Gesamt-Kapitel, mit Fußnoten :
Teil V: „Einsamkeit“ und Melancholie in der Moderne.
Jean-Jacques Rousseau – Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit. Die Apotheose der Einsamkeit im Oeuvre des Vordenkers der Französischen Revolution.
„Die „wirkliche“ Erfahrung der Einsamkeit ist denkbar unliterarisch – und tausend Meilen von der literarischen Vorstellung entfernt, die man sich von der Einsamkeit macht.“
Albert Camus, Tagebücher 1935-1951.
Jean-Jacques Rousseau, 1712 in Genf geboren, gehört zu den wirkungsreichsten Schriftstellern und Denkern überhaupt. Er ist der Vordenker der Französischen Revolution, der Erneuerer der Erziehung, der Anwalt des kleinen Mannes, der Apologet des naturgemäßen Lebens und neuen Naturgefühls – und schließlich ist er ein Denker, der wie kaum ein anderer die Apotheose der Einsamkeit betreibt und auch dieser Gestimmtheit zu einer einmaligen Breitenwirkung und Resonanz verhilft. Das Empfinden der Einsamkeit bei zahlreichen Dichtern der englischen, französischen und deutschen Romantik, Goethe mit einbezogen, ist von Rousseaus Erleben und Verständnis der Einsamkeit mit beeinflusst.
1.1. Rückzug, „Schwermut“ und „Hypochondrie“.
Im 25. Lebensjahr kam es in Rousseaus Leben zu einem einschneidenden Ereignis. Während eines chemischen Experiments mit Arsen, soll es - nach Rousseaus eigenen Aussagen - zu einer heftigen Explosion gekommen sein. Der Unfall mit Folgeverletzungen sollte den künftigen Lebensablauf einschneidend verändern. Der Literat litt ab diesem Zeitpunkt regelmäßig an Herzklopfen, Ohrensausen, an diversen psychosomatischen Wechselwirkungen und Beeinträchtigungen, die in Anwandlungen von Melancholie und schwere Depressionen mündeten. Der seelisch wie körperlich gebrandmarkte Rousseau zog sich zurück und verbrachte - mehr leidend als glücklich - viel von seiner Zeit in freiwilliger Selbstisolation. Rückblickend notiert er später im Leben: „Ich blieb mehr daheim, und hier erfasste mich nicht die Langeweile, sondern die Schwermut; die Hypochondrie folgte auf die Leidenschaften; ich weinte und seufzte über die nichtigsten Dinge, ich fühlte das Leben hinschwinden, ohne es genossen zu haben.“[1]
Rousseaus Melancholie-Erlebnis ist hier – bei Gleichsetzung der Begriffe „Schwermut“ und „Hypochondrie“ – treffend beschrieben. Den aufwallenden „Leidenschaften“, also der manischen Phase, folgt die Niedergeschlagenheit, die „Depression“, faktisch aus dem Nichts, hier ausgelöst durch „die nichtigsten Dinge“. Andere Melancholiker nach Rousseau werden das gleiche Phänomen nahezu identisch erleben und es ähnlich dokumentieren.
1.2. „Zurück zur Natur“! im „Discours“ - Plädoyer für das einfache Leben und harsche Gesellschaftskritik. Macht die „Sozialisierung“ den an sich guten Menschen schlecht?
„Scriptorum chorus omnis amat nemus, et fugit urbes.“
Horaz, (Lib. ll. Ep. II)
Nach einigen aktiven Jahren in Paris, wo alle Misanthropie und Melancholie zunächst verflogen schien, verfasste Rousseau im Jahr 1755 seinen berühmten „Discours“, in welchem er vehement - und weitaus radikaler als seinerzeit Epikur - für ein einfaches und selbstbestimmtes Leben eintritt, für ein radikales „Zurück zur Natur“!
Das einfache Leben „des freundlichen und sanften Wilden“, der im seelischen Einklang, in Harmonie mit seinem natürlichen Umfeld lebt, wird in dem Werk idealisiert, ja verherrlicht, während die als unnatürlich empfundene Existenz des Einzelnen in der zivilisierten Gesellschaft des Abendlandes diskrepant, ungerecht und lebensfeindlich erscheint und somit verteufelt wird. Eines der Exemplare seines „Discours“ schickte Rousseau an Voltaire, in der Hoffnung, sein großer Antipode im Geistigen werde die Schrift positiv aufnehmen, rezensieren, seine Thesen stützen. Weit gefehlt! Voltaire, die ausgewiesene Geistesgröße der Zeit par excellence, verspürte keine Lust, andere Götter neben sich zu dulden und ließ den Enthusiasten aus Genf galant abblitzen, ja er gab die Schrift des philosophischen Rivalen sogar der Lächerlichkeit preis, indem er in seiner sarkastischen Briefantwort die Thesen des Autors auch noch verhöhnte. In der scharfen Replik spottet der Zyniker Voltaire hämisch: „Ich habe, mein Herr, Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten und danke Ihnen dafür. Sie werden bei den Menschen, denen Sie die Wahrheiten über die Menschen sagen, Gefallen finden, aber Sie werden sie nicht bessern.“
Dann folgt der bitterböse polemische Zusatz: „Nie hat man soviel Geist darauf verwendet, uns wieder zu Eseln zu machen. Man bekommt Lust, auf vier Füßen zu gehen, wenn man ihr Werk ließt.“[2]
In seiner Auseinandersetzung mit der Naturrecht-Debatte der Zeit, strebt Rousseau, im „Discours“ bestimmt mehr begeisterungsfähiger Schriftsteller als exakter Wissenschaftler, trotzdem keine Idealisierung des Urzustandes der Menschheit an. Ihm kommt es vielmehr darauf an, auf das inadäquate Sein und auf die Unfreiheit des gesellschaftlich eingebunden Menschen und Staatsbürgers in der modernen Gesellschaft des aufgeklärten Jahrhunderts aufmerksam zu machen - in deutlicher Absetzung speziell von John Lockes Schrift „Two Treatises of Government“ (1689); (Zwei Abhandlungen über die Regierung), in welcher, jedoch nicht repräsentativ für die Neuzeit, der gute Mensch des Goldenen Zeitalters in intakter Gesellschaftsform beschrieben wird. Für den gesellschaftskritischen Rousseau des „Discours“ hingegen gilt unmissverständlich: Die Gesellschaft tötet die Individualität des Einzelnen ab, sie zerstört seine Positivität, das Gute in ihm. Die Sozialisierung, der Eintritt des Menschen in die politisch geordnete Gesellschaft, verändert den Menschen in seiner Wesenheit, in seinem naturbestimmten Sein; sie macht ihn böse und schlecht.[3]
Die gleiche Skepsis, mit der gesellschaftliche Kritik geübt wird, setzt Rousseau gegen die Intellektuellen ein. Vor allem bemängelt er deren, in der Realität nicht überprüfte Bücherweisheiten und stellt - mit der Kritik an der eigenen Gelehrten-Kaste - sich letztendlich selbst in Frage. Eine Konsequenz dieser gesellschaftskritischen Haltung, die er Zeit seines Lebens nie mehr aufgeben wird, ist der Rückzug aus der Öffentlichkeit, verbunden mit einer gezielten Flucht in die Einsamkeit.
1.3. Im Refugium der Eremitage von Montmorency: Kult der Einsamkeit – Landleben, Naturgenuss und geistiges Schaffen.
Nicht viel anders als Petrarca einige Jahrhunderte vor ihm in der lichten Provence oder Montaigne, zieht sich nunmehr auch Jean-Jacques Rousseau, früh und des Treibens müde aus den Salons der Großstadt zurück. Er kehrt Paris den Rücken und führt bald ein selbstgewähltes, naturverbundenes und schlichtes Leben in der Einsamkeit seines neuen Refugiums in Montmorency. Das neue Domizil führt den bezeichnenden Namen Eremitage.
Für Rousseau war das Leben in Abgeschiedenheit immer schon ein wesensgemäßer Zustand, ein Drang, dem er sich nicht entziehen konnte. Rückblickend stellt er fest: „Seit ich mich gegen meinen Willen in die Welt gestürzt hatte, sehnte ich mich stets nach Les Charmettes und dem Leben zurück, das ich dort geführt hatte. Ich fühlte mich für das Land und die Zurückgezogenheit geboren, es war mir unmöglich, anderswo glücklich zu sein. In Paris, im Strudel der vornehmen Gesellschaft, bei den Schwelgereien der Soupers, im Glanz der Schauspiele, im Dunst der Berühmtheit – immer sehnte ich mich nach meinen Büschen, meinen Bächen, meinen einsamen Wanderungen.“
Der Enthusiasmus erlebter, genossener Einsamkeit, verbunden mit einem ebenso begeisterten Naturerleben wird geradezu zum Kult erhoben und entsprechend zelebriert: „Welche Zeit habe ich mir am häufigsten und am liebsten in meinen Träumen zurückgerufen? Nicht die Freuden meiner Jugend waren es. Sie waren zu selten, zu sehr mit Bitterkeit vermengt. Es waren die Zeiten meiner Zurückgezogenheit, meine einsamen Spaziergänge, jene herrlichen Tage, an denen ich allein war mit meiner guten Haushälterin, mit meinem lieben Hund, einer alten Katze, den Vögeln des Feldes und den Tieren des Waldes, mit der ganzen Natur und ihrem unbegreiflichen Schöpfer. Vor Tagesanbruch erhob ich mich, um den Sonnenaufgang in meinem Garten zu betrachten, und wenn ich sah, dass es ein schöner Tag werden würde, war mein erster Wunsch, es möchten weder Briefe noch Besuche kommen, um mein Entzücken zu stören. Vor ein Uhr ging ich so schnell wie möglich fort, damit nur keiner käme, der mich in Anspruch nehmen könnte. Ich suchte im Walde irgendeinen wilden Fleck, ein verlassenes Plätzchen, wo keine Spur von Menschenhand zu entdecken war, wo kein Störenfried sich zwischen mich und die Natur drängen konnte.“[4] Senecas Befürchtung, jemand könne kommen und ihm die für das geistige Schaffen reservierte Zeit stehlen, Petrarcas Flucht aus den Mauern von Avignon hinaus aufs Land nach Fontaines-de-Vaucluse oder Michel de Montaignes Rückzug in den Turm vor der eigenen Schlosstür sind hier wieder präsent – und die große Familie der Einsamen und Melancholiker.
Hinter der Einsamkeit, die Rousseau naturnah und naturverbunden in der Provinz erlebt, steht die Sehnsucht des Pantheisten nach natürlicher und kosmischer Geborgenheit. In der Natur fühlt er sich allein, auf sich selbst gestellt - gleichzeitig ist er mit ihr und ihrem Schöpfer identisch. Die gesamte Natur, das Reich der Pflanzen und der Tiere, erscheint ihm beseelt und von Harmonie erfüllt. Selbst seine Lebenspartnerin, die er abschwächend Haushälterin nennt, um möglicherweise jede Form von emotionalen Anhängigkeiten auszuschließen, zählt nicht als Person oder souveränes Individuum. Sie ist vielmehr ein Akzidenz der Natur, eine willkommene, angenehme Begleitung, nicht viel mehr als der Hund und die Katze.
Wie bei anderen Melancholikern aus unterschiedlichen Epochen auch, erscheint Rousseau die Einsamkeit als der eigentliche Seins-Zustand, als sein Phänomen schlechthin. Er lebt in einer - seiner künstlerischen Sensibilität entsprechenden - Gestimmtheit, die jederzeit von außen zerstört werden könnte: durch einen Brief mit schlechten Nachrichten, durch einen unwillkommenen Gast, der ihn der kostbaren, nur für das geistige Schaffen reservierte Zeit beraubt oder durch andere exogene Ereignisse. Der enthusiastisch-euphorischen Phase der Gestimmtheit, dem Manischen, kann dann aber ebenso dramatisch ein Abdriften in tiefe Depression folgen, ein Versinken in exzessive Traurigkeit und Melancholie. Zur Melancholie disponierte Charaktere wie Rousseau kennen diese Bedrohung und fürchten sie. Nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht wissen können, ob sie noch einmal heil aus der Krise herausfinden.
Rousseaus Einsamkeit-Auffassung wurzelt im hellenistischen Denken. Mit Epikur, dem hedonistischen Gartenphilosophen, teilt er die kontemplative, naturnahe Existenz fern vom Trubel und der Seichtheit der Massen, das Zurückgezogensein im wilden Garten, der nur gewachsene Natur ist und noch kein gestalteter Park. Mit den Stoikern teilt der Franzose aus der Schweiz die pantheistische, von ordnender Vernunft durchströmte Welt- und Naturauffassung und Gott als Schöpfer des Universums. Mit beiden Geistesrichtungen aber verbindet ihn der kreative denkerische und künstlerische Prozess - das Schaffen aus der Einsamkeit heraus. Hingegen ist Rousseaus Misanthropie, die man später vor allem bei Schopenhauer wiederfindet, eine Haltung, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, den alten Griechen weitestgehend fremd war. Ein weiterer fundamentaler Unterschied ist das Verhältnis zur Gesellschaft. Während Epikureer und Stoiker noch an den Sinn der Gesellschaft glaubten und deshalb an den - in Einsamkeit - Philosophierenden appellierten, sich konstruktiv und verantwortungsvoll einzubringen, stellt die Gesellschaft für den Skeptiker Rousseau den negativen Gegenpol zur positiv gewerteten Einsamkeit dar. Die Gesellschaft legt – nach dem Diktum Rousseaus, die frei geborenen Menschen in moderner Gesellschaft wieder in Ketten, sie gängelt den Alltag der Bürger, bestimmt ihr Leben, macht sie unfrei – zersetzt alle Werte, wirft sie zurück und fördert dadurch die Melancholie. Den Beweis für diese radikal-kulturpessimistische These finden Rousseau und andere Literaten auch in den oft tragischen Abläufen der Menschheitsgeschichte.
Selbst in späteren Jahren bleibt die Einsamkeit, die „tiefe und köstliche Einsamkeit“, im Leben Rousseaus eine konstante Größe. Die Tendenz zum Lamento und zur Hypochondrie - im eigentlichen Sinne des Wortes - nimmt jedoch kontinuierlich zu. „Und ich, der unbekannte, arme und von einem unheilbaren Übel geplagte Mensch, denke in meiner Einsamkeit mit Vergnügen nach und finde, dass alles gut ist.“[5] Irgendwann reicht der Selbstgenuss der Einsamkeit nicht mehr aus: „In der Einsamkeit fühlt man besonders den Vorteil, mit jemand zu leben, der zu denken versteht.“[6] Also doch: Bei aller exzessiven Berufung auf die Einsamkeit, braucht Rousseau nicht nur seine pantheistische Gottheit, um zu überleben, sondern auch noch einen denkenden, ihn und seine Gedanken verstehenden, mitfühlenden Menschen aus Fleisch und Blut an der Seite.
1.4. „Sanssouci“ – Asyl: Ein Einsamer, Friedrich der Große unterstützt einen anderen Einsamen, den verfolgten Wahlverwandten Jean-Jacques Rousseau.
Die Früchte des Lebens in der Einsamkeit sind seine großen Werke „Emile“ und „Contrat social“ (1762), jenes Opus mit dem berühmten Satz: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“
Weite Passagen aus „Emile“ wurden sowohl in Paris wie auch in Rousseaus Heimatstadt Genf als Generalangriff auf das Christentum angesehen. Die Folgen davon waren ausgeprägte Stigmatisierung, öffentliche Bücherverbrennung, Haftbefehl und jahrelange Verfolgung sowohl in Frankreich, aber auch in der liberaleren Schweiz. Rousseau, auf der Flucht wie in früheren Jahrhunderten seine freigeistigen Gefährten in Einsamkeit Pico della Mirandola oder Giordano Bruno, brauchte Hilfe.
Ja, er fand diese Hilfe, garniert mit viel Empathie, bei einem anderen Einsamen, bei dem hochgestellten Philanthropen Friedrich der Zweite, König von Preußen, den Rousseau früher noch als Tyrannen beschimpft hatte. Friedrich der Große, jahrelang Mäzen und Gastgeber Voltaires, wies seinen Verwalter in der preußischen Exklave Neuenburg, im Herzen der Schweiz gelegen an, dem Asylgesuch Rousseaus zu entsprechen, den Flüchtling aufzunehmen und diesen tatkräftig zu unterstützen.
Preußenkönig Friedrich, von Gottes Gnaden absoluter Monarch und toleranter Freigeist zugleich, bewunderte Rousseau als einen Wahlverwandten, als den Einsamen schlechthin, der, anders als der höchst gesellige Voltaire, großartige Werke aus der Einsamkeit heraus schuf. Sein mutiges Mäzenatentum rechtfertigend, schreibt der Eremit von Sanssouci an Keith: „Wir müssen diesem armen Unglücklichen helfen. Sein einziges Vergehen ist es, wunderliche Meinungen zu haben, von denen er glaubt, dass sie richtig seien. (...) Wenn wir nicht im Kriege und bankrott wären, würde ich ihm eine Einsiedelei in meinem Garten einrichten, wo er leben könnte, wie nach seiner Meinung unsere Vorfahren gelebt haben.(...) Ich meine, Ihr Rousseau hat seinen Beruf verfehlt. Er sollte offenbar ein berühmter Anachoret, ein Einsiedler in der Wüste, werden, berühmt für seine Sittenstrenge und Selbstkasteiung. (...) Also schließe ich, dass die Sittlichkeit Ihres Wilden ebenso rein ist wie sein Geist unlogisch.“[7]
Die gönnerhaften Zeilen, möglicherweise auf einem der Schlachtfelder des Siebenjährigen Krieges verfasst, könnten von Voltaire selbst stammen. Der Philosoph und Schriftsteller von Weltrang, Rousseau, erscheint in der humorvollen Darstellung des selbstherrlichen, kriegslüsternen, doch sehr realitätsbezogenen Machtmenschen Friedrich II. als eine Art „krankes Genie“, als ein liebenswerter Kauz und als weltfremder Phantast, der nur nach einem ruhigen Hafen Ausschau hält, nach einem stillen Ort der Geborgenheit, von welchem aus er weiter schreiben und wirken kann. Dass Friedrich der Große, der Rousseau viel näher stand. als er es je zugegeben hätte, sich mit der Residenz in Potsdam nichts anderes schuf als eine „Eremitage“ im großen Stil – das sagt der absolute Monarch nicht. „Sanssouci“ war – nicht anders als die Märchenschlösser des bayerischen Königs und Extrem-Melancholikers Ludwig II. auch – in der Tat das Refugium eines Einsamen und zeitweiligen Misanthropen, dem das Wohl seiner Hunde wichtiger war als das Los seiner Untertanen.
1.5. „Les Rêveries du promeneur solitaire“[8] - Träumereien eines einsamen Spaziergängers.
In der letzten Phase seines unruhigen Wanderlebens, das ihn, einer Einladung Humes folgend, bis nach England führen wird, zieht sich Rousseau auf die Insel St. Peter im Bieler See zurück. Dort widmet er sich seinem Alterswerk, genauer der Ausarbeitung der autobiographischen „Confessions“, also einer selbstkritischen Lebensbeschreibung, in welcher er, mutig und unverblümt, viel mehr Intimes und Tabuverdächtiges preisgibt, als Leser und Gesellschaft erfahren wollen.
Ferner schreibt der Einsame auf der Insel im See an dem unvollendet gebliebenen Werk Les Rêveries du promeneur solitaire - Träumereien eines einsamen Spaziergängers, das erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte.
Diese Träumereien, die zwischen 1776 und 1778 während der zahlreichen Waldspaziergänge entstehen, sollen keine systematische Abhandlung ergeben. Sondern sie sind, wie die späteren Herausgeber betonen werden, eine Art Appendix zu den „Confessions“, Fragmente, spontan niedergeschriebene, stilistisch weniger anspruchsvolle Gedanken, Aphorismen, kurze Essays, in deren Mittelpunkt das Motiv Einsamkeit steht – wie so oft bei Rousseau als großes Thema[9] mit Variationen ... Allein auf der Welt, ohne Bruder, ohne Freund, verlassen von allen, allein, fremd, isoliert...diffamiert. Eine Fundgrube melancholischer Begriffe im literarischen Lamento …
Pathetische Stilisierungen dieser Art sind die Regel beim späten, gesundheitlich angeschlagenen und zeitweise paranoiden Rousseau. Einsam ist bei Rousseau ein häufig anzutreffendes Schlüsselwort und die Einsamkeit, eine Grundgestimmtheit, die praktisch das gesamte Werk durchzieht, ist, in allen möglichen Nuancen und Spiegelungen ein Hauptmotiv Rousseaus. Manche Forscher erkennen darin das Motiv schlechthin.[10]
Auch im Spätwerk sind es die früher schon artikulierten Meditationen und Reflexionen eines auf sich selbst gestellten Individuums, das über sein Verhältnis zur Welt, zu Gott und der Natur, nachsinnt.[11] Das Bei-sich-selbst-Sein des Mark Aurel, das über Montaigne zu Rousseau führt und bei Heidegger die wesenhafte Existenz, das Leben in der Eigentlichkeit darstellt, klingt hier wieder an. Tief ist es gefühlt: Rousseau, dessen Weltanschauung durch das tiefgründige Erleben der Einsamkeit bestimmt wird, bleibt - wie die lange Reihe seiner Vorgänger von Seneca über Petrarca und Montaigne - im Grunde ein Stoiker und Epikureer. In seinem Zurück zur Natur preist er das unmittelbare Leben in der Abgeschiedenheit. Nur dort lebt der Mensch in Einklang mit dem Selbst.
Das Leben in der Gesellschaft hingegen führt zur Selbstentfremdung und Selbstverleugnung. Dieses in vielen Nuancen wiederkehrende Grundgefühl bleibt während seines gesamten Lebens konstant. Gesellschaftsbestimmtes Dasein ist ein Sein in der Uneigentlichkeit – Wie betont: Der von Geburt aus gute Mensch wird erst durch die Einwirkungen der Gesellschaft böse.
1.6. Einsamkeit ist im Wesen des Künstlers selbst begründet - «Toutes les grandes passions se forment dans la solitude»!
Rousseau verklärt somit die Einsamkeit und er verbindet sie auch mit dem schöpferischen Schaffen. Hier klingt bereits die in der Romantik weit verbreitete Vorstellung an, die Einsamkeit sei im Wesen des Künstlertums selbst begründet. Viele geniale Naturen der letzten Jahrhunderte, Maler wie Caspar David Friedrich bis hin zu dem oft melancholisch gestimmten, vereinsamten Vincent van Gogh, Komponisten wie Franz Schubert und Robert Schumann, Philosophen wie Baruch Spinoza, unzählige Dichter, aber auch Staatsmänner von dem krankhaften Nero über Lorenzo de’ Medici bis hin zu den zu Tiefsinn neigenden Abraham Lincoln[12] und König Ludwig II. sehen in Einsamkeit und Melancholie ihr Wesenselement.
Trotzdem erweitert er den Einsamkeit-Begriff nicht signifikant. Doch er setzt die melancholische Grundstimmung durch und wirkt - ganz wie Montaigne - vielmehr durch seine existenzielle Haltung, die überzeugt. Selbst ganz Große unter den Dichtern und Denkern der europäischen Geistesgeschichte wie Kant und Schopenhauer, Goethe und Byron, Stendhal, Flaubert, Guy de Maupassant oder Tolstoi stehen direkt oder indirekt unter Rousseaus Einfluss. Und auch die illustren Köpfe des französischen Existenzialismus, Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die der Einsamkeit quasi eine ontische Dimension verleihen, besinnen sich auf Rousseau.
[2] Zitiert nach: Durant Will und Ariel: Kulturgeschichte der Menschheit, Das Zeitalter Voltaires, Band 14, München 1965. S. 46.
[3] Im „Contrat social“ wird der Vordenker der Französischen Revolution diese radikal-anarchischen Positionen wieder etwas entschärfen und zurücknehmen.
[6]Ebenda, S. 87.
[7] Zitiert nach: Durant Will und Ariel: Kulturgeschichte der Menschheit, Das Zeitalter Voltaires, Band 14, München 1965. S. 225.
[8] Rousseau, Jean-Jacques: Les Reveries du promeneur solitaire, avec une introduction de Marc Eigeldinger et une notice de Fréderic-S. Eigeldinger, Genève 1978.
[9] „Me voici donc seul sur la terre, n’ayant plus de frère, de prochain, d’ami, de société que moi-meme. », « Etranger, sans parents, sans appui, seul, abandonné de tous, trahi du plus grand nombre. » Oder: « Seul, etranger, isolé, sans appui, sans famille, ne tenant qu’à mes principes et à mes devoirs. » « Etranger infortuné, seul (…) sans défenseur sur la terre, outragé, moqué, diffamé, trahi de toute une génération. »
[10] Ebenda.
[11] „Ces heures de solitude et de méditation sont les seules de la journée où je sois pleinement à moi, sans diversion, sans obstacle, et où je puisse véritablement dire être ce que la nature a voulu.»
[12] In Nordamerika schaut man bei der wissenschaftlichen Problematisierung von „Melancholie“ und „Einsamkeit“, vor allem im psychologischen Bereich, nicht primär auf europäische Koryphäen, sondern auf eigene „Gestalten der Schwermut“ wie US-Präsident Abraham Lincoln. Vgl. dazu: Ronald G. Comer: Klinische Psychologie. Zweite deutsche Auflage herausgegeben von Gudrun Sartory. Heidelberg Berlin 2001. S. 174.
[13] J. J. Rousseau, La nouvelle Heloise, in: Oeuvres, Paris 1959ff. Bd. 2. S. 105.
Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
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Carl Gibson
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Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
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Philosophie und Dichtung
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Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet – richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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