und sieht darin das Element der Verhinderung, einen Faktor, der jede spätere engere Bindung an Frauen verhindern wird. Er folgt dabei bis zu einem gewissen Grad den psychopathologischen Ansätzen des Freud-Schülers Isidor Sadger, der in einer Studie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Liebesleben Lenaus eine zweifelhafte Pathologisierung des Dichters betrieb, indem er die Melancholie- Genie – Wahnsinn- These weiter strickte. Einen Makroansatz Freuds aufgreifend, nachdem jede Kunst aus Krankheit emaniert, erscheinen Leben und Werk als unfreiwillige Funktion der genetische Disposition, der Melancholie, und später der syphilitischen Infektion, also determiniert durch Krankheit. 1)

Den älteren, oft undifferenziert eingesetzten Melancholiebegriff drängt Rocek etwas zurück und favorisiert dabei das modernere Krankheitsbild des Neurasthenikers. In den interessanten Ausführungen über Lenaus geistige Entwicklung während der Studentenzeit und Zugehörigkeit zu einer Burschenschaft erhalten Lenaus philosophische Lehrer erstmals ein markantes Gesicht, vor allem Vinzenz Weintridt, Lenaus Lehrer der Religionswissenschaft und der Philosophie an der Universität Wien. Weintridt, eine wichtige Bezugsperson Lenaus in jener Zeit, galt als liberaler Mann der Kirche und war – aus der Aufklärung kommend – ein mehr oder weniger deklarierter Anhänger der damals in Wien verfemten Philosophen Kant und Bolzano. Die Nähe zu Bolzano und der sehr liberale, auf direkte Kommunikation ausgerichtete Kontakt zu den Studierenden führten zu seiner Entfernung aus dem Lehrbetrieb. Mit Lenaus Wesen gut vertraut, soll er sehr früh festgestellt haben, der Dichter werde wohl nie glücklich werden. In seiner Darstellung, die in den größeren Strukturen die Forschungsergebnisse einer immerhin mehr als hundertfünfzigjährigen Lenauforschung anerkennt, im Detail aber zahlreiche Korrekturen vornimmt und mit neuen Spiegelungen andere Akzente setzt, zieht sich der Autor immer wieder in prätentiöse Exkurse zu zeitgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Themen zurück, die er unmerklich galant in die Beschreibung einstreut. Es sind Notwendigkeiten, die viel über die Zeithintergründe aussagen, das Biographische ergänzen – und über die reine Textimmanenz hinausgehend – große Interpretationshilfen geben. Gründlich und mit viel Liebe zum Detail, das nur jener kennt, der in der Kaiserresidenz, im Wiener Umland und in der österreichischen Landschaft aufgewachsen und daheim ist, der – auf Lenaus Spuren – die Welt in Stockerau, Ischl oder Grinzing sinnend erwandert hat, bringt Roman Rocek viel Licht in manche dunkle Stelle aus der Vergangenheit des faszinierenden Lyrikers, die vielfach poetisch in die Zukunft weist und einiges davon antizipiert hat. Das Schubert-Umfeld im Silbernen Kaffeehaus, das Lenau täglich mehrfach beehrte, um dort seine tief gelebte Einsamkeit in der Geselligkeit der Künstlerfreunde aufzulösen, ist ein solches Thema; ebenso wie das erste amouröse Abenteuer der platonischen Art mit Nanette Wolf aus Gmunden, der Freundin Franz Schuberts. Das persönliche Verhältnis zwischen dem lange bewunderten, dann zugunsten Beethovens wieder abgelehnten Komponisten und Lenau, die sich wahrscheinlich gekannt haben, bleibt mangels neuer Quellen weiterhin enigmatisch verdunkelt. In solch einem Kontext erscheint dann immer wieder ein Leitmotiv der Biographie: Lenaus Verhältnis zur Musik, das als unendliches Thema mit Variationen stets wiederkehrt. Die sich anbahnende Freundschaft zu den Repräsentanten der Schwäbischen Dichterschule wird hingegen etwas zurückhaltender behandelt, wobei auf das Verhältnis zu einzelnen Dichtern wie Ludwig Uhland und – neben den Schwaben – auch Denkern wie Franz von Baader oder Virtuosen wie Liszt überhaupt nicht näher eingegangen wird. Die Prioritäten in dieser Monographie liegen nicht in der genauen Auslotung aller Querverbindungen, sondern ganz woanders:

Lenau in Amerika steht im Mittelpunkt dieser Monographie – als Herzstück des Ganzen und, könnte man meinen, als Buch im Buch.
Allein in diesem Kapitel, dass mehr als hundert Seiten umfasst, offenbart sich ein Lenau jenseits der Klischees des Unsteten und Zerrissenen, der in eine Welt eintaucht, die sich ganz anders ist als in den oft vereinfachenden Zusammenfassungen früherer Forschung. Lenaus Reise nach Amerika und zurück – das ist eine ganz spannende Art, fesselnde und zugleich kritische Zeitgeschichte zu erleben. Ausgehend von Heidelberg, wo Lenau sich nach Roceks fester Überzeugung erstmals mit der Syphilis angesteckt hat, ein Grund, der den angehenden Mediziner Lenau abgehalten haben soll, nähere Bindungen mit Frauen anzustreben, reist Lenau im Gefolge einer Auswanderungsgesellschaft in die Vereinigten Staaten. Dort erlebt er als aufmerksamer und zeitkritischer Beobachter die Konstitution einer Demokratie unter Präsident Jackson, die mit seinen Vorstellungen von Freiheit nichts mehr zu tun hat. Vielleicht deutlicher als andere Amerika-Reisende, deren Zeugnisse Rocek mit einfließen lässt, unter anderen Beschreibungen von Alexis de Tocqueville, Vicomte de Chateaubriand und deutschen Aristokraten wie Berthold, Herzog von Sachsen-Weimar, erlebt Lenau die Durchsetzung eines unethischen, materialistischen Pseudoliberalismus, der nicht dem utilitaristischen Streben verpflichtet ist, dem Glück der größtmöglichen Zahl, sondern lediglich der Geldgier weniger Oligarchen, die selbst bestimmen, was Freiheit ist – nämlich die Freiheit, die anderen totzuschlagen. Eine der Amerika-Zwischenüberschriften steht deshalb unter dem Begriff Genozid. Er bezieht sich auf die diskriminierten, verfolgten und schließlich fast vollständig ausgerotteten Ureinwohner Nordamerikas, auf die von Lenau vielfach besungenen Indianer. Kontrastierend dazu führt Rocek, gestützt auf zahlreiche Vorarbeiten anderer Autoren 2) den Leser in die Wertegemeinschaft der Harmonisten ein, einer christlich-pietistischen Sekte aus Württemberg, in deren Siedlung Nikolaus Lenau mindestens zwei Monate als Gast des Gemeindegründers Rapp gelebt hat. Die wahrhaftige und innige Gottsuche dieser Menschen, die in dem als Indianerschlächter bekannten Präsidenten nicht weniger sehen als den Widersacher, und ihrer von Besitzlosigkeit und Zölibat geprägten Lebenshaltung werden – wie Rocek mehrfach hervorhebt – Lenau tief beeindrucken und auf die Gestaltung des bald entstehenden Savonarola  und der Albigenser maßgebend einwirken. Das gesamte Amerika-Erlebnis, dessen politische Tragweite nicht zu unterschätzen ist, wird in Falle Lenaus zu einer reinigenden Katharsis existentieller Art führen, aus der dann auch eine neue Poesie erwächst. Wie seine gute, alte Guarnerius-Geige sich in den hundert Jahren ihres Bestehens selbst reinigt und alles Unnütze ausscheidet, um einen einmaligen Ton heraus zu bringen, wird die Läuterung in der Einsamkeit der amerikanischen Wüste zu einem dichterischen Neuansatz führen. Rocek richtet seinen Blick dabei auf den Zyklus Atlantica als unmittelbarem Ausdruck von Lenaus neuer Poesie, in welche im gleichen Atemzug eine Fülle politisch brisanter Gedanken in sublimierter Form eingearbeitet wurden. Große Aufmerksamkeit widmet der Autor darüber hinaus Lenaus sehr spät in der Harmonistenkolonie entdeckten Gedicht An die Ultraliberalen in Deutschland, in welchem sich der Dichter mit dem falsch verstanden Liberalismus, sprich mit der ad absurdum geführten Idee der Freiheit in Europa und Übersee, kritisch auseinandersetzt. Lenaus Liebesziehungen zu dem Wiener Vorstadtmädel Berta Hauer, zur gefeierten Primadonna Karoline Unger sowie zu der als unwiderstehlich apostrophierten Sophie von Löwenthal werden eingehend analisiert, wobei einige Aspekte neu ausgeleuchtet werden. Materialien des Verfalls in collagenhafter Zusammenstellung ohne Kommentar lassen die Studie ausklingen, ohne dass dabei Lenaus spätes Don Juan-Fragment noch angesprochen werden kann.

Lenau, dessen gesamter Lebensverlauf ein unsteter, rastloser, spontaner und unkonventioneller war, beginnend mit der melancholischen Kindheit, über wechselvolle Jahre des Heranreifens bis in den tragischen Verfall hinein, war stets ein Geist, der polarisierte, eben weil er in kein Raster passte. Doch er war nicht primär ein bewunderter und in manchen Kreisen sogar vergötterter Exot, ein schwarz gefiederter Paradiesvogel der Romantik umgeben von einer Aura des Dämonischen. Lenau war in erster Linie eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die kraft ihrer in poetische Formen gepresster Gedanken wirken wollte und wirkte. Diesem philosophisch Ambitionierten, der schon seine Zeitgenossen zu provozieren wusste und damit nicht nur Zustimmung auslöste, räumt Rocek in seiner Lenaumonographie weiten Raum ein. Dabei stellt er den Dichter in eine philosophische Tradition, in der er die in der Forschung zunehmend Anklang findende geistige Linie von Lenau zu Nietzsche und in die Existentphilosophie gelten lässt. 3) Interpretationen Lenauscher Texte vor dem Hintergrund einer langjährigen Hegel-Rezeption dominieren die Diskussion, fordernde Passagen, die nicht selten ein Eingelesensein voraussetzen, während eine Beeinflussung Lenaus durch die Schriften des Systemphilosophen Herbart oder durch Gotthilf Schuberts psychologisch-mystisches Schrifttum nicht näher verfolgt wird.
In seinem sehr einfühlsam geschriebenen, angenehm lesbaren Buch, das in weiten Passagen dem wissenschaftlichen Essay verpflichtet ist, rezipiert Roman Rocek beachtlich viel Sekundärliteratur, ohne natürlich alles berücksichtigen zu können, was an neuesten Veröffentlichungen über Lenaus Werk vorgelegt wurde.4) Dieser sehr wissenschaftsnahe Aspekt unterscheidet in substanziell von der der vorletzten Lenaubiographie Zeit des Herbstes von Ritter, in welcher die einzelnen Ausführungen und Argumentationsketten ungleich schwerer überprüft werden können.5) 

Roceks Lenaubiographie ist – ganz im Geist des Dichters, der als Ausstrahlungsphänomen den Impressionismus und noch eindeutiger den Expressionismus befruchten wird – in manchem Sinne freiheitlich geschrieben, ohne jedoch die Basis strenger Wissenschaftlichkeit zu verlassen. Nicht selten findet sich ein gängiges Briefzitat in einem unerwarteten Kontext. Das schafft neue Sichtweisen und spornt an, den Dichter immer wieder mit veränderten Augen zu sehen.
Neid, Missgunst und künstlerische Rivalitäten gehässiger Landsleute wie Franz Grillparzer, dem bei offensichtlicher Anerkennung des gefeierten Dichters kein Lob Lenaus zu entlocken war, oder einzelner Jungdeutscher und Linkshegelianer, deren Polemik über die Argumentation hinausging, haben dazu geführt, dass einzelne pejorative Wertungen auch in die Forschung einflossen. Noch vor Jahrzehnten war es nicht unüblich, Lenau zurechtzustutzen, seinen Wert zu schmälern, und ihn eher ab- als aufzuwerten. Diese halbmasochistische Selbstkasteiung scheint inzwischen weitgehend überwunden – vor allem dank der Studien wie der vorliegenden. Roman Rocek malt auf ruhige Weise ein sehr konstantes Lenaubild, indem er den Dichter gefühlvoll, doch mit wachem Auge durch das Leben begleitet. So entsteht das Porträt einer faszinierenden Gestalt der Zeitgeschichte und gleichzeitig eines stets neu mobilisierenden Dichters, eines Lyriker ersten Ranges, der nun auch einen großen Biographen gefunden hat. Bei Lenau – und das fühlten Hugo von Hofmannsthal, Rilke und Stefan Zweig – fällt es nicht schwer es auszusprechen: ecce poeta.

Carl Gibson
Bad Mergentheim


Fußnoten:

1.)   Sadger, Isidor: Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus, In: Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 6, Wien,1909.

2.)   Zahlreiche Beiträge zu den Amerika-Erfahrungen des Dichters erschienen in den Publikationen der Internationalen Lenau-Gesellschaft, Wien, speziell im Lenau-Forum und im Lenau-Almanach in Verlauf der letzten Jahrzehnte.

3.)   Unerwähnt bleiben auch engagierte Werke der Lenauforschung wie die geistige Charakteristik in der Form eines literarisch-wissenschaftlichen Essays: Hammer, Jean-Pierre: Lenau. Poète rebelle et libertaire, Paris, 1988, in der deutschen Fassung: Lenau. Rebell und Dichter, Schwaz 1993, Studien, in welchen die auch von Rocek verfochtene Apologie der Verfolgten, der Indianer, Zigeuner und Juden, mit viel Überzeugung vertreten wird.

4.)   Vgl. dazu: Gibson, Carl: Nietzsches Lenau-Rezeption, in: Sprachkunst, 2. Halbband, Wien 1986, S. 188-204. bzw. das Kapitel: Die dionysische Weltanschauung, in: Gibson, Carl: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Dritte Folge, Band 100, Heidelberg, 1989, S. 206ff.

5.)   Michael Ritter: Zeit des Herbstes,: Nikolaus Lenau. Biographie.Wien 2002. Es ist wohl davon auszugehen, dass die beiden letzten Lenau-Biographien parallel entstanden sind. Schon aus diesem Grund geht Rocek, der in seinem Werk eindeutig andere Wege beschreitet, fast überhaupt nicht auf Ritter ein.

Foto.: Monika Nickel

Büste des österreichischen Lyrikers von Weltrang in dem nach ihm benannten
"Nikolaus Lenau"- Lyzeum in Temeschburg (Timisoara), im Banat.

©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.


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Nikolaus Lenau
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Interpretationen zur Dichtung Lenaus in meinem Werk:




Carl Gibson, Lenau. Leben - Werk - Wirkung.
Heidelberg 1989, 321 Seiten.

Dieses viel zitierte Standardwerk der Lenau-Forschung ist -
laut World Cat Identities und neben einer Studie des Freud Schülers Isidor Sadger über das Liebesleben Nikolaus Lenaus -
das weltweit am meisten verbreitete Werk über den Spätromantiker und Klassiker der Weltliteratur Nikolaus Lenau .

Der leider viel zu früh verstorbene Germanist und Nietzsche-Forscher Prof. Dr. Theo Meyer erkannte in diesem Werk

"einen Markstein der Lenau-Forschung.
Es ist überhaupt die prägnanteste Lenau-Monographie. es dürfte zum Besten gehören, was über Lenau überhaupt geschrieben worden ist."

Das Werk, das mir, dem Autor bisher noch kein Einkommen generiert hat, wurde in acht Teilauflagen gedruckt. 
Die Leinen-Ausgabe ist seit vielen Jahren vergriffen. 

Ein Restbestand der kartonierten Ausgabe liegt - ungeachtet anderer Meldungen im Internetbuchhandel - noch vor und kann beim Winter Verlag, Heidelberg bezogen werden.

Trotzdem ist eine grundlegend überarbeitete Neu-Edition dieser Monographie angesagt,
da die Werke und Briefe Lenaus inzwischen in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegen.



©Carl Gibson



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