Samstag, 25. April 2020

Michel de Montaignes Essay „De la solitude“- Das Leben in Abgeschiedenheit zwischen profaner Weltflucht und ästhetischer Verklärung, Auszug bzw. Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung

 

 

Michel de Montaignes Essay „De la solitude“- Das Leben in Abgeschiedenheit zwischen profaner Weltflucht und ästhetischer Verklärung


„In den meisten Schriftstellern sehe ich nur den Menschen, der schreibt, in Montaigne den, der denkt.“
Montesquieu, Gedanken

Was veranlasst einen der größten Köpfe seiner Zeit, den erfolgreichen Ratsherrn und späteren Bürgermeister von Bordeaux, den Aristokraten und Schlossherrn, der mit Königen, ja selbst mit dem Papst verkehrt, allem zu entsagen und sich für Jahre in die Einsamkeit eines kargen Turms zurückzuziehen? Michel de Montaigne, im Urteil Friedrich Nietzsches einer der intellektuell redlichsten und wahrhaftigsten aller Schriftsteller, beantwortet diese Frage selbst. Es ist das stoische Ideal, Ordnung und Ruhe in die eigene Lebensführung zu bringen, kurz: vernünftig zu leben.

9.1. Süße Weltflucht in den Turm – Melancholie als Habitus

 

Michel de Montaigne, 1533 auf Schloss Montaigne geboren, zog sich nach einem sehr erfolgreichen praktischen Leben aus der Gesellschaft, ja selbst aus dem Kreise seiner Familie zurück, freiwillig, um Einkehr zu halten, um sich so selbst zu finden, um zur eigenen Wesenheit zu gelangen, zum Selbst, aber auch um sich dem geistigen Schaffen zu widmen – und das ausschließlich: „Im Jahre Christi 1571, 38 Jahre alt, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, seit langem der Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde, in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit die Tage verbringen wird, die ihm zu leben bleiben. Vergönne ihm das Schicksal, diese Wohnung der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu vollenden, die er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat.“ [1]
 
Als sich der geistesverwandte Petrarca seinerzeit ähnlich abrupt aus Avignon in die Einsamkeit an der Quelle der Sorgue bei Fontaine de Vaucluse zurückzog, tat er dies aus ähnlichen Beweggründen wie Michel de Montaigne, primär, um zum Selbst zu finden, vor allem aber auch, um sich künstlerisch-produktiv neu zu entwerfen und seine Vita zu stilisieren. Den Lebensabend aber verbrachte er dann – nicht mehr ganz konsequent – fern der selbst gewählten Einsamkeit in der heiteren Gesellschaft fürstlicher Paläste. Montaignes Rückzug hingegen hat von Anfang an etwas existenziell Resolutes, etwas Endgültiges, obwohl auch er noch einmal, nach neun Jahren genossener und erlittener Einsamkeit im Turm, ins aktive Leben eintritt, eine große Reise durch Süddeutschland, durch die Schweiz bis nach Italien unternimmt, um sich bald darauf auch noch als Bürgermeister der bedeutenden Kultur- und Handelsstadt Bordeaux in die Pflicht nehmen zu lassen. Hatten sein stoisches Gewissen, die Sorge um das Gemeinwohl und die Bürgerpflichtflicht seinen etwas egoistisch anmutenden Selbstverwirklichungsdrang zum Schriftsteller und Denker zurück gedrängt? Waren in den langen Jahren kontemplativer Beschaulichkeit in Einsamkeit neue Einsichten herangereift? Hatte sich die - bereits von Seneca vorformulierte Erkenntnis doch noch durchgesetzt, auch der Zurückgezogene bedürfe des gesellschaftlichen Austauschs, wolle er nicht geistig verkümmern, dem Solipsismus oder der selbstzerstörerischen Misanthropie verfallen? 
Was trieb diesen Geist wirklich in die Einsamkeit? Motor dieses Rückzugs ist, über den philosophischen Impetus hinaus, vor allem die - in jener Zeit des Umbruchs und der religiös-politischen Wirren - bestimmende Einsicht, alles Sein sei vergänglich und unbeständig: „Am Ende gibt es überhaupt kein beständiges Sein, weder in unserem Wesen noch im Wesen der Dinge ... und der Urteilende und Beurteilte [befinden] sich in fortwährender Wandlung und Schwankung.“[2] Das ist die Haltung eines skeptizistischen Perspektivisten, hinter welcher sich ein bisweilen pessimistisches Weltbild auftut. Das Konstante ist „die natürliche Unbeständigkeit unseres Verhaltens und Meinens.“

9.2. War Michel de Montaigne ein Melancholiker?


„C‘ est une humeur melancholique ( …)produite par le chagrin de la solitude en laquelle il y a quelques années que je m‘ estoy jetté, qui m‘ a mis premierement en teste cette resverie de me mesler d‘ escrire“.
(Es war eine melancholische Laune, hervorgebracht durch den Kummer über die Einsamkeit, in die ich mich vor einigen Jahren begeben hatte, die mir zuerst den Gedanken in den Kopf gesetzt hat, mich mit Schreiben zu befassen.“)[3]

Montaignes Zurückgezogenheit in die rein kontemplative Kreation ist jedoch kein melancholisches Sein aus Enttäuschung und Resignation, wie sie bei dem gelangweilten Herzog La Rochefoucauld anzutreffen ist; sie ist keine feige Weltflucht aus tiefer Schwermut heraus, sondern ein gezieltes Hinstreben zum individuellen Selbstsein, ohne dass dieses zur solipsistischen Selbstschau ausarten würde: „Ich wende meinen Blick nach innen, und da halte ich ihn fest und lasse ihn verweilen. Jedermann schaut von sich weg, ich schaue in mich hinein, ich habe es nur mit mir selber zu tun ... ich kreise in mir selbst.“
Die Auseinandersetzung mit dem Selbst ist immer ein autodynamischer Prozess, der zu neuen Ideen und zum Kunstwerk führt. Montaigne zieht sich zurück, um nur noch für das eigentliche Leben da zu sein, für das schöpferische Leben als künstlerisch-philosophisch Schaffender, als kreatives Subjekt. Kunst und Leben, also poetisches und denkerisches Schaffen und vernünftiges Existieren, gehen eine Symbiose ein und verschmelzen miteinander. Einsamkeit wird so für Montaigne zur existenziellen Haltung. Ist Montaigne trotzdem auch einer jener illustren Geister aus der großen Familie der Melancholiker?[4]
 
Montaigne selbst hat auch darüber reflektiert und Position bezogen. Dabei sah er sich nicht als reinen, als „konstitutionellen Melancholiker“, erkannte aber eine leichte Tendenz zur „melancholischen Disposition“. Im Versuch einer differenzierenden Selbstcharakterisierung bezeichnete er das eigene Temperament als „Mitte zwischen Fröhlichkeit und Schwermut, mäßig sanguinisch und leidenschaftlich.“ Sein Wesen und Gemüt empfand der aufgeklärte Franzose eher als sensibel und weich, verbunden mit einer gewissen individuellen Eigensinnigkeit und als solche - Senecas Ausführungen im Bewusstsein - für das Leben in der Einsamkeit durchaus geeignet, während andere Personen, „thätige und geschäftige, die alles angreifen“ ein Leben in Einsamkeit nie ertragen würden.

9.3. Einsamkeit, ein Wert an sich, ist nie Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck.


Ideengeschichtlich betrachtet reiht sich Montaigne recht bewusst in die Linie antiker Lebensphilosophen ein, namentlich der stoischen Vorbilder und praktiziert voll und ganz die - von Seneca (otium cum litteris) und Petrarca (literarum amicum) vorgegebene, bücherlesende Einsamkeit des Gelehrten. Zur Einsamkeit-Auffassung eines Cicero und Plinius hingegen wahrt Montaigne eine kritische Distanz. Gerade Cicero, das große Vorbild Petrarcas, der Anwalt und öffentliche Mensch, der im temporären Rückzug aus der Gesellschaft eine Art Jungbrunnen souveräner Individuen erkennt, erscheint Montaigne eher als ein Typus, der die Einsamkeit bewusst instrumentalisiert, der in sie eintaucht, um noch mächtiger aus ihr hervorzubrechen und sich gesellschaftlich zu behaupten.
Während Montaigne vor allem eine Art „monologische Existenz“ kultiviert, indem er in den Essays - weitaus konsequenter als etwa Augustinus, in den Alleingesprächen oder in seinen Bekenntnissen - wahrhaftige Selbstgespräche führt, was auch sein später Biograph, der Romanist von Rang Hugo Friedrich[5] hervorhebt, versteht Cicero sein gesamtes Sein als dialogische Existenz[6]
Deshalb versteht Montaigne auch das geistige Schaffen aus der Einsamkeit heraus nicht im Sinne Ciceros, den er direkt mit der Bemerkung tadelt: „er wolle seine Einsamkeit und Ruhe von öffentlichen Geschäften dazu anwenden, um sich durch seine Schriften die Unsterblichkeit zu erwerben“[7], auch weil er mit Seneca von Überzeugung ausgeht, echte Einsamkeit und künstlerischer Ehrgeiz stellten entgegengesetzte, sich widersprechende, ja sich ausschließende Phänomene dar. 
Der persönliche Ehrgeiz als der Drang zum Fortkommen auf welchem Entfaltungsgebiet auch immer, ist dem seelisch-geistigen „Zur-Ruhe-Kommen“ des Individuums entgegengesetzt; er verhindert dieses ebenso wie den daraus resultierenden künstlerischen Antrieb. Wer einsam lebt, sucht sich selbst, er fragt nach dem was der Mensch ist, er denkt anthropologisch, ja anthropozentrisch, aber nicht rezeptionsorientiert. Montaigne erinnert dabei an die Worte jenes Denkers, der sein Ringen um die Kunst mit den Worten umschreibt: „Ich lasse mirs gefallen, wenn sie auch nur wenige, wenn sich auch nur einer, wenn sie auch gar keiner verstehet. Er sagte die Wahrheit.“[8] Gemeint ist natürlich Seneca
Der in Einsamkeit Vertiefte erwartet nicht, dass man ihn hört, seine Werke preist und seinen Ruhm verkündet. Wichtig ist allerdings der konstruktive Schaffensprozess an sich, weniger die objektive Gültigkeit des Werkes. Noch weniger gewichtet sind Wertigkeiten wie Ehre, Unsterblichkeit oder gar Nachruhm. Diesen eitlen Ambitionen wird von Montaigne eine rigorose Absage erteilt, wenn er den - oben bereits betonten - Aspekt noch einmal mit den Worten auf den Punkt bringt „Die allerunverträglichste Gemütsart mit der Einsamkeit ist der Ehrgeiz.“[9]
 
Manche Menschen seien „nur deswegen zurückgegangen, um einen stärkeren Anlauf zu nehmen und durch einen kräftigeren Sprung eine größere Lücke in dem Haufen zu tun“[10], vermerkt Montaigne kritisch pointiert. Cicero, Plinius und selbst Petrarca sehen in ihren Betrachtungen den Rückzug in die Einsamkeit weitgehend als ein Mittel zum Zweck an, als Stimmungsmedium, um zu einem höheren Ziel zu gelangen. Montaigne hingegen distanziert sich von diesen Vereinnahmungen der „solitude“ und erhöht das Leben in der Einsamkeit zu einem Wert an sich, wobei er mittelbar Epikurs, Senecas und Mark Aurels Phänomen-Analysen und Wertungen gelten lässt. Damit nähert sich der Franzose stark der religiös motivierten Einsamkeit der Eremiten, Mönche und Mystiker wobei, diese selbstlos Existierenden das eigene Selbst aufgeben, um im Gebet oder in der Unio zu Gott zu finden und in Gott aufzugehen. Montaigne, ein strenger Ethiker und irgendwo auch ein „homo religiosus“ mit Sinn für echte Einkehr und Pietät, hat auch keine Probleme, seine Apologie der Einsamkeit zu legitimieren und zu rechtfertigen. Die Einsamkeit aus Andacht zu suchen, erscheint ihm als vernünftige Handlung, da sie den Menschen Gott näher bringt und seine Seele befreit.
Wer in die Einsamkeit eintauchen will, muss mit dem bisherigen Leben abgeschlossen haben, konstatiert Montaigne aus eigener Erfahrung: „So muß auch derjenige, der sich aus Verdruß und Ekel an dem gemeinen Leben in die Einsamkeit begiebt, dieses nach den Regeln der Vernunft mit Bedachtsamkeit und Überlegung anstellen und einrichten. Er muß von allen Arten der Arbeit, sie mögen aussehen wie sie wollen, Abschied genommen haben, und überhaupt die Leidenschaften fliehen, die die Ruhe des Leibes und der Seele verhindern, und denjenigen Weg erwählen, der sich am besten für seine Gemüthsbeschaffenheit schicket.[11]
 
Die Seelenruhe Epikurs und die affektfreie Ataraxie der Stoiker ist hier Programm geworden. Montaigne geht sogar so weit, alle beschwerlichen und verdrießlichen Beschäftigungen in der Einsamkeit konsequent abzulehnen, selbst das aufwühlende Lesen bestimmter Bücher. Er akzeptiert nur noch leicht zugängliche Werke, Literatur, die ihn animiert, „kützelt“, ihn tröstet und ihm weitere Anleitungen vermittelt, wie das wahre Leben in Einsamkeit zu gestalten sei. In der Einsamkeit verharrend, denkt er nicht zuletzt über das Wesen der Einsamkeit nach – und dies im permanenten Versuch, diesen Zustand zu perfektionieren. Einsamkeit, der Wert an sich, ist nie Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Es ist nicht bekannt, was Montaigne wirklich veranlasste, sich in seinen Turm unweit des Schlosses zurück zu ziehen. Doch mit seiner eindrucksvollen Geste hat er zugleich den existenziellen Beweis erbracht, dass ein starker Charakter sehr wohl zehn Jahre lang gemächlich in relativer Einsamkeit leben und gleichzeitig schöpferisch tätig sein kann. Das Leben in Einsamkeit ist durchaus planbar und gut zu gestalten, wobei Vernunft, geistige Disziplin und hohe Moral die unbedingten Voraussetzungen darstellen.
Der einsame Montaigne unterscheidet sich als moderner Nachrenaissancemensch eben durch das Einbeziehen der Ratio und zahlreicher psychologischer und psychosomatischer Faktoren von den frühchristlichen Einsamen und einzelnen Mystikern des Mittelalters, wobei er an das - schon von Epikur und den Stoikern akzentuierte - Primat der Vernunft anknüpft. Während der Wüstenanachoret in äußerer Einsamkeit meditiert, innere Ruhe und Seelenheil zu erreichen sucht, indem er in lebensfeindlichen Bedingungen ausharrt, um so den Heimsuchungen der Dämonen zu widerstehen; während ein Mystiker wie Seuse (Suso) seinen Körper mit allen möglichen Kasteiungen, Fasten, Nachtwachen und sonstigen Schikanen unmenschlicher Art foltert, quält und dabei über physische Erschlaffung den psychischen Niedergang fördert und so die Entstehung von gefährlicher Melancholie eher fördert als bekämpft, setzt Montaigne auf die antiken Erkenntnisse von der gesunden Seele im gesunden Leib und richtet es sich recht gemütlich in der Einsamkeit ein.

9.4. „Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der Mensch“ – Einsamkeit und Gesellschaft



Fern von Eitelkeit oder vom Ehrgeiz erfüllt, Nachruhm zu erlangen oder seiner Zeit den Stempel aufdrücken zu wollen, schuf Montaigne schließlich, nachdem er sich - nach reichlich genossenem beschaulichen Dasein und reiflicher Überlegung - endlich zum Schreiben durchgerungen hatte, aus der selbst gewählten Einsamkeit heraus ein umfangreiches, facettenreiches und zugleich in mancher Hinsicht wertvolles Werk, nämlich die „Essais“, darunter auch die bereits zitierte Abhandlung De la solitude“.
In der Montaigne-Forschung hat man diesem Werk sicher noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, vielleicht auch deshalb nicht, weil der Komplex Einsamkeit – Melancholie als Phänomen-Beschreibung und literarisches Sujet bisher noch keine systematische Aufarbeitung erfuhr. Selbst der bekannte Romanist Hugo Friedrich spricht in seiner bemerkenswert stringenten Montaigne-Monographie etwas herablassend lediglich von einer „antikische(n) Stilisierung dieses Einsamkeitsentschlusses.“[12] Nach Friedrich ist „der Essay, den er der Einsamkeit gewidmet hat, eine persönlich getönte Paraphrase von entsprechenden Kernstellen aus den Briefen Senecas. Einsamkeit, das heißt hier: Beisichselbersein der Seele, eine Sammlung auf sich selbst, ein Sich-Vergewissern der eigenen Neigungen und Kräfte.“[13] Mit dieser etwas pejorativ anmutenden Einschätzung wird die Relevanz der Einsamkeit nicht nur als das verkannt, was sie für Montaigne darstellt, nämlich die Grundbedingung seiner schöpferischen und menschlichen Existenz schlechthin. Das von Montaigne – wie kaum von einem anderen Denker - verinnerlichte anthropologische Grundphänomen wird damit auch noch trivialisiert. An sich ist diese apodiktische Zwangssystematisierung nicht nur makroperspektivisch betrachtet unzutreffend - sie stimmt auch im Detail nicht. Bei Montaigne, das sollte nicht unterschlagen werden, kommt es eben auf die zahlreichen Subtilitäten und Nuancen an, die nur auffallen, wenn man die Entwicklung der Phänomene Einsamkeit und Melancholie durch die Jahrhunderte verfolgt. Gleich am Anfang des Essays heißt es: „Die weitläufige Vergleichung des einsamen mit dem tätigen und geselligen Leben wollen wir linker Hand liegen lassen.“[14] Montaigne weigert sich also, die bei Seneca und Petrarca gehäuft auftretenden Vergleiche zwischen der „Vita activa“ und der „Vita contemplativa“, zwischen dem „Felix solitarius“ und dem „Miser occupatus“ endlos zu wiederholen. Er setzt deren Kenntnis voraus und geht direkt ins Detail, um neue Aspekte beizutragen. Interessant, ja innovatorisch ist beispielsweise Montaignes - paradox anmutende - Definition des Menschen in seinem Verhältnis zur Einsamkeit. Er unterscheidet nicht ausschließlich wie bis dahin zwischen einsamen und geselligen Naturen, sondern er stellt fest: „Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der Mensch“[15] - eine Definition, die in der Umschreibung des „Gesellig Ungeselligen“ im Werk von Kant und bei Zimmermann wiederkommen wird. Savonarola, der einsame Mönch in der Zelle und der Wirker in der Gesellschaft, hatte dies ähnlich gesehen und - im Geist der Antike mit Aristoteles - betont, der Mensch könne allein nicht leben, sondern brauche die Gesellschaft [16]. Einsamkeit und Geselligkeit erscheinen damit als sich bedingende und weitgehend gleichwertige Phänomene, als die beiden unterschiedlichen Seiten einer Medaille. Der Weise Montaignes ist somit kein idealisiertes, abgehobenes und elitäres Individuum wie bei einzelnen Stoikern oder in Genie-Vorstellung Arthur Schopenhauers, sondern er ist - auf ein menschliches Maß reduziert - schlicht ein „Mensch von Verstand“, der „sich selbst besitzt“[17]
Dieser Mensch wählt aus Einsicht das zurückgezogene Leben und Schaffen in der Einsamkeit. Hier führt er das Gespräch mit dem Selbst: „Man muß ein Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit uns selbst unterhalten; und zwar so abgesondert, dass darin keine andere Bekanntschaft oder Mitteilung fremder Dinge stattfinde.“ [18] Visionäre wie Jean-Jacques Rousseau, Cäsaren wie Marc Aurel oder ein absoluter Monarch wie Friedrich der Große in seinem Refugium Sanssouci werden diesem klaren Wort der Vernunft nach Descartes beipflichten. Einsamkeit bedeutet demnach Freiheit, Selbstsein und Selbstverwirklichung im Sinne der Hellenisten. Gleichzeitig kennt Montaigne neben dem philosophisch motivierten Rückzug auch die religiös bedingte Einsamkeit und die säkularisierte Einsamkeit als gleichwertig an. 
Wahre Einsamkeit kann sich zum Genuss, zum „herrlichen Freudenleben“[19] steigern, eine Sicht, die auch die hedonistisch-eudämonistische Komponente der Weltflucht zu würdigen weiß. In einer weiteren Differenzierung verzichtet Montaigne auf die äußere Kulisse der Einsamkeit, auf den einsamen Ort, wenn er - mit Marc Aurel - betont, der Weise könne „selbst im Gedränge der Paläste einsam sein und sich selbst genießen.“[20] Als eine Sache des Bewusstseins vollzieht sich der Rückzug im Kopf und abhängig vom Ort und dem menschlichen Umfeld – genauso wie sich inmitten von Menschen, in der Partnerschaft, je selbst in der Familie auch die „Vereinsamung“ vollziehen kann. Die Verknüpfung des Ausdrucks „einsam sein“ mit „sich selbst genießen“ verweist darauf, dass Montaigne nicht die „Vereinsamung“ meint, akzentuiert, sondern eben das positive Phänomen Einsamkeit als Satisfaktion, ja als Genuss. Montaigne potenziert den Gedanken noch, wenn er im gleichen Essay vermerkt: „Das ist die wahre Einsamkeit, deren man mitten in Städten und an den Höfen der Könige genießen kann.“[21]
Es bedarf also nicht unbedingt eines Hinterstübchens oder gar eines idyllischen „Locus amoenus“, wie ihn Petrarca vor den Toren Avignons in natürlicher Idylle an der Quelle der Sorgue vorfand; Es bedarf einzig und allein des konzentrierten Selbstseins, um ausgeglichen, nicht leidend und glücklich zu sein. Der mit dem Selbst und damit mit dem Kosmos in Einklang lebende Geist schafft sich sein Glück durch die Freiheit. Die determinierende Bedingung entfällt. Gerade im Gedränge der Großstadt, wo die negative Vereinsamung am deutlichsten droht, bietet das positive Phänomen Einsamkeit in einer Rückbesinnung auf das Selbst eine existenzbewältigende Lösung. Damit geht Montaigne, bei dem epikureische und stoische Auffassungen zu einer Synthese zusammenfinden, leicht über die Ausführungen seiner Vorgänger hinaus. Doch Montaigne ist keinesfalls der Begründer dieser inneren und verinnerlichten Einsamkeit. Wie oben bereits dargelegt, finden wir sie bereits in speziellen Ausformungen in der deutschen Mystik, vor allem bei Meister Eckhart, und noch viel früher bei Marcus Aurelius, dem die äußere Zurückgezogenheit zu beschränkt erscheint. Kraft seines Bewusstseins hat das Individuum jederzeit die Möglichkeit, sich auf das Selbst zu besinnen. In der lebensphilosophischen Schrift „Selbstbetrachtungen“ wird dies angeregt: „Steht es dir ja frei, zu jeder dir beliebigen Stunde dich auf dich selbst zurückzuziehen (...) Gönne dir nur immerdar dieses Zurücktreten ins Innere und verjünge so dich selbst.“[22] Montaigne bleibt in seinen Ausführungen zum favorisierten Lebenselement auf dem Boden einer rationalen und empirischen Denkweise. Er denkt anthropozentrisch, während mystische und metaphysische Überlegungen für ihn unbedeutend sind.

9.5. Vanitas - Der Rückzug aus der Gesellschaft ist auch historisch bedingt

 „Einsamkeit
In dieser Einsamkeit / der mehr denn öden Wüsten
Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See:
Beschau’ ich jenes Thal vnd dieser Felsen Höh’
Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten.
Hier / fern von dem Pallast; weit von deß Pövels Lüsten /
Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’
Wie / auff nicht festem Grund’ all vnser Hoffen steh’
Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag vns grüßten.
Die Höl’ / der rauhe Wald / der Todtenkopff / der Stein /
Den auch die Zeit aufffrist / die abgezehrten Bein.
Entwerffen in dem Muth vnzehliche Gedancken.
Der Mauren alter Grauß / diß vngebau’te Land
Ist schön vnd fruchtbar mir / der eigentlich erkant /
Daß alles / ohn ein Geist / den Gott selbst hält / muß wancken.“
Andreas Gryphius[23]

Doch weshalb zog sich Montaigne überhaupt aus der Alltagswelt zurück? Der Rückzug großer Individuen aus der Gesellschaft und ihre Festlegung auf ihren eigenen Mikrokosmos, ohne den Ehrgeiz zu entwickeln, etwas gesellschaftlich und politisch verändern zu wollen, sondern ausschließlich ideell-artistisch zu wirken, ist nicht nur auf philosophische Überzeugungen zurückzuführen. Diese Haltung ist auch ein Zeitproblem und hat zeitspezifische, historische Gründe, nicht erst bei Montaigne.
Als Petrarca in Norditalien und vor allem im Languedoc aufwuchs, waren die Auswirkungen der Albigenser-Kriege noch deutlich zu spüren. Der Ausrottungsfeldzug des Papstes gegen die Katharer vom Piemont bis in die Pyrenäen – von Lenau, und nur von ihm, in einem leidenschaftlichen Epos für die Nachwelt festgehalten – hatte die blühenden Städte und Gegenden der Troubadours in Schutt und Asche gelegt und damit die Kulturlandschaft Europas schlechthin für Jahrhunderte zurückgeworfen. Das einzige was von der - selbst heute noch von Kirchenhistorikern als der größte Schandfleck der Christenheit empfundenen - Schreckenstat übrig blieb, war eine Einrichtung, die auch ein Petrarca immer wieder im Auge haben und fürchten musste: die Inquisition. Mit einem Horrorszenario im Hintergrund, gepaart mit ebenso schrecklichen Pestepidemien, die einschneidend Unzählige hinwegraffte und einer Aura von Vergänglichkeit in vielen Formen, schuf der Dichter des „Canzoniere“ sein Werk. Schaffen bedeutete für Petrarca auch Absetzung von der Zeit und aktives, geistig-künstlerisches Wirken gegen die Zeit.
Montaignes Arbeiten an den „Essais“ fällt in eine vergleichbare Krisenzeit der Menschheitsgeschichte, in die Tage der blutigen Religionskriege in Frankreich, in die dreißigjährige Auseinandersetzung schlimmster Art zwischen Katholiken und Protestanten. Die Zeit der Spätrenaissance in Italien, die Epoche der Reformation in Deutschland, entspricht in Frankreich dem Jahrhundert Montaignes und ist eine ebenso dunkle Zeit wie die Jahrzehnte der Katharer-Ausrottung im Languedoc. Wie von ihm selbst drastisch apostrophiert, lebt der Aufklärer und kritische Rationalist Montaigne, in einem „Jahrhundert der Unwissenheit“. Voltaire sollte es später auf den Punkt bringen: In solchen Zeiten fallen aufgeklärte Charaktere vom Format eines Montaigne auf.
Montaigne, ein Philosoph, herausragend aus einem Heer religiöser Eiferer und Fanatiker, identifizierte sich keineswegs mit seiner Zeit. Er gab gern zu, sich in seinem Jahrhundert unwohl, unverstanden und unnütz zu fühlen. Nur war dies noch längst kein Grund zu resignieren, der Apathie oder der Melancholie zu verfallen. Ganz im Gegenteil: Michel de Montaigne setzte der Dunkelheit seiner Zeit die individuelle Produktivität entgegen - mit den Essais einen großen ideengeschichtlichen Wurf schaffend, der immer noch aktuell ist und die Geister fasziniert.
Trotzdem: Aus heutiger Sicht betrachtet, sind es in der Tat nicht primär seine Reflexionen über das Leben in Einsamkeit als Phänomenbeschreibung, die bei Montaigne nachwirken, sondern seine gelebte Einsamkeit: Der große, ja einmalige Gestus, sich zehn Jahre in einen Turm zurückzuziehen und sich - im Dienst von Literatur und Geist - der Gesellschaft zu versagen, obwohl er als einer ihrer exponiertesten intellektuellen Kapazitäten gelten kann, beeindruckt weit mehr und wirkt katalysierend auf seine geistigen Nachfahren in Frankreich.





[1] Uwe Schulz: Michel de Montaigne. (Rowohlts Monographien. 442) Rowohlt, Reinbek 1989, S. 14.
[2] Schulz, Montaigne, S.16.
[3] Zitiert nach: Ludwig Völker: „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Mit Ausblicken auf die europäische Melancholie Tradition in Literatur und Kunstgeschichte. Mit 36 Abbildungen. Herausgegeben von Ludwig Völker, Stuttgart 1983. Stuttgart 1983. S. 528.
[4] In der Monographie: Jean Starobinski: Montaigne. Denken und Existenz. München 1986, setzt der Biograph den Ausdruck „Melancholie“ wohl gezielt ein (S. 40), um darauf hinzuweisen, dass Montaigne – aus der Einsamkeit heraus – überhaupt erst zum Schreiben kam. Von zentraler Bedeutung erscheint -Starobinski eine vielsagende Notiz des Philosophen, in welcher die Antriebe zum Schreiben explizit angesprochen werden: „C‘ est une humeur melancholique ( …)produite par le chagrin de la solitude en laquelle il y a quelques années que je m‘ estoy jetté, qui m‘ a mis premierement en teste cette resverie de me mesler d‘ escrire“. (Es war eine melancholische Laune, hervorgebracht durch den Kummer über die Einsamkeit, in die ich mich vor einigen Jahren begeben hatte, die mir zuerst den Gedanken in den Kopf gesetzt hat, mich mit Schreiben zu befassen.“ Das Leben in Einsamkeit war also nicht nur ein Vergnügen, Muße und Muse, der Einsame litt auch unter seiner Selbst-Isolation im Turm. Die „vita cotemplativa“, das rein beschauliche Leben, reicht nicht mehr aus. Wie schon von Petrarca erkannt, muss der Dichter und Denker auch sagen, niederschreiben, was er denkt und erleidet, wenn die Einsamkeit nicht zum Überdruss führen soll.
[5] Hugo Friedrich: Montaigne. 2. Auflage, Bern, o. J. S. 18.
[6] Seel, Otto: Cicero, Stuttgart 1953. Seel hat diesen Grundzug herausgearbeitet.
[7] Gesammelte Schriften Michel de Montaignes. Historisch-kritische Ausgabe. Übertragen von J. J. Bode. Herausgegeben von O. Flake und W. Weigand. München 1915. Bd. 2, S. 127. Weiterhin kurz zitiert als „Montaigne“. Berücksichtigt wurden auch: Montaigne: Oeuvres complètes, Gallimard 1962, bzw.:
Montaigne, Michel de: Essais, Versuche nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz, Zürich 1992.
[8] Montaigne, Michel de: Essais, S. 446.
[9] Montaigne, S. 131.
[10]Ebenda.
[11] Montaigne, Michel de: Essais, S. 443 f.
[12] Hugo Friedrich: Montaigne. 2. Auflage, Bern, o. J. S. 18.
[13] Ebenda, S. 233.
[14] Montaigne, S. 113.
[15] Montaigne, Über die Einsamkeit,
[16] Vgl. dazu das entsprechende Zitat in dem Kapitel „Einsamkeit und Gesellschaft bei Savonarola“ weiter oben.
[17] Montaigne, S. 119.
[18] Ebenda, S. 120.
[19] Ebenda, S. 128.
[20] Ebenda, S. 115.
[21] Ebenda, S. 118.
[22] Zitiert nach: Karl Vorländer, Philosophie des Altertums, Reinbek 1971. S. 281.

[23] Andreas Gryphius (1616-1664), dessen Heimatstadt Glogau im Dreißigjährigen Krieg zerstört wurde, und Montaigne, der die französischen Religionskriege erlebte, sind - fast - Zeitgenossen, die aus den zerstörerischen Ereignissen ihrer Zeit existenzielle Schlüsse ziehen und diese auch poetisch-philosophisch umsetzen.










Inhalt des Buches: 

Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca


zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche

Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche





Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen. 

Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche


Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens


Mit Beiträgen zu:

Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,


dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays

1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim

Alle Rechte vorbehalten.


ISBN: 978-3-00-049939-5


Aus der Reihe:

Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015

Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim


Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,

Email: carlgibsongermany@gmail.com

-         oder regulär über den Buchhandel.

„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?

Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.

Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.

Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhauptWelche Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet – richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.

Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.


ISBN: 978-3-00-049939-5


Inhalt:


Einleitung: „Einsamkeit“ heute – Segen oder Fluch?
Der Mensch der Single-Gesellschaft – Leben im uneigentlichen Sein?

Teil I: Griechisch-römische Antike

1. Waren die heiteren Griechen auch einsam? Das Verständnis von Einsamkeit und Melancholie bei Vorsokratikern und Aristoteles.
1.2. Der Melancholiker – ein Genie? - Empedokles, Demokrit und eine nicht authentische, missverstandene Aristoteles-Sentenz
1.3. Im Garten des Epikur – Lebe zurückgezogen! Das naturgemäße Leben im Verborgenen.
2. Marcus Tullius Cicero - Einsamkeit und Gesellschaft: Musischer Rückzug in den ruhigen Hafen – „otio“ - „Gespräche in Tusculum“
3. Ovidius Naso in Verbannung in Tomis, am Schwarzen Meer – Vereinsamung und Melancholie im Spätwerk, in den Elegien „Tristia“ und in den Briefen „Epistulae ex Ponto“.
3. 1. „einsam lieg’ ich am Strande des äußersten Endes der Erde“ - Zur Einsamkeit verdammt am Ende der Welt: Ovids melancholische Dichtung vom Pontus
3. 2. Nemo propheta in patria?
3. 3. Kummer, „aegritudo“, „mania“, „melankolia“ in Ciceros „Disputationes Tusculanae“ - Bellerophon, der antike Einsame, Unbehauste; Einsamkeit und Melancholie in der mythisch-analytischen Zeitdiskussion.
3. 4. Psychosomatik
3. 5. Das „Schwarze Meer“ und „Tomis“ – antike Unort(e)?
3. 6. Künstlerisches Schaffen in Einsamkeit an sich und als Selbsttherapie
3. 7. Melancholie und Versöhnung – Concordia und Amor fati
4. Lucius Annäus Seneca - Lebe zurückgezogen - „solitudine“ und „in otio“
4. 1. „exsilium“, Senecas Verbannung auf Korsika – Unfreiwillige, äußere Einsamkeit und innere Freiheit, dargestellt im „Epigramm“
4. 2. Existenzbewältigung über Poesie bei Ovid und ethisches Philosophieren bei Seneca
4. 3. Ruhe der Einsamkeit - Apathie, Ataraxie, Eudämonie, „constantia“
4. 4. „De constantia sapientis“ – Die „Unerschütterlichkeit des Weisen“
4. 5. „Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“ – Oder: „Patria est, ubicumque est bene“
4. 6. Senecas Klage als Anklage – Gesellschaftskritik und Dekadenz-Kritik aus der Einsamkeit des Exils heraus in der Auseinandersetzung mit den Tyrannen Caligula und Nero
4. 7. „De otio“ – Von der „Zurückgezogenheit“; Zwischen stiller Muße (otio) und hektischer Geschäftigkeit (negotio)
4. 8. In „secreto“ – „Menschen (…) leisten in der Einsamkeit Größtes“- Ethische Haltung und Charakterbildung entstehen in der Stille der „Zurückgezogenheit“. Die Funktionen des einsamen Lebens und der Nutzen für die Gesellschaft
4. 9. Selbsterkenntnis und die Idee des Selbstseins erwachsen dem Alleinsein - Das Existieren in der Eigentlichkeit. Psychologische und soziologische Aspekte erfahrener Einsamkeit
4. 10. Die Gefahren des Alleinseins – Einsamkeit als Last
4. 11. Das Alleinsein in den eigenen vier Wänden – Chance und Risiko. Freiwilliger Rückzug in die Einsamkeit, statt Weltflucht aus Enttäuschung und Überdruss
4. 12. Typen und Charaktere – introvertiert oder extrovertiert? Senecas Beschreibung der Melancholie-Symptomatik
4. 13. Geselligkeit – Senecas Plädoyer für ein ausgewogenes Wechselverhältnis zwischen freiwilligem Sein in Einsamkeit und sozialem Austausch
4. 14. Schöpferische Einsamkeit - Medium des Kreativen
4. 15. Die Apotheose des einsam-kontemplativen Lebens in der Schrift „De brevitate vitae“, „Die Kürze des Lebens“
4. 16. Im „Jetzt“ leben, nicht erst morgen und am Leben vorbei! Hic et nunc und Memento mori!
4. 17. Der ruhige Hafen als Endziel - Individuelles Leben oder Massen-Existenz?
5. Mark Aurel - Der Weg zum Selbst in Zurückgezogenheit
5. 1. Gelebter Stoizismus als Vorbild
5.2. „Alleinsein“ bei Epiktet – Individualität und Selbsterkenntnis

Teil II: Vom frühen Mittelalter bis zur Scholastik

1. „Einsamkeit“ und „Melancholie“ im frühen Mittelalter. Anachoreten im frühen Christentum - „anachoresis“ und „monachoi“.
1.1.         Eremitentum und monastisches Leben um 300 – 400 n. Chr. Antonius, (der Ägypter), Evagrius Ponticus und Augustinus: DerWeg zu Gott vollzieht sich in der Einsamkeit
1.2. Antonius, der Ägypter – Einsiedlertum, Wüstenspiritualität und Mystik
1.3. Aurelius Augustinus in „reiner Einsamkeit“ - „Alleingespräche“ aus Cassiciacum - Früchte des Schaffens in der Einsamkeit des Selbstgesprächs
1.4. „Acedia“ seit Evagrius Ponticus, bei Thomas von Aquin und Bonaventura
1.5. Die „Wirkscheu“ des Johannes Cassian
1.6. Thomas von Aquin - Wirkscheu ist Todsünde – Acedia oder „Tristitia“
2. Deutsche Mystik
2.1. Meister Eckhart: Die absolute Freiheit des Gottsuchenden - Der unmittelbare, mystische Weg zu Gott. „Abgeschiedenheit“ und „innerliche Einsamkeit“ neu definiert
2.2. In der Abgeschiedenheit – Das Aufgeben des Selbst, das Ledigwerden, als Voraussetzung der Unio mystica und die Gottesgeburt
2.3. „innerliche Einsamkeit“ – Zum Wesen der Dinge!
2.4. „Unio mystica“ und Buddhismus – Stufen und Wege des Rückzugs aus allgemein philosophischer, christlicher Sicht bzw. aus der Perspektive der Zen-Meditation - Exkurs
2.5. Heinrich Seuses „Weg in die Innerlichkeit“ und die Beschreibung der Mönchskrankheit (Acedia) in der Schrift „Das Leben des Dieners“
2.6. „Das Büchlein der ewigen Weisheit“ - „Wie man innerlich leben soll“, „lautere Abgeschiedenheit“ und Entwerdung (Selbst- bzw. Ich-Auflösung)
2.7. Theresa von Avila - „Der Weg zur Vollkommenheit“ und „Die Seelenburg“.

Teil III: Humanismus

1. Francesco Petrarcas Loblieder auf die Einsamkeit. Der zentrale Stellenwert der „Einsamkeit“ im Werk der Humanisten
1.1. Zur Vita Petrarcas – Von der Vita activa zur Vita contemplativa im mundus aestheticus
1. 2. „De otio et solitudine“ - Von Freiheit (Muße) und Einsamkeit
1.3. „De vita solitaria“: Francesco Petrarcas Hymnus in Prosa auf das Leben in Einsamkeit. Die Begründung der Auffassung von der „schöpferischen Einsamkeit” als elitäre Phänomen-Definition
1.4. „felix solitarius“ contra „miser occupatus“ – besser allein, frei und glücklich als vielbeschäftigt, gestresst und in permanenter Disharmonie – Einsamkeit: die „conditio sine qua non“ einer ethisch fundierten Lebensführung und Existenzbewältigung
1.5. Zur Modernität des Existenzmodells „Leben in der Eigentlichkeit“
1.6. Das schaffende Subjekt … und die Ahnenreihe der Einsamen
1.7. „Secretum“ – Melancholie und Misanthropie
1.8. „Gespräche über die Weltverachtung“: Petrarcas negativer Melancholie-Begriff und Dante
1.9. Melancholie und Selbst-Therapie – Ist die „unheilvolle“ „Seelenkrankheit“ „Weltschmerz“ heilbar?
1.10. Dante weist die Muse Melancholie zurück

Teil IV: Renaissance

Einsamkeit und Melancholie während der Renaissance in Italien - Die „Saturniker“ des Mediceer-Kreises
1. Angelo Poliziano – Der Dichter am Kamin als personifizierte Melancholie und eine Melancholie-Beschreibung im Geist der Zeit.
2. Marsilio Ficino – Therapierte Melancholie. Das Bei-sich-Selbst-Sein der Seele führt zu Außergewöhnlichem in Philosophie und Kunst
2.1. Marsilio Ficino in freiwilliger Zurückgezogenheit in Carreggi - Einsamkeit als „conditio sine qua non“ des künstlerischen Schaffens
2.2. Im Zeichen des Saturn - Marsilio Ficinos Werk, „De vita triplici“, eine Diätetik des saturnischen Menschen. Ficinos astrologisch determinierter, antik physiologischer Melancholie-Begriff.
2.3. Definition der Melancholie und des Melancholikers in „Über die Liebe oder Platons Gastmahl“ - Die Liebe als melancholische Krankheit?
2.4. Krankheit „Melancholie“ - Therapeutikum Musik
3. Pico della Mirandolas Entwurf des Renaissancegenies in „De hominis dignitate“ – Von Einsamkeit und Freiheit
3.1. Die „dunkle Einsamkeit Gottes“
3.2. „Die Freiheit des Menschen“ und der „Geniebegriff der Epoche“ in „Oratio“
3.3. Die ethisch eingeschränkte Freiheit des Genies und das Humanum als Endziel
4. Lorenzo de’ Medicis „melancholische“ Dichtung
4.1. War der Prächtige ein Melancholiker? Vanitas, Wehmut und Schwermut
4.2. Der Typus des „Inamoroso“ als Melancholiker - Liebeslyrik im Sonett
4. 3. Melancholia - Lorenzo de’ Medici rezipiert Walter von der Vogelweide
5. Die Familie der Melancholiker oder die Metamorphose des sinnenden Geistes zur Plastik und zum Gedicht - Exkurs
6. Einsamkeit, Melancholie und künstlerisches Schaffen während der Renaissance in Italien.
6.1. Geniale Werke der Einsamkeit bei Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci - Einsamkeit als die künstlerische Schaffensbedingung schlechthin, als „conditio sine qua non“ des kreativen Subjekts.
6.2. Michelangelo Buonarroti - „Wer kann, wird niemals willig sein.“ – Individuelle Freiheit und künstlerische Selbstbestimmung
6.3. Große Kunst ist gottgewollt
6.4. Der Schaffende ist das Maß aller Dinge - oder die Lust, mit dem Hammer neue Werte zu schaffen
6.5. Weltflucht und Weltverachtung
6.6. Der sinnende Melancholiker „Micha Ange bonarotanus Florentinus sculptor optimus“
6.7. – „La mia allegrezz’ e la maniconia” – “Meine Lust ist die Melancholie!” – Existenzbewältigung im “Amor fati“ oder eine ins Positive transponierte „Melancholie als Mode“?
6.8. Hypochondrie und Misanthropie in burlesker Entladung – bei Michelangelo und Leonardo
6.9. Michelangelos „Sonette“: Kreationen reiner Eitelkeit?
7. Leonardo da Vinci – Ein Einsamer, aber kein Melancholiker. Die Wertschätzung der „vita solitaria e contemplativa“.
7.1. Leonardo und Michelangelo – ein geistesgeschichtlicher Vergleich. Der verbindende Hang zur Einsamkeit … und viele Kontraste!
8. Girolamo Savonarola – Der melancholische Reformator vor der Reformation
8.1. Gott geweihtes Leben in stiller Einkehr und früher Protest aus der Klosterzelle
8. 2. Zeitkritik und Fragen der Moral in „Weltflucht“ und „De ruina mundi“- Vom Verderben der Welt
8.3. Kritik des Christentums sowie des dekadenten Papsttums im poetischen Frühwerk - „De ruina Ecclesiae“ oder „Sang vom Verderben der Kirche“, (1475)
8.4. „Poenitentiam agite“! – Buße , Einkehr, Rückbesinnung, Katharsis
8.5. Savonarolas Humanismus-Kritik und seine Zurückweisung der Astrologie – ist die Philosophie eine Magd der Theologie?
8.6. Sozialreformer Savonarola - „De Simplicitate vitae christianae“ - Von der Schlichtheit im Christenleben.
8.7. Savonarola setzt politische Reformen durch – Über die demokratische Verfassung in Florenz zum Fernziel der Einheit Italiens
8.8. Niccolo Machiavelli und Die Schwermut der Tyrannen
8.9. Einsamkeit, Kontemplation und rhetorischer Auftritt – Savonarola Volkstribun und Redner nach Cicero?
8.10. Einsamkeit und Gesellschaft bei Savonarola
8.11. Christliche Ethik als geistige Basis der Staatsform – Contra Tyrannis
8.12. „Der Tyrann“ trägt „alle Sünden der Welt im Keim in sich“ - Melancholie als Krankheit: Savonarolas Typologie, Definition und Phänomen-Beschreibung des Renaissance-Macht-Menschen und das Primat des Ethos im Leben und im Staat.
8.13. Genies des Bösen – Lorenzo de’ Medici und der Borgia-Clan
8.14. Thomasso Campanellas idealer Gegenentwurf zum Typus des Tyrannen in seiner christlich-kommunistischen Utopie „Città del sole“
8.15. Golgatha - Traurigkeit und Verlassenheit in der Todeszelle und auf dem Scheiterhaufen
8.16. Hybris und Zuflucht zu Gott – „in Schwermut und voll Schmerz“!
8.17. Melancholia - „In te, Domine, speravi“, letzte Einsamkeit und existenzielle Traurigkeit - Hoffnung gegen Melancholie?
8.18. Auch Päpste irren! Schweigepflicht, Exkommunikation, Inquisition, Folter – Reformator Savonarola stirbt den Flammentod in Florenz
8.19. Giordano Bruno und die Flammen der Inquisition – Der Märtyrer-Tod auf dem Scheiterhaufen wiederholt sich … doch
9. Michel de Montaignes Essay „De la solitude“- Das Leben in Abgeschiedenheit zwischen profaner Weltflucht und ästhetischer Verklärung
9.1. Süße Weltflucht in den Turm – Melancholie als Habitus
9.2. War Michel de Montaigne ein Melancholiker?
9.3. Einsamkeit, ein Wert an sich, ist nie Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck.
9.4. „Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der Mensch“ – Einsamkeit und Gesellschaft
9.5. Vanitas - Der Rückzug aus der Gesellschaft ist auch historisch bedingt
10. „The Anatomy of Melancholy“ - Der extensive Melancholie-Begriff bei Democritus junior alias Robert Burton
10.1. „Elisabethanische Krankheit“ oder „maladie englaise“ – Melancholie als Mode!? Von der Pose zur Posse?
10.2. Demokritos aus Abdera – Der lachende Philosoph als Vorbild und Quelle der Inspiration
10.3. „sweet melancholy“ - Burtons Verdienste bei der Umwertung und Neuinterpretation der grundlosen Tieftraurigkeit zur „süßen Melancholie“
10.4. „Göttliche Melancholie“: „Nothing’s so dainty sweet as lovely melancholy“ - Zur positiven Melancholie-Bewertung vor, neben und nach Burton

Teil V: „Einsamkeit“ und Melancholie in der Moderne

1. Jean-Jacques Rousseau – Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit. Die Apotheose der Einsamkeit im Oeuvre des Vordenkers der Französischen Revolution
1.1. Rückzug, „Schwermut“ und „Hypochondrie“
1.2. „Zurück zur Natur“! im „Discours“ - Plädoyer für das einfache Leben und harsche Gesellschaftskritik. Macht die „Sozialisierung“ den an sich guten Menschen schlecht?
1.3. Im Refugium der Eremitage von Montmorency: Kult der Einsamkeit – Landleben, Naturgenuss und geistiges Schaffen
1.4. „Sanssouci“ – Asyl: Ein Einsamer, Friedrich der Große unterstützt einen anderen Einsamen, den verfolgten Wahlverwandten Jean-Jacques Rousseau
1.5. „Les Rêveries du promeneur solitaire“ - Träumereien eines einsamen Spaziergängers
1.6. Einsamkeit ist im Wesen des Künstlers selbst begründet - «Toutes les grandes passions se forment dans la solitude»!
2. Einsamkeit und Gesellschaftskritik im Werk der Französischen Moralisten La Rochefoucauld, Vauvenargues und Chamfort
2.1. Rekreation im Refugium – die bücherlesende Einsamkeit des Herzogs La Rochefoucauld
2.2. Einsamkeit – Katharsis, Chance und Gefahr
2.3. Chamfort - „Vom Geschmack am einsamen Leben und der Würde des Charakters“ - „Man ist in der Einsamkeit glücklicher als in der Welt.“
2.4. Abkehr von der Gesellschaft, melancholische Heimsuchungen, Vereinsamung und Menschenhass
2.5. „Ein Philosoph, ein Dichter, sind fast notwendig Menschenfeinde“ – Chamforts Rechtfertigung von Misanthropie und Melancholie.
3. „Ueber die Einsamkeit“ - Johann Georg Zimmermanns Monumentalwerk aus dem Jahr 1784/85 - Einsamkeit als Lebenselixier – Die Gestimmtheit im deutschen Barock – Inklination zur Melancholie?
3.1. Von den „Betrachtungen über die Einsamkeit“ zur Abhandlung „Von der Einsamkeit“ – Thema mit Variationen
3.2. Die Ursachen von wahrer und falscher Einsamkeit - Müßiggang, Menschenhass, Weltüberdruss und Hypochondrie
3.3. „gesellige Einsamkeit“ - eine „contradictio in adjecto“?
3.4. Aufklärer Immanuel Kant definiert den zur „Melancholie Gestimmte(n)“, „Melancholie“ als „Tiefsinnigkeit“ und die „Grillenkrankheit“ Hypochondrie richtungweisend für die Neuzeit. Exkurs.
4. Arthur Schopenhauers „elitäres“ Verständnis von Einsamkeit - nur wer allein ist, ist wirklich frei!
4.1. Der Ungesellige - „Er ist ein Mann von großen Eigenschaften.“
4.2. Die „Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister“ - Ist der Mensch von Natur aus einsam? Ist „Einsamkeit“ ein Wert an sich?
4.3. Das Sein in der Einsamkeit als existenzielles Problem - Einübung in die zurückgezogene Lebensführung.
5. Lenau, Dichter der Melancholie. „Einsamkeit“ und Schwermut (Melancholie) im Werk von Nikolaus Lenau – Anthropologische Phänomenbeschreibung und literarisches Motiv
5.1 Lenaus Verhältnis zur Philosophie. Entwicklung und Ansätze
5.2. „Einsamkeit“ und „Vereinsamung“ als existenzielle Erfahrung
5.3. Nikolaus Niembsch von Strehlenau, genannt „Lenau“ vereinsamt in Wien
5.4. Das „melancholische Sumpfgeflügel der Welt“ - Vereinsamt in Heidelberg und Weinsberg. Therapeutikum Philosophie: Lenau setzt der „Seelenverstimmung“ die „Schriften Spinozas“ entgegen!
5.5. Amerika – Lenaus Ausbruch in die Welt der Freiheit
5.6. Schwermut und Hypochondrie – Therapeutikum: Philosophie und Sarkasmus
5.7. „Einsam bin ich hier, ganz einsam. Aber ich vermisse in meiner Einsamkeit nur dich.“
5.8. „wahre Menschenscheu“ - „Die Geselligkeit“ „ist ein Laster“ - „Mein Leben ist hier Einsamkeit und etwas Lyrik.“
5.9. Die „äußere Einsamkeit“– Vom „Locus amoenus“ zum „Locus terribilis“
5.10. Situation und Grenzsituation – präexistenzphilosophisches Gedankengut bei Lenau auf dem Weg zu Karl Jaspers. Exkurs.
5.11. „Einsamkeit“ als ontische Dimension - Menschliches Dasein ist nicht Gesellig-Sein – Mensch-Sein bedeutet ein Sein in Einsamkeit.
5.12. „Einsame Klagen sinds, weiß keine von der andern“ - Monologische Existenz in dem existenzphilosophischen Gedicht „Täuschung“
5.13. In „dunklen Monologen“ - „Jedes Geschöpf lebt sein Privatleben“ - Mitsein in existenzieller Gemeinschaft erscheint unmöglich
5.14. „O Einsamkeit! Wie trink ich gerne / Aus deiner frischen Waldzisterne!“ Dionysisch „zelebrierte Einsamkeit“ im Spätwerk
5.15. „Der einsame Trinker“ - Das dionysische Erleben der Einsamkeit im Fest
5.16. „Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus“ - Der „Unbehauste“, ein „Fremdling ohne Ziel und Vaterland“
5.17. „Nun ist’s aus, wir müssen wandern!“ - In-der-Welt-Sein ist Einsamkeit
5.18. Lenaus melancholische Faust-Konzeption - „metaphysische Vereinsamung“.
5.18.1. Der „Unverstandene“, das ist der „Einsame“.
5.18.2. Endlichkeit und Ewigkeit
5. 18. 3. Die Geworfenheit des existenziellen Realisten „Görg“
5. 18. 4. Das Unbewusste als Antrieb - Die tragisch konzipierte Faust-Figur in Disharmonie mit dem Selbst und in der Uneigentlichkeit
5.18.5. Gott ist tot - existenzielle Exponiertheit des metaphysisch Vereinsamten vor Nietzsche und Rilke
5.19. Im dunklen Auge – ein „sehr ernster, melancholischer Knabe“, „hochgradig zur Melancholie disponiert“  und hinab gestoßen in die „Hohlwege der Melancholie“: „Mein Kern ist schwarz, er ist Verzweiflung.“ – Melancholie-Symptomatik und Definitionen der Krankheit bei Lenau
5.20. „Lieblos und ohne Gott! Der Weg ist schaurig“ – „Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.“ „Melancholie“ und „absolute Vereinsamung“ in Lenaus Doppelsonett „Einsamkeit“
5.21. Der Werte-Kampf in Lenaus Ballade „Die nächtliche Fahrt“ - Von darwinistischer Selektion über den „Kampf um das Dasein“ nach existenzphilosophischen Kategorien zur Ethik des Widerstands im Politischen - Exkurs
5.21.1. Wettkampf und Werte-Kampf
5.21.2. Lenaus Imperialismus-Kritik in seinem „anderen“ Polenlied
5.21.3. Ethik des Widerstands - Der Existenz-Kampf der Individuen entspricht dem Souveränitätsstreben der - tyrannisierten - Völker
6. Friedrich Nietzsche, der einsamste unter den Einsamen? Absolute Einsamkeit, extreme Vereinsamung und schwärzeste Melancholie
6.1. Wesensgemäße Daseinsform und  Schaffensbedingung der Werke der Einsamkeit.
6.2. „Also sprach Zarathustra“ - Nietzsches großer „Dithyrambus auf die Einsamkeit“
6.3. Strukturen der „Einsamkeit“ in „Also sprach Zarathustra“
6.4. „Fliehe, Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit!“ - „Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt.“
6.5. Die Auserwählten – Nietzsches kommende Elite: Der „Einsame“ als Brücke zum Übermenschen
6.6. Der Einsame – das ist der Schaffende! „Trachte ich nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke!“
6.7. Nietzsches „Nachtlied“ - das einsamste Lied, welches je gedichtet wurde!
6.8. „Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!“
6.9. „Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein’“ – Zum Gegensatz von individuellem Leben in Einsamkeit und gesellschaftlichem Massen-Dasein.
6.10. „Einsam die Straße ziehn gehört zum Wesen des Philosophen.“ Fragmentarische Aussagen zur „Einsamkeit“
6.11. Therapeutikum Einsamkeit – schlimme und gefährliche Heilkunst! „In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“
6.12. Die „siebente letzte Einsamkeit“ - Nietzsches „Dionysos-Dithyramben“
6.13. „Vereinsamt“ – Düstere Melancholie und metaphysische Verzweiflung
7. „Einsamkeit“ bei Jaspers und Heidegger - Exkurs
8. Der „Neue Mensch“ – eine Konsequenz der Einsamkeit? „selbstestes Selbst“ und Apologie des Selbst bei Lenau und Nietzsche - Exkurs
8.1. Die Suche nach dem „Humanum“ – Absage an den Irrweg „Übermensch“
8.2. Lenaus „Homo-Novus-Konzeption“ nach Amalrich von Bene
8.3. „Idemität“ und „Konkreativität“ – Der „menschliche Mensch“! Zur Strukturanthropologie Heinrich Rombachs. Exkurs

Teil VI: Essays zur Thematik und kleine Beiträge

9. Stufen der Einsamkeit – Auf dem Weg vom Alleinsein in die Vereinsamung, Melancholie und Verzweiflung – Zur Metamorphose eines anthropologischen Phänomens
9.1. Von der existenziellen Situation „Einsamkeit“ zum Krankheitsbild „Melancholie“ in der Erscheinungsform „Acedia“ und Hypochondrie
9.2. Melancholie als Charakteristikum des genialen Menschen.
9.3. Die Phänomene „Einsamkeit“, „Alleinsein“, „Vereinsamung“ und „Melancholie“ („Schwermut“, „Depression“) – im Wandel der Zeiten: Anthropologische Konstanten und Grundbefindlichkeiten des Daseins oder zeitbedingte Entwicklungsphänomene? Zur Begriffsbestimmung.
9.4. Strukturen der Einsamkeit - Zum Bedeutungswandel der Begriffe Einsamkeit und Melancholie durch die Zeiten
9.5. Existenzbewältigung: Angewandte Philosophie in philosophischer Praxis – Zur Konzeption und Intention der Studien zur Einsamkeit.
9.6. Zur Einsamkeit verflucht? – Alleinsein zwischen gesellschaftlicher Pest und segensreicher Schaffensbedingung –Selbsterfahrungen und Autobiographisches
9.7. Das Existenzmodell „Alleinsein“ zwischen Weltflucht und verklärender Utopie: Abgeschiedenheit, Einkehr, Selbstfindung, Eigentlichkeit - Selbst erfahrene und selbst beobachtete Phänomene – Einsamkeit, ein Zeitproblem?
9.8. Ein Einsamer von heute – In memoriam Theo Meyer


Nachwort:
Inhalt:
Namenregister:
Bibliographie
Primärliteratur
Anthologien, Aufsatz-Sammelwerke zur Thematik:
Sekundärliteratur:
Bilder-Verzeichnis:
Bücher von Carl Gibson


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