Dienstag, 5. Januar 2021

Friedrich Nietzsche, der Einsamste unter den Einsamen? Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche

 Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.




6. Friedrich Nietzsche, der Einsamste unter den Einsamen

Absolute Einsamkeit, extreme Vereinsamung und schwärzeste Melancholie[1]


„Nietzsche mit seinem äußerst eintönigen äußeren Leben ist der Beweis dafür, dass das in der Einsamkeit entwickelte Denken an sich ein gewaltiges Abenteuer ist.“
Albert Camus,, Tagebücher, 1935- 1951.

„Ich bin ruhig, aber von schwärzester Melancholie.“
Nietzsche, Brief an Peter Gast.

„Ich selber bin sehr arbeitsam;
wenn ich aus meiner Arbeit zu mir komme, bin ich aber die Beute der Melancholie – das ist nicht zu ändern.
 Ich sehe und weiß, wie groß meine Vereinsamung ist.“

Nietzsches Brief an die Schwester,1883.

Unter allen Dichtern und Denkern der Neuzeit ist Nietzsche mit Sicherheit derjenige, der das Phänomen „Einsamkeit“ am tiefsten verinnerlicht hat.

6.1. Wesensgemäße Daseinsform und  Schaffensbedingung der Werke der Einsamkeit.


„Einsamkeit“, in den vielen Facetten, graduellen Abstufungen und Erscheinungsformen, beginnend mit dem faktischen Alleinsein, das einen dauerhaften Existenzzustand Nietzsches darstellt, über Vereinsamung, schwärzeste Melancholie bis hinein in die Abgründe menschlicher Verzweiflung, ist sie die ihm wesensgemäße Daseinsform und die Schaffensbedingung überhaupt. Weite Teile der Werke Nietzsches sind Werke der Einsamkeit.
Wie kaum ein anderer vor ihm, kennt der belesene Altphilologe Nietzsche die Entwicklungsgeschichte dieses Phänomens aus erster Hand. Sehr präzise exemplifiziert er die Problematik bereits an Heraklit, also an einem hervorstechenden Charakter vorsokratischen Denkens, der in seinem distanzierten Auftreten zur Gesellschaft bestimmt nicht weniger einsam war als seine Zeitgenossen Empedokles, Demokrit oder zwei Jahrhunderte später Diogenes von Sinope, der Radikalphilosoph aus der Tonne. 
Friedrich Nietzsche kennt die Trostschriften Senecas bereits seit seiner Schülerzeit in Pforta. Später studiert er die Petrarcas Abhandlungen über das einsame Leben, liest den Essay des geschätzten Montaigne über die Einsamkeit und widmet sich deren Thematisierung aus der Sicht des verehrten Vorbilds Schopenhauer bis ins letzte Detail. Zudem ist Nietzsche, wie aus zahlreichen indirekten Zarathustra-Zitaten zu erkennen, gut mit dem mystischen Erleben der Einsamkeit vertraut. Ferner rezipiert er als Dichter die Motiv-Gestaltung in der Empfindsamkeit und Romantik.
 
Koryphäen der Einsamkeit wie Lenau sind für Nietzsche, der sich über Heine und dessen vehementer Romantikkritik mit dieser literarischen Strömung intensiv auseinandersetzen wird, von großer Wichtigkeit, vor allem für den Lyriker in ihm, weil er das besondere Sujet fast ausschließlich poetisch-lyrisch umsetzen wird - in den „Dionysos-Dithyramben“ oder in „Vereinsamt“ ebenso wie in seinem „Zarathustra“. Trotz seines nachweisbar enormen Detailwissens verfasste Nietzsche keine systematische Abhandlung über die Einsamkeit in abstrakter Prosa. Wenn er über den an sich subjektiven Lyrismus hinausgeht, entscheidet er sich für die fragmentarische Kurzform, für den – schon von Schopenhauer – exemplarisch praktizierten Aphorismus.

6.2. „Also sprach Zarathustra“[2] - Nietzsches großer „Dithyrambus auf die Einsamkeit“


Alle Einzelgedichte, Aphorismen und Sentenzen zur Thematik überragt eben dieser große mythopoetische Entwurf „Also sprach Zarathustra“, jene philosophische Dichtung der Sonderklasse, die Nietzsche selbst „einen Dithyrambus auf die Einsamkeit“[3] genannt hat. 
Dieses teils hochpoetische Lehrgedicht, von seinem Schöpfer in „azurne Einsamkeit“[4] versetzt, enthält, nach Nietzsches Zeugnis, bezeichnenderweise auch „jenes einsamste Lied“, das „je gedichtet worden ist“, das „Nachtlied“[5].
Nietzsche ist bekanntlich kein Systemphilosoph, vielmehr ist er ein Zersetzer der unnatürlichen, statischen Substanz – und des Systemdenkens. Richtungweisend für die Gegenwart setzt bereits Nietzsche auf die - erst in jüngster Zeit voll entwickelte - Struktur. Die „Struktur“ ist, nach Heinrich Rombachs Definition „reich gegliedert, ein Gefüge sehr unterschiedlicher Momente, ständig im Fluß und in Veränderung, durchaus auflösbar und vergänglich“[6]. Nietzsches Denken, das den traditionellen Seins-Begriff ablehnt und das gesamte platonisch-christliche Weltbild bekämpft, geht in diesem Ansatz wesensgemäß auf. Deshalb können auch einzelne Problemstellungen aus Nietzsches Gesamtwerk, etwa die Einsamkeit, nur durch das Offenlegen von Strukturen in genauer Phänomenbeschreibung interpretiert und hermeneutisch vermittelt werden.

6.3. Strukturen der „Einsamkeit“ in „Also sprach Zarathustra“


Der Zarathustra-Leser wird bereits in den introduktiven Sätzen der philosophischen Dichtung mit der Thematik Einsamkeit konfrontiert. Im Alter von dreißig Jahren verließ Zarathustra seine Heimat und ging ins Gebirge. „Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.“ [7] Das Verlassen der Heimat und der Aufbruch ins Gebirge erscheinen hier – wie in Lenaus „Faust“ – als eine strikte Notwendigkeit. Wie bei Buddha und Jesus ist es der Weg der Läuterung und Selbstfindung, der hier beschritten wird. Zarathustra „genoß“ also sein Leben in der Einsamkeit, ganze zehn Jahre lang, bevor er ihr entfloh, um zu lehren, um seine Botschaft zu verkünden. Die Daseinsform Einsamkeit erscheint also – gleichberechtigt neben dem souveränen Geist – als ein Wert an sich, als uneingeschränktes Positivum, nicht als Plage oder Kasteiung wie bei den alten Eremiten, Wüstenheiligen und Mönchen, sondern als Genuss. Zarathustra lebt die Einsamkeit im totalen Aufgehen in ihr – in „Idemität“. Das erkennt selbst der alte Heilige, der Eremit, den der herabsteigende, gewandelte Zarathustra im Wald trifft: „Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit und das Meer trug dich“[8], sagt der alte Anachoret, den Nietzsche kontrastiv als Gegentypus zum echten Einsamen Zarathustra aufbaut. Der alte Heilige lebt zwar allein in äußerer Abgeschiedenheit, doch er ist nicht einsam. Er hat noch seinen Gott, mit dem er spricht wie Augustinus und den er anbetet, ohne viel zu hinterfragen. Sein inneres Handeln ist ausschließlich auf Gottesverehrung ausgerichtet: „Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen“[9] lobt er seinen Gott. 
Dabei ist der gottsuchende Eremit sich seiner Antiquiertheit nicht bewusst. Er pflegt seinen Ritus, ist zufrieden damit, schürft aber nicht tiefer. „Erkenntnis Gottes ist Gebet“, wird er mit Lenaus Savonarola und der konservativen Bibelexegese annehmen, ohne der letzten Wahrheit auf den Grund gehen zu wollen. Im Gegensatz zum klarsichtigen Zeit-Analytiker und Zeitkritiker Zarathustra alias Nietzsche hat der fromme Alte in seiner selbstgewählten Isolation noch nicht vernommen, dass „Gott todt ist“[10]!
Mit dieser Sentenz hat Nietzsche ein Wort in die Welt gesetzt, das zu vielen Missverständnissen führte. Gott ist - ontologisch gesprochen - nicht an sich tot, sondern, wie von Martin Heidegger in jenem bekannten Aufsatz[11] deutlich herausgestrichen, er ist nur - in jener Zeit - tot und für den, der das begriffen hat – der Gott der Christenheit ist nur für das aufgeklärte, metaphysisch vereinsamte Subjekt tot, für zweifelnde, desillusionierte Atheisten wider Willen nach Voltaire und Rousseau wie Lenau, Heine und eben Nietzsche.
Zarathustra hingegen wird in radikaler Absetzung vom Eremiten, der in naiver Zweisamkeit mit Gott lebt, als der „Einsame“[12] schlechthin konzipiert. Das wichtigste Charakteristikum dieses Einsamen besteht darin, dass er „gottlos“[13] ist. Er ist – wie trefflich in Lenaus Faust ausgeführt – von Gott los,[14] und zwar endgültig.
Gott scheidet als letztes Refugium, als metaphysischer Rückhalt aus. Das – gefährlich lebende – Individuum, der Seiltänzer, der Suchende – sie haben kein Sicherheits-Netz mehr, das sie beim Straucheln und möglichen Scheitern auffängt. Ohne jede lebenserhaltende Versicherung ist die Individualität nunmehr ganz auf das Selbst gestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Nietzsche seinen Helden zu einem reinen Positivisten oder platten Materialisten reduziert. An die Stelle der traditionell christlichen Gottesvorstellung tritt bei diesem radikalen wie konsequenten Kritiker des Christentums gleich ein ganzer Geisteskomplex, namentlich jene zentralen Ideen Nietzsches: der Übermensch, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen.
„Einsam“ ist bei Nietzsche ein Schlüsselwort, das immer wieder gezielt eingesetzt wird, um das Anderssein, das Herausgehobene, das Elitäre, das Illustre und das Unverstandene zu exponieren. Nietzsches Unverstandene heißen eben nicht Empedokles wie bei Hölderlin, Diogenes, Sokrates oder Michelangelo und Leonardo, sondern eben – am eigenen Selbstverständnis als Philosoph und Missionar ausgerichtet – Zarathustra. Nietzsche wird diesen Religionsstifter und Feuerprediger bibelparodistisch in Gleichnissen reden lassen, damit er sich auf gleiche Art widersprechen kann. Das Subjekt löst – von Perspektive zu Perspektive – die eigene, subjektive Aussage wieder auf.

6.4. „Fliehe, Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit!“ - „Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt.“


„Einsamkeit“ hat von Anfang an bei Nietzsche eine gewisse Dignität. Das Phänomen Einsamkeit ist in dieser Dichtung nie konstant, sondern, dem Strukturgedanken gemäß, offen und in permanenter Veränderung. Nietzsche ist bemüht, das Phänomen auf verschiedensten Ebenen auszuloten. Er entwickelt deshalb einen perspektivischen Pluralismus, der es ihm ermöglicht, immer wieder neue Aspekte des Phänomens zu entdecken. Dabei interessiert nicht primär die Einsamkeit an sich, sondern sie wird in Zusammenhang und in der Regel als Schaffensbedingung der zahlreichen programmatischen Ideen der Dichtung gesehen. Das Kapitel „Von den Fliegen des Marktes“ beginnt mit einem fast wortgetreuen Seneca-Zitat: „Fliehe, Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt von Lärme der großen Männer und zerstochen von den Stacheln der kleinen“[15]. Kurz darauf erfolgt die prägnante Differenzierung: „Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt.[16]
 
Dieser Markt des Zarathustra aber entspricht der Gesellschaft Rousseaus; er ist und bleibt pejorativ besetzt. Massenphänomene sind dem einsam durchs Leben gehenden elitären Geist Nietzsche zutiefst suspekt. Statt die Entwicklung des Menschen zum Übermenschen zu fördern, wirft dieses inadäquate Umfeld, die massenhafte, unreflektierte Existenz, den Freigeist zurück: „Abseits vom Markte und Ruhme begiebt sich alles Grosse: abseits vom Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer Werthe. Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftigen Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo raue, starke Luft weht!“[17]
 
Die „Illustren“, die Eliten des Geistes, von Seneca über Petrarca und Leonardo da Vinci bis hin zu dem Einsamen von Basel und Sils-Maria, halten dagegen. Bezeichnenderweise wiederholt Nietzsche diesen Aufruf zur Flucht in die reinigende, die Individualität stärkende Einöde in demselben Kapitel noch ein drittes Mal. Nachdem Seneca in jenen Tagen der Menschheitsgeschichte, als Jesus Christus seinen Läuterungsweg in die Wüste antrat, bereits eindeutig vor der Masse warnte, indem er verkündete: „Fliehe die Menge, fliehe die Wenigen, fliehe selbst einen[18]. greift der Autor der Spät-Schrift „Der Antichrist“ die gleiche Botschaft wieder auf, fast zweitausend Jahre nach dem Römer. In dem Zarathustra-Abschnitt „Vom Freunde“ antwortet Nietzsche darauf mit einer mehr misanthropisch als ironisch klingenden Paraphrase des Seneca-Worts: „Einer ist immer zu viel um mich.“[19]
 
Auch die - falsch verstandene - Liebe zur Einsamkeit und zum Selbst kritisiert Nietzsche im Sinne des antiken Vorbilds pointiert aphoristisch: „Der Eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der Andere, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis“[20].
Wie der Schweizer Zimmermann zwischen echter und falscher Einsamkeit zu unterscheiden wusste, so weiß auch Nietzsches Zarathustra, das die falsch praktizierte Einsamkeit zum Gefängnis und zur existenziellen Sackgasse werden kann, die über Melancholie und Verzweiflung in endgültiges Scheitern mündet.

6.5. Die Auserwählten – Nietzsches kommende Elite: Der „Einsame“ als Brücke zum Übermenschen


Schöpferisches Tun in allen Bereichen von Geist und Kunst vollzieht sich – wie Nietzsche aus eigener Praxis weiß – aus der Abgeschiedenheit heraus.
Deshalb lässt Nietzsche in einem weiteren Kapitel, in „Vom Wege des Schaffenden“, den Gegensatz zwischen dem schöpferischen, Werte schaffenden Einzelnen und der trägen, amorphen unproduktiven Masse erneut aufleben. Der Weg zum Selbst, den das große Individuum beschreitet, wird von der „Herde“ als Gang in die „Vereinsamung“[21] interpretiert. Die – christlich konditionierte Masse empfindet diesen Weg der Eigentlichkeit – wiederum in erstaunlicher Nähe zur Lenauschen Faustkonzeption – im Einklang mit ihrer fremdbestimmten, determinierten, verblendeten Sicht sogar als Hybris und Sünde: „Wer sucht, der geht leicht verloren. Alle Vereinsamung ist Schuld.“[22]
Der christlich ausgerichtete Massenmensch geht davon aus, dass „ein Stern hinausgeworfen in den öden Raum und in den eisigen Atem des Alleinseins[23] früher oder später notwendigerweise scheitern muss. Alle Repräsentanten der Masse setzen sich vom Einsamen, der mit seiner Liebe und seinen Tränen den Weg des Schaffenden beschreitet, der aus seinen eigenen „sieben Teufeln“ einen „Gott“ zu schaffen vermag, ab: „Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach dem Einsamen[24].
Die konventionell Existierenden, die Heuchler der Gesellschaft, kreuzigen mit Vorliebe diejenigen, welche sich ihre eigene Tugend erfinden – sie hassen die Einsamen[25].
Im Kapitel „Von der schenkenden Tugend“ schließlich wird dem Einsamen von Nietzsche eine Rolle zuerkannt, die er in der langen Einsamkeit-Tradition - bis dahin so extrem ausformuliert - noch nie hatte: Er, der ewig Unverstande, der Einzelgänger, der Eigenbrötler, der Phantast, das Genie, der Melancholiker, er ist die Brücke zum Übermenschen. Mit viel Pathos verkündet Zarathustra:
„Wachet und horcht, ihr Einsamen! Von der Zukunft her kommen Winde mit heimlichem Flügelschlagen; und an feine Ohren ergeht gute Botschaft.
Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber erwähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: - und aus ihm der Übermensch.“[26]
Mit diesem provokativen, einen Missbrauch nicht ausschließenden Entwurf endet der erste Teil der Zarathustra-Dichtung. „Hierauf ging Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle und entzog sich den Menschen“[27]. Gleich dem Einsamen von Sils-Maria, der weiß, wovon er spricht, wenn es um Kommunikation und Austausch mit der Welt geht, zieht sich der Religionsstifter und Weise nach erfolgter Mission erneut in die Einöde zurück, um weiter nachzudenken, um zu meditieren, zu regenerieren und um sich dann - wie Cicero und Montaigne - mit neuer Energie wieder in die geistige Schlacht zu werfen.

6.6. Der Einsame – das ist der Schaffende! „Trachte ich nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke!“


Somit hält auch der Denker und Poet Nietzsche an dem - von Seneca vorgegebenen und später auch von Michel de Montaigne praktizierten - dialektischen Verhältnis zwischen dem Rückzug in die Einsamkeit und der anschließenden Mitbestimmung im konkreten Leben inmitten der Gesellschaft fest.
Zarathustra verbringt Monde und Jahre in der Verborgenheit seiner Höhle und mehrt seine Weisheit. Nach ausreichender Kontemplation und tieferer Einsicht, fühlt der Weise, der an sich ein Agierender ist, ein Prophet mit klarer Botschaft, kein Ausführender, sondern der Stifter einer Neuen Lehre, einer Neuen Religion, die, historisch betrachtet, die erste Form des Monotheismus ist, noch älter als der Glaube der Juden oder als der Aton-Kult in Ägypten, erneut das Bedürfnis, zu lehren. Der Auserwählte muss wieder seinen selbst auserkorenen Olymp verlassen, er muss von den Höhen hinab steigen, ins Tal, um dort in den Niederungen der profanen Existenz seine heilige Botschaft zu verkünden, um seine selbst erdachte Religion zu stiften. In diesem Punkt überschreitet Nietzsche alias Zarathustra die - auf individuelle Glückseligkeit ausgerichteten - Philosopheme der Epikureer und Stoiker. Er handelt nach der selbst aufgestellten Maxime: „Trachte ich nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke“![28]

6.7. Nietzsches „Nachtlied“ - das einsamste Lied, welches je gedichtet wurde!


Im zweiten Teil der Dichtung wird das Thema Einsamkeit nur geringfügig variiert. Um aber noch tiefer in das Phänomen eindringen zu können, erweitert Nietzsche die Begrifflichkeit und konstruiert neue, charakteristische Assoziationen. Der Apologet steigert sich in seine Apotheose hinein. Zarathustra, aus der Einsamkeit kommend und in die Einsamkeit zurückkehrend, wird als der „Einsamste“[29] überhaupt vorgestellt. Er gleicht einem Kometen, der hell erstrahlend aus der Finsternis des Weltalls auftaucht, die Menschen mit seiner Weisheit beglückt, um dann wieder in die Sphären der Mutter Nacht, in das nichtgreifbare Nichts kosmischer Unendlichkeit abzutauchen. Wer wird vernehmen wollen, was er der Menschheit zu künden hat? Nietzsches Zarathustra, quasi ein Alter Ego des einsamen Philosophen von Sils Maria, das ist der dem Volk verhasste „freie Geist, der Fessel-Feind, der Nicht-Anbeter“[30]. Sein Wille ist „Löwen-Wille“, „einsam“ und „gottlos“. Es ist der Wille des „Wahrhaftigen“, „furchtlos und fürchterlich, groß und einsam“[31]. Nicht die pulsierende Stadt mit ihren zahlreichen Märkten ist seine Welt! Nein, die karge, reine Wüste ist seine Heimat: „In der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister, als der Wüste Herren; aber in den Städten wohnen die gutgefütterten, berühmten Weisen, - die Zugthiere.“[32] Unmittelbar darauf folgt das berühmte „Nachtlied“. Auch in diesem klagenden Lyrismus, der zu den schönsten gehört, die in der deutschen Sprache hervorgebracht wurden, erscheint das Phänomen Einsamkeit mehrfach an exponierter Stelle. Nietzsche weist in seinem Selbstkommentar zu „Zarathustra“ darauf hin, dass dies das einsamste Lied sei, welches je gedichtet wurde. Es ist die frohe Klage eines Sterns, dessen Schicksal es ist, in die Weite und Dunkelheit der Nacht hinaus strahlen zu müssen:
 
„Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.
Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe.
Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre!
Aber dies ist meine Einsamkeit, dass ich vom Licht umgürtet bin.“[33]
Bald darauf verlässt Zarathustra seine Jünger und geht „allein fort“[34]; Er muss „wieder in die Einsamkeit“[35].

6.8. „Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!“


Im vierten Teil der Dichtung ist der Erkenntnisgang, der Lern- und Lehrprozess Zarathustras, abgeschlossen. Das unmittelbar damit zusammenhängende Phänomen und Medium Einsamkeit tritt also weitgehend zurück. Im dritten Teil jedoch, speziell in den Kapiteln „Der Wanderer“ und „Die Heimkehr“ erreicht die poetische Darstellung des Phänomens seinen Höhepunkt. Zarathustra hält Rückschau. Fast ein Romantiker, Byrons „Manfred“ und Lenaus „Faust“ sehr nahe stehend, besinnt sich der Weise „des vielen einsamen Wanderns von Jugend an“[36].
Er zieht Bilanz. Mit dem Cäsar und stoischen Philosophen Marc Aurel kommt zur Schlussfolgerung: „man lebt lediglich nur noch sich selber“[37]. Deshalb gilt es, dass der in sein „eigen Selbst“[38] zurückgekehrte Zarathustra über sich hinaussteigt, um dem „letzte(n) Gipfel“[39] zuzustreben. Nun beginnt die „einsamste Wanderung“[40] Zarathustras und zugleich die „letzte Einsamkeit“[41].
Einer der schönsten Gesänge der Zarathustra-Dichtung ist der ergreifende Lyrismus „Die Heimkehr“. Einem verlorenen Sohn gleich und unter Tränen kehrt Zarathustra in sein eigenstes Element zurück. Dieses Selbst aber ist die Einsamkeit: 
„Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!
Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heimkehrte!“[42]
Es entwickelt sich ein lehrhaftes Zwiegespräch, in welchem die Erfahrungen Zarathustras in der menschlichen Gesellschaft reflektiert und gewertet werden. Die anfangs schon negative Gewichtung der Gesellschaft wird nun auch noch potenziert, indem ein neues Negativphänomen, die Verlassenheit, eingeführt wird:
„Oh Zarathustra“ spricht die Einsamkeit, alles weiß ich: und dass du unter den Vielen verlassener warst, du Einer, als je bei mir! Ein Anderes ist die Verlassenheit, ein Anderes die Einsamkeit: Das – lerntest du nun! (...) Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause[43].
Wer wild in wilder Fremde lebt, im fremdem Land, in der fremden Großstadt, wie Nietzsche lange Jahre in der Schweiz oder andere Dichter wie etwa Rilke[44] bald nach ihm in Paris oder Moskau, muss sich verlassen vorkommen. Die Einsamkeit der fremden Großstadt wird zum Fluch, zur Verzweiflungssituation. Dreimal wird die Erfahrung des „Verlassenseins“ angesprochen. Unter Menschen ist es gefährlicher als unter Tieren. Zarathustra sieht dies ein und schwingt sich zu einer letzten Apotheose der Einsamkeit auf. Das Idemitätsverhältnis von Freigeist und Einsamkeit offenbart sich nun in vollendeter Verklärung:
Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!
Wie selig und zärtlich redet deine Stimme zu mir!
Wir fragen einander nicht, wir klagen einander nicht, wir gehen offen miteinander durch offene Thüren.
Denn offen ist es bei dir und hell; und auch die Stunden laufen hier auf leichteren Füßen. Im Dunklen nämlich trägt man schwerer an der Zeit als im Lichte.
Hier springen mir alles Seins-Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.
Da unten aber – da ist alles Reden umsonst.“[45]

6.9. „Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein’“ – Zum Gegensatz von individuellem Leben in Einsamkeit und gesellschaftlichem Massen-Dasein.



Wie aus den vielen markanten Zitaten deutlich wird, hat Nietzsche alias Zarathustra in der Einsamkeit sein Grundphänomen gefunden. Das Selbst kommt nur in der Heimat Einsamkeit zum Durchbruch und zur Vollendung. Die eigene Wesenheit offenbart sich ausschließlich in der Einsamkeit.
In der weit angelegten Zarathustra-Dichtung, in welcher manches, was der Dichter ausspricht, bald vom Denker Zarathustra hinterfragt und relativiert wird, beschäftigen Nietzsche zwar noch eine ganze Reihe weiterer Epiphänomene, doch keine Begleiterscheinung nimmt ihn ganz ein und über kein anderes Phänomen wirkt der Dichterphilosoph so bestimmend auf die Nachwelt ein wie über die Darstellung der Einsamkeit: Sie ist der Wert an sich, die „conditio sine qua non“, aus der alles Wahre, Schöne und Gute emaniert.
Sie ist das Medium des Schöpferischen, während das profane, das gesellschaftliche Dasein nur uneigentliches Sein, fremdbestimmtes Leben bedeutet. Im Geist Petrarcas schreibt Nietzsche dezidiert: „Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei der Berührung von Mensch zu Mensch ‚in Gesellschaft’ – unvermeidlich-unreinlich zugehen muß. Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein’.“[46]
In Anflügen von Misanthropie hat Nietzsche gelegentlich gar das Gefühl, der Umgang mit Menschen verderbe ihm Umgang mit dem Selbst. Klingt das zynisch? Vielleicht! Deshalb entscheidet er sich als Denker und Poet radikal für das Existieren in der Einsamkeit.
Während alles wankt, skeptisch hinterfragt und der Relativierung unterworfen ist, bleibt die Einsamkeit – über Zarathustra hinaus – im Gesamtwerk Nietzsches die Konstante schlechthin. An dieser, ihm höchst wesensgemäßen Seinsform wird Nietzsche nie zweifeln. Sie ist und bleibt ein Positivum - „die gute Einsamkeit, die treue muthwillige leichte Einsamkeit“[47].
Das Leben in der Masse hingegen erscheint ihm – wie schon seinen Vorgängern Petrarca, Montaigne, Rousseau und Schopenhauer oder seinen existenzphilosophischen Nachfahren Jaspers und Heidegger – als ein inadäquates, uneigentliches Sein, als Nicht-Sein oder existenzloses Sein.
In der Masse und als Teil der Masse ist das Individuum nicht es selbst – Das „Man“ regiert und das „Man“ bestimmt: „Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist mir dann immer, als wolle man mich aus mir vertreiben und mir die Seele rauben.“[48] Nietzsche bringt es drastisch auf den Punkt: Aus der Sicht des eigenständigen Individuums gegen seine Zeit, das sich selbst zu verwirklichen sucht, deshalb eigenen Vorgaben folgend eigene Wege geht und eigene Ziele anstrebt – bedeutet die Gängelung durch die Gesellschaft das Aufgeben von Freiheit und Selbstbestimmung. Die Gesellschaft weiß natürlich, was sich geziemt und was unzulässig ist. Man isst das nicht, man tut das nicht, man schreibt das nicht, man denkt das nicht. Man ist nicht selbstständig, sondern man akzeptiert die Werte und Normen der Gesellschaft, auch wenn es Pseudo-Werte sind. Die als Diktate durchgesetzt werden. Also ist in der Gesellschaft der Jetztzeit kein Nonkonformist gefragt, kein Andersdenkender, kein Freigeist, kein Kritiker, kein Querdenker und Querulant, sondern lediglich der brave Staatsbürger, der Fügsame, der ergebene untertänige Diener, den Nietzsche in markiger, oft überspitzter Sprache auch als Herdentier, Zugtier oder Ja-und-Amen-Sager definiert.

6.10. „Einsam die Straße ziehn gehört zum Wesen des Philosophen.“ Fragmentarische Aussagen zur „Einsamkeit“


Schopenhauer fordert in seinen Ausführungen zur Einsamkeit, man müsse die Jugend dazu erziehen, die Einsamkeit zu ertragen. Nietzsche greift diesen Gedanken etwas abgewandelt auf, indem er feststellt: „Niemand lernt, Niemand strebt danach, Niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen.“[49] – Um dann an anderer Stelle pointiert hinzuzufügen: an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand, - ich habe immer nur an der ‚Vielsamkeit’ gelitten ... In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich darüber je betrübt gesehen?“[50] Einsamkeit ist für den großen, ewig unverstandenen Nietzsche Schicksal, ein Los, das von ihm auch im heroischen „Amor fati“ angenommen wird. Für Schopenhauer ist die Einsamkeit - in der Gefolgschaft der bekannten Aristoteles-Sentenz - das Charakteristikum genialer Naturen. Nietzsche folgt der Auffassung seines Lehrmeisters auch in diesem Punkt. Er spezifiziert sie, indem er sie als eine Wesenserscheinung des Philosophen überhaupt herausstellt: „Einsam die Straße ziehn gehört zum Wesen des Philosophen.“[51] An anderer Stelle definiert Nietzsche den „höhere(n) philosophische(n) Mensch(en)“ als denjenigen, „der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet.“[52] Das Phänomen Einsamkeit erhält damit eine ontische Qualität.

6.11. Therapeutikum Einsamkeit – schlimme und gefährliche Heilkunst! „In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“


Ein wahrer Philosoph ist nach Nietzsches Auffassung nur jener, der Mut zum gefährlichen Denken[53] aufbringt, der die Philosophie als Abenteuer[54], als Wagnis begreift. In diesem Zusammenhang zählt er dann auch die Einsamkeit zu den „schlimmsten und gefährlichsten Heilkünsten“[55]. Sie ist eine Form von Katharsis[56]: „Gewiß ist“, schreibt Nietzsche, „dass sie, wenn sie heilt, auch den Menschen gesünder und selbstherrlicher hinstellt, als je ein Mensch in Gesellschaft“[57] sein könnte.
Seneca und Schopenhauer, die großen Fürsprecher des Lebens in Einsamkeit, sahen das Phänomen nie absolut. Beide erkannten auch die Nachteile einer Existenz in absoluter Einsamkeit, die Gefahren der Vereinsamung und des Scheiterns, speziell bei nichtautarken, unsicheren, schwachen und wankelmütigen Charakteren und warnten davor.
Der wesentlich resolutere und leidensfähigere Nietzsche hingegen, als Darwinist überzeugt, alles Schwache und Missratene möge, ja müsse zugrunde gehen und dahinfahren, geht in dem ihm wesensgemäßen Phänomen so sehr auf, dass er, fern von Empathie oder Mitleid mit den Schwächeren, dazu neigt, potentielle Negativaspekte der Einsamkeit vollkommen zurückzudrängen, ja zu verdrängen. Doch verkannt wird deren verhängnisvolle Wirkung trotzdem nicht. An einer Stelle spricht Nietzsche sogar ganz ausdrücklich von den „Martern aller sieben Einsamkeiten“[58], die vor allem die „neuen Philosophen“ kennen sollten.
In einem seiner vielen köstlichen Aphorismen, in welchem er schonungslos über den oft verantwortungsvoll-konzilianten Schopenhauer hinausgeht, heißt es ganz lapidar: „In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“[59] Nietzsche, der große Perspektivist und existenzielle Realist, ist also doch nicht immer bereit, das Phänomen zu verklären, er sieht es durchaus auch kritisch.

6.12. Die „siebente letzte Einsamkeit“ - Nietzsches „Dionysos-Dithyramben“


Der Dithyrambus ist die höchste Form des hymnischen Ausdrucks. Nietzsche wählt diese Form des Selbstgespräches, um das Phänomen Einsamkeit, das auch in diesen Dichtungen im Mittelpunkt steht, lyrisch zu zelebrieren.
Der Dithyrambus „Das Feuerzeichen“ präsentiert einen längst aus der Einsamkeit des Hochgebirges herabgestiegenen, der Wüsteneinsamkeit entflohenen und am Ende seines Weges angekommenen Zarathustra in äußerster Abgeschiedenheit, selbstisoliert auf einer Insel im Meer. Mehr Einsamkeit scheint nicht mehr möglich. Auch scheint alles erreicht, bis auf eines:
„Was floh Zarathustra vor Thier und Menschen?
Was entlief er jäh allem festen Lande?
Sechs Einsamkeiten kennt er schon -,
aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam,
die Insel ließ ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme,
nach seiner siebenten Einsamkeit
wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt.
Verschlagene Schiffer! Trümmer alter Sterne!
Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel!
Nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel:
Gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme,
fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen,
meine siebente letzte Einsamkeit!“[60]

„Die Einsamkeit hat sieben Häute; es geht Nichts mehr hindurch“[61] verkündet Nietzsche in einem seiner Selbst-Kommentare zu Zarathustra.
Dieser feiernde Religionsstifter, der eine Religion lehrt, die – wie später der Buddhismus – ohne Gottheit auskommt, hat sich auf seinem Weg der Selbsterkenntnis, an dessen Ende die Lüftung des letzten Geheimnisses, des Pudels Kern, die Wesensschau der Phänomenologen oder die „Unio mystica“ im Verständnis eines Meister Eckhart steht, von allem gelöst, was noch irdischen Trost, irdische Geborgenheit und somit auch irdische Festlegung bedeuten würde. Der Berg ist ihm nicht hoch genug, das Meer ist ihm nicht weit und tief genug, die Wüste ist ihm nicht still genug; Selbst die Begleitung der vertrauten Tiere, des Adlers und der Schlange, hat er aufgegeben. Geht es noch extremer? Es geht! Nachdem ganze „sechs Einsamkeiten“ erfahren wurden, bleibt – wie bei der Häutung der Schlange – nur noch die eine, alles entscheidende, übrig. Nietzsches – ganz auf sich selbst gestellter - Zarathustra erwartet die letzte Metamorphose des Phänomens, die siebente Einsamkeit[62]die absolute Einsamkeit!
Dieses höchste aller Ziele, das Erfüllung und Glück zugleich ist, wird auch erreicht – spekulativ mystisch in lyrischem Ausdruck. Nietzsches wohl schönster Dithyrambus „Die Sonne sinkt“ ist diesem Höhepunkt gewidmet:
„Tag meines Lebens!
die Sonne sinkt
Schon steht die glatte
Fluth vergüldet. (...)
Rings nur Welle und Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue Vergessenheit (...)
Wunsch und Hoffen ertrank,
glatt liegt Seele und Meer.“[63]

Harmonisch wie der verklingende Tag löst sich alles in absoluter Ruhe auf: In diesem „Nunc stans“ der Mystiker, in dieser stillsten Stunde des Eremiten, vollzieht sich die endgültige Erfahrung der Einsamkeit als „Unio mystica“, als „Siebente Einsamkeit“!
Diese letzte Metamorphose markiert auch die äußerste und zugleich positivste Kulmination des Einsamkeit-Phänomens bei Nietzsche überhaupt: Der Geist der Schwere ist überwunden – die Leichtigkeit des Seins triumphiert im melancholiefreien Raum - das Endziel eines bewussten, geistigen Existierens ist erreicht.

6.13. „Vereinsamt“ – Düstere Melancholie und metaphysische Verzweiflung


Was sich nicht mehr steigern lässt, muss notwendigerweise auch wieder zurückfallen. Der euphorischen Phase, der Manie, folgt alsbald - das wissen alle Melancholiker - der existenzielle Rückschlag, das Abgleiten in düstere Schwermut. Licht, Erhabenheit und Glück verfliegen schnell – Melancholie macht sich breit.
Eine eindeutige Relativierung desselben, gerade noch genussvoll zu maximaler Höhe gesteigerten Einsamkeit-Phänomens erfolgt hingegen in dem Dithyrambus „Zwischen Raubvögeln“. In diesem Gedicht wird der stets souverän agierende Zarathustra in eine Extremsituation versetzt. Wie Manfred in Byrons Dichtung oder die Faust-Gestalt Lenaus erscheint Nietzsches Protagonist über dem Abgrund, vollkommen auf das Selbst gestellt, in einer Entscheidungssituation, die bei Empedokles – vor seinem legendären Sprung in den Ätna-Krater – nicht viel anders gewesen sein kann:
„geduldig duldend, hart, schweigsam,
einsam...
Einsam!“[64]

Jedes genussvolle Erleben der Einsamkeit ist verflogen. Leidvolle Zweifel kommen auf und treten an die Stelle von Gewissheit, Positivität und verklärter mystischer Wesensschau. Wo kaum erst Erfüllung und Glück das Leben bestimmten, spricht nunmehr die verzweifelte Stimme der Melancholie. Der hoch fliegende Geist fällt wieder in die Untiefen des profanen Lebens zurück. Existenzielle Verbitterung kommt wieder auf:
„Jetzt-
einsam mit dir,
zwiesam im eignen Wissen,
zwischen hundert Spiegeln
von dir selber falsch,
zwischen hundert Erinnerungen
ungewiss,
an jeder Wunde müd,
an jedem Froste kalt,
in eignen Stricken gewürgt,
Selbstkenner!
Selbsthenker!“[65]

Zarathustra alias Friedrich Nietzsche reduziert sich
Jetzt – zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt“
zum „Fragezeichen“ zum „müde(n) Rätsel“[66].

Der zu letzter Erkenntnis Strebende, der Selbstkenner, der ein Leben lang konsequent in die Einsamkeit Fliehende, wird sich selbst zur Grenze. Er wird zum tragischen Vollender des eigenen Schicksals, zum Selbsthenker. Dieser „Selbsthenker“ - dafür spricht die bitter anklagende, pessimistische Diktion des Lyrismus - kann jedoch nicht länger als der sonst eingeforderte „Selbstüberwinder“ aufgefasst werden. Hier ist tatsächlich das tragische Scheitern am Selbstsein im faustischen Sinne gemeint. 
Obwohl Nietzsches „Zarathustra“ als die antistatische Existenz schlechthin konzipiert wurde, die, ungeachtet eindeutiger Prioritäten, eigene Lehren vielfach in Frage stellt, war es nicht möglich, diese negativ interpretierbare Perspektive in den großen mythopoetischen Entwurf zu integrieren, da das Gesamtkonzept dadurch gefährdet worden wäre. Nietzsche entschied sich wohl deshalb für ein eigenständiges Gedicht.
Im Grunde seines Wesens ist Nietzsche ein Extremdenker und Extremfühler. Das kann aus der signifikanten Thematisierung und Problematisierung des Phänomens Einsamkeit klar gefolgert werden. Nietzsche pflegt einen streng rationalen Zugang zum Phänomen, er durchleuchtet die typischen Strukturen, und er funktionalisiert die Einsamkeit – vor allem in „Zarathustra“ – ähnlich wie seine Vorgänger. Gleichzeitig findet Nietzsche aber auch einen subjektiven Zugang zum Phänomen. Die individuell und existenziell erfahrene Einsamkeit erscheint in allen ihren Höhen und Tiefen; einerseits wird die letzte und absolute Einsamkeit als das Positivum schlechthin verklärt, andererseits neigt Nietzsche auch dazu, die Abgründe des Phänomens zu erhellen. Mystische Glückseligkeit und tiefmelancholische Verzweiflung, existenzielle Erfahrungen, die in ihrer subjektiven Dimension den Bereich des Unaussprechlichen tangieren, erscheinen deshalb verschlüsselt und hermetisch. Die eigentliche Tragweite der existenziellen Erfahrung kann nicht rational erschlossen, sie kann nur geahnt werden. Ein großartiges Beispiel dafür ist folgendes weltbekanntes Gedicht:

„Vereinsamt

Die Krähen schrein’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! Wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr’
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck’ du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n,
Weh dem, der keine Heimat hat!“

„Vereinsamt“ ist geradezu das programmatische Gegenstück zu „Die Sonne sinkt“. Dieselbe existenzielle Exponiertheit des Individuums, das Sein in der Grenzsituation, die, unter günstigeren Bedingungen, ein mystisches Aufgehen in die Einsamkeit ermöglicht, schlägt hier radikal um. Die bereits in dem Dithyrambus „Zwischen Raubvögeln“ sich anbahnende Transposition ins Negative kommt hier zur Erfüllung – das positive Phänomen „Einsamkeit“ metamorphosiert zum Negativphänomen „Vereinsamung“.
Die Struktur dieses Phänomens lässt sich erhellen, wenn man Nietzsches Bildern folgt. Schon im ersten Ausschnitt erscheint die Natur – wie in Lenaus Herbstlyrik – in ihrer Angst suggerierenden Bedrohlichkeit bestückt mit Todes-Symbolik: schreiende Krähen fliehen schwirren Flugs in die Geborgenheit der Stadt. Das im Selbstgespräch sich befindende Individuum, das sich in derselben exponierten Situation befindet wie die Kreatur, sehnt sich nach einem ähnlichen - metaphysischen - Ruhepunkt. 
Doch da die konkrete, anonyme Stadt - nach allen gemachten und durchlittenen Erfahrungen - nicht mehr als „Heimat“ empfunden werden kann, wird die aufkommende Sehnsucht metaphysisch ausgeweitet. Die metaphysische Geborgenheit des Menschen, das intakte Verhältnis zu einem höheren Sinn-Objekt, ist der ersehnte Wert – doch diesen gibt es nicht mehr. Das nunmehr auf sich selbst gestellte Individuum hat – durch Reflexion, durch Philosophie, durch den konsequenten Werdegang zum Freigeist – das einst naiv begründete Verhältnis zu einer metaphysischen Instanz, zu Gott, unwiederbringlich verloren. Nun steht es allein, vereinsamt, verlassen und ohne jeden Trost vor dem Nichts.
Das Leben ist ein Sein im Leiden. Die sinnentleerte Welt gleicht einer lebensfeindlichen Wüste, die genauso totbringend ist wie die klirrende Kälte des Winters. Das Ich ist an einem absoluten Nullpunkt angelangt – Es steht, in einer von „Verzweiflung“ bestimmten „Horror vacui-Situation“, also unmittelbar vor dem endgültigen Scheitern. Doch dazu lässt es der Lyriker und Denker Nietzsche nicht kommen. Wie sein lyrisches wie melancholisch-existenzielles Vorbild Nikolaus Lenau, der in seinem markanten Gedicht „Herbstentschluß“ eine ähnliche Nullpunktsituation problematisiert, um das Leben an sich trotzdem fortzuführen[67], besinnt sich auch Nietzsche, der den schnellen Freitod als Zeichen der Schwäche interpretiert und deshalb ablehnt, auf die aus seiner eigenen Philosophie resultierenden positiven Ansätze des Weiterleben-Müssens. In einem entschiedenen „Amor fati“ wird das Schicksal, so wie es ist, angenommen und letztendlich bewältigt. Die starre Statik der Situation, das Ableben im Eis des Winters, wird durch ein dynamisches Element, durch das in die Zukunft verlegte Wandern-Müssen, gesprengt, auch wenn das „Wandern“, also das Weiterleben, nicht mehr romantisch verbrämt erscheint, sondern – vielfach vorbereitet bei Lenau – als Zwang, als Fluch! Es geht wieder aufwärts. Der „Freigeist“ - Nietzsche hatte das Gedicht ursprünglich im Entwurf so überschrieben, wird sich selbst zum Befreier. Vereinsamung, bezeichnenderweise auch ein Charakteristikum des freien Geistes, impliziert zwar Leiden, ja maximalstes Leiden, ist aber nicht gleichbedeutend mit existenziellem Scheitern.



[1] Nicht erörtert werden in diesem Abschnitt Nietzsches Ausführungen zur Melancholie als „Schwermut“, ein häufig auftretetendes, facettenreich und ausdifferenziert gestaltetes Thema, das sich leitmotivisch durch die gesamte Zarathustra-Dichtung zieht.
[2] Maßgebend für Nietzsche-Forschungsarbeiten ist die Kritische Gesamtausgabe, kurz KAW, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1967ff.
[3] Friedrich Nietzsche. Werke. Musarion-Ausgabe, Bd. 21. S. 188.
[4] Kritische Gesamtausgabe, KGW, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1967ff. Vgl. dazu Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 1, S. 281.
[5] Ebenda, S. 339.
[6] Heinrich Rombach, Strukturanthropologie, S. 15.
[7] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 3, S. 5.
[8] Ebenda, S. 6.
[9] Ebenda, S. 7.
[10] Ebenda, S. 8.
[11] Martin Heidegger, Nietzsches Wort, „Gott ist tot“, in: „Holzwege“.
[12] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 1, S. 16 („Endlich aber wurde es Nacht, und ein kalter Wind blies über den Einsamen.“) Bzw. S. 203. („Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Einsamsten.“)
[13] Ebenda, S. 129.
[14] Lenau, Faust
[15] Ebenda, S. 61.
[16] Ebenda.
[17] Ebenda, S. 62.
[18] Seneca, Vom glücklichen Leben. Auswahl aus seinen Schriften. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Stuttgart,1978. S. 202.
[19] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 1, S. 67.
[20] Ebenda, S. 74.
[21] Ebenda, S. 76.
[22] Ebenda.
[23] Ebenda, S. 77.
[24] Ebenda, S. 78.
[25] Ebenda.
[26] Ebenda, S. 96f.
[27] Ebenda, S. 101.
[28] Ebenda, S. 104.
[29] Ebenda, S. 203 bzw. S. 138. Dies ist auch ein Beiname Buddhas.
[30] Ebenda, S. 128.
[31] Ebenda, S. 129.
[32] Ebenda. (Von den berühmten Weisen)
[33] Ebenda, S. 132.
[34] Ebenda, S. 136.
[35] Ebenda.
[36] Ebenda, S. 189.
[37] Ebenda.
[38] Ebenda.
[39] Ebenda, S. 190.
[40] Ebenda.
[41] Ebenda, S. 191.
[42] Ebenda, S. 227.
[43] Ebenda.
[44] Kießling, Hildegard: Die Einsamkeit als lyrisches Motiv bei Rainer Maria Rilke, Jena 1935. Ferner: Bollnow, Otto Friedrich: Rilke, Stuttgart 1951. Und: Holthusen, Hans Egon: Rilke, Hamburg 1958.
[45] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 1, S. 228.
[46] Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, §248.
[47] Ebenda, §25
[48] Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, §491.
[49] Ebenda, §443.
[50] Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, §10, VI, 3, S. 295.
[51] Musarion-Ausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, Bd. 4, 186. Vgl. dazu Lenaus Aussage in „Herbstentschluß“: „Trübe Wolken, Herbstesluft,/ Einsam wandl’ ich meine Straßen“.
[52] Ebenda, Bd. 19, S. 329.
[53] Vgl. dazu Zarathustras Würdigung des Seiltänzers, der die Gefahr zum Beruf gemacht hat. Nietzsches Philosophie selbst ist überall dort „gefährlich“, wo er Tabus angeht, wo er kühne, durchaus zum Missbrauch geeignete, Visionen entwirft, wie etwa bei der Konzeption des Übermenschen.

[54] In diesem Sinne ist auch Albert Camus Aussage zu verstehen: „Nietzsche mit seinem äußerst eintönigen äußeren Leben ist der Beweis dafür, dass das in der Einsamkeit entwickelte Denken an sich ein gewaltiges Abenteuer ist.“
Albert Camus,, Tagebücher, 1935- 1951.

[55] Ebenda, Bd. 14, S. 350.
[56] Als solche erlebt sie auch der Wahlverwandte Nietzsches, Lenau, in Amerika.
[57] Ebenda.
[58] Ebenda, Bd. 19, S. 331f.
[59] Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Teil 2, §348.
[60] KAW, VI, 3, S. 393f.
[61] Ebenda, S. 340
[62] Vgl. dazu auch die Studie: Harper, Ralph: The seventh solitude. Man's Isolation in Kierkegaard, Dostoevsky, and Nietzsche. Baltimore, 1965.
[63] Nietzsche, ebenda, KAW, VI, 1, S. 394.
[64] Ebenda, S. 395. (Vgl. dazu auch den Ausruf Hölderlins, in :“Der Tod des Empedokles“: „Weh! einsam einsam! einsam!“)
[65] Ebenda, S. 387.
[66] Ebenda, S. 388.
[67]Daß wir unseren letzten Gang/ Schweigsam wandeln und alleine, /Daß auf unsern Grabeshang / Niemand als der Regen weine!“[67] NL, SWB, I, S. 54.




Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.



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Inhalt des Buches: 


Carl Gibson


Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca


zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche


Carl Gibson

Koryphäen
der
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Philosophie und Dichtung
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von Ovid und Seneca
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Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen. 

Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
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Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens


Mit Beiträgen zu:

Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,


dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays

1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim

Alle Rechte vorbehalten.


ISBN: 978-3-00-049939-5


Aus der Reihe:

Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015

Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim


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„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?

Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.

Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.

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Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.






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