Montag, 31. Dezember 2018

Michael Gorbatschow - vom späten Triumph der Freiheit. Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit, 2008, Leseprobe.


  Carl Gibson, im antikommunistischen Protest-Gewand - als Ritter des Deutschen Ordens, eingehüllt in deutsche Farben, 1976, in sozialistischen Rumänien Ceausescus, hier in Sackelhausen zu Fasching, kurz danach in der gleichen Montur im Lenau-Lyzeum in Temeschburg.

 

 

Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit, 2008, Leseprobe.

 

 

Michael Gorbatschow - vom späten Triumph der Freiheit


Glück stellt sich dann ein, wenn Wunder wahr werden, wenn lange geträumte Träume in Erfüllung gehen, wenn sich Wünsche und Aspirationen realisieren, wenn ein großes Fernziel erreicht ist und wenn entrückte Ideale Wirklichkeit werden.
An einem solchen Glücksmoment durfte ich gleich zweimal teilhaben in einem kurzen Leben. Im Jahr 1979, als nach jahrelangem Ringen um bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte in einer der bittersten Diktaturen Osteuropas mein Ausbruch in die Welt der Freiheit möglich wurde - und dann ganze zehn Jahre später, in jenem denkwürdigen Herbst des Jahres 1989 noch einmal, als die Völker Osteuropas fast über Nacht die lange ertragene Tyrannei einer totalitären Weltanschauung abschüttelten und frei wurden.
Welthistorische Ereignisse rollten damals vor uns allen ab, fesselnd wie auf einer Kinoleinwand - doch sehr real und diesmal nicht tragisch wie in den verheerenden Weltkriegen und in den weitaus negativ verlaufenden Entwicklungen im Osten Europas während der Nachkriegszeit, sondern aufwärtsgerichtet im Geist der Freiheit auf eine vielversprechende Zukunft hin - als Wandel zum Guten. Nahezu unerreichbare Ziele und Ideale wurden Wirklichkeit. Alles, was in den selbst noch intensivst erlebten Tagen des Kalten Krieges unerschütterlich und für Tausende Jahre zementiert schien, stürzte, innerlich morsch geworden, über Nacht. Ein finsterer Despot wankte und fiel. Und vor meinen Augen vollzog sich im fernen Bukarest der Sturz der letzten Diktatur in Osteuropa, eine Gewaltherrschaft, die meine Existenz über Jahre geprägt und bestimmt hatte. Bald darauf wurde ich noch Zeuge des Zusammenbruchs des gesamten kommunistischen Systems in der sich auflösenden Sowjetunion, ja weltweit, einer Willkürherrschaft, die über Jahrzehnte den Frieden der Welt bedroht hatte. Freudig erschüttert und mit bebenden Herzen erlebte ich in kurzer Zeit gesellschaftliche Umbrüche kaum gekannten Ausmaßes, an dessen Ende die politische Freiheit und Selbstbestimmung ganzer Völker stand.
Der Motor dieser Realität gewordenen Utopie war Michail Gorbatschow. Er entfesselte die Lawine, deren Wucht das moralisch fragwürdige Gebäude des Weltkommunismus zum Einsturz brachte, indem er die „Menschlichkeit in die Realpolitik einführte“ - und indem er überall dort menschlich handelte, wo früher die Staatsraison waltete, die kühl berechnende Macht. Durch sein beherztes Handeln im Zaudern, die Mittel der Repression in voller Wucht einzusetzen wie seinerzeit Breschnew 1968 in Prag, wurde der damalige Präsident der Sowjetunion notwendigerweise zum unfreiwilligen Totengräber einer alten Struktur - und aus der Sicht konservativer Kommunisten sogar zum Verräter an den Idealen und Errungenschaften der einst glorreichen Arbeiterrevolution. Für Millionen Unterdrückte und Geknechtete des kommunistischen Machtbereichs jedoch avancierte er zum unbestrittenen Begründer, ja zum „Vater der Freiheit“ im Europa der Nachkriegszeit. Gorbatschow wurde, um es in pathetischer Würdigung eines symphonischen Kunstwerks auf den Punkt zu bringen, zur „Conditio sine qua non“ der Freiheit in Osteuropa. Ohne diese Persönlichkeit der Weltgeschichte sehe unser blauer Planet heute anders aus.

Warten auf … den Retter!


Als sich vor nicht all zu langer Zeit, im Jahr 2003, erstmals die Gelegenheit bot, diesem „Retter der Welt“, denn nicht viel weniger war er in meinen Augen, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, Tuchfühlung aufzunehmen und ihm vielleicht im innigsten Dank für das Unterlassene die Hand zu schütteln, nutzte ich den Tag und die Gunst der Stunde und reiste nach Ludwigsburg.
Ludwigsburg, der königliche Lustgarten Württembergs, war eine vertraute Stadt. Früher, während den Anfängen meiner Studienzeit um 1983, als unsere Kulturzeitschrift nomen konzipiert und ediert wurde, kam ich regelmäßig in die alte Residenz. Nicht zum eigenen Plaisir oder um dem mondänen Lustwandeln zu frönen, das seit der Säkularisation auch die bürgerlichen Schichten des Volkes erfasst hat, noch um das architektonische Erbe eines rücksichtslosen Autokraten zu bewundern, der seine Untertanen bis nach Amerika verkauft hatte. Damals lockte das schöne Ludwigsburg eher als Stätte der Literatur, als künstlerischer Ort, wo sich Gleichgesinnte trafen, Intellektuelle und kreative Köpfe aller Art, hauptsächlich aber Literaturschaffende, Schriftsteller, Dichter und Kritiker. Sie kamen aus ganz Südwestdeutschland und hatten sich zu einer losen literarischen Gruppierung zusammengefunden, die unter dem bescheidenen Namen „Literateam“ fast so bekannt wurde wie anno dazumal die Schwäbische Dichterschule um Uhland, Schwab, Kerner und Lenau, dem schwarz gefiederten Raben aus Ungarn.
Alle paar Wochen trafen wir in uns ungezwungen in einer Schenke in der Innenstadt. In Lesungen wurden eigene Kreationen dargeboten. Die Teilnehmer diskutierten gemeinsamen Editionen, Anthologien und anstehende Projekte. Wie in solchen Kreisen üblich, lamentierten, polemisierten und stritten sie untereinander - doch mehr über literarische als über gesellschaftliche Themen und ganz im Geist einer dialektischen Streitkultur, die auf Erkenntnisgewinn setzt, ohne dabei persönliche Animositäten und künstlerische Rivalitäten hervor zu kehren. Kurz, alle lebten und erlebten das literarische Kunstwerk im kommunikativen Miteinander und im Dialog. Da mich seinerzeit als literarischer Ressortleiter der Zeitschrift nomen überwiegend Fragen und Kriterien literaturwissenschaftlicher Wertung beschäftigten, wurde ich von den meisten aktiven Lyrikern und Prosaisten des Kreises als „Kritiker“ wahrgenommen. Herbert, den Freund fürs Leben, hatte ich in jenem Umfeld zum ersten Mal als eigenwilligen Gedankenlyriker erlebt - und seine siebzehnjährige Tochter Iris, heute eine zunehmend bekannter werdende Malerin, die damals gerade mit dem Dichten begann. Doch das war zwanzig Jahre her!
Inzwischen war viel Wasser den Neckar hinab geströmt, und die Welt hatte sich in einer Art verändert, wie ich es mir, als ich noch im Kerker saß, in hoffnungsvollsten Vorstellungen nie hätte ausmalen können. Aus Ludwigsburg, der beschaulichen Barockresidenz mit Nebengebäuden, war eine richtige Stadt geworden. Und wie alle richtigen Städte der Neuzeit wirkte sie im Alltag unmusisch und laut. Wo war die prunkvolle Schlossanlage? Irgendwo hinter profanen Zweckbauten verborgen. Es dauerte eine Weile, bis ich sie wieder gefunden hatte. Zielstrebig steuerte ich auf die Veranstaltungshalle zu, wo das große Ereignis stattfinden sollte. Eine Viertelstunde später fand ich mich dann in einem großen Saal wieder, inmitten von Menschen, deren Blick erwartungsvoll auf ein Podest gerichtet war, das weiter unten auf der breiten Bühne aufgebaut den Mittelpunkt markierte. Sie warteten … und ich wartete mir ihnen, doch nicht wie früher so oft auf die rettende Hand der Gottheit, auf den „Deus ex machina“, sondern auf eine Gestalt aus Fleisch und Blut, auf einen Heros der Neuzeit und auf einen Charakter, der meinen Glauben an das Humanum bestärkt und mein Hoffen auf Wunder intensiviert hatte.
Neben mir ein bekanntes Gesicht - Michael, ein befreundeter Ökologe aus Bad Mergentheim, der als Umweltaktivist über einen Naturschutzverband die Einladungen zu der anstehenden Ehrung erhalten hatte. Nur galt die Ehrung nicht ihm, noch dem Erzengel mit dem Flammenschwert. Geehrt werden sollte „hier und jetzt“ der wohl bekannteste Namensvetter der Neuzeit - der andere Michael, jene politische Persönlichkeit von Weltformat, die seit Jahren nicht nur die Deutschen in den Bann geschlagen hatte - Michael Gorbatschow!
Eigentlich stand er seit seinem etwas ruhmlosen Abgang nicht mehr ganz so oft im Rampenlicht. Jelzin, der spätere Präsident des wie Phönix neu aus der Asche der Geschichte emporgestiegenen Russland, hatte ihn gedemütigt und entthront, indem er ihm Russland aus der Sowjetunion entführte. Ein Kaiser ohne Imperium war Michael Gorbatschow, als er ruhmlos abtreten musste wie schon andere Cäsaren vor ihm. Und trotzdem! Im Bewusstsein der Menschen blieb er präsent - als welthistorische Größe, die die Rosenspur der Neunten ermöglicht hatte. Zumindest in meinem Bewusstsein war dies so. Ein Zufall? Während des Wartens versuchte ich zurückzudenken und Gorbatschow in die lange Reihe der Führungspersönlichkeiten einzureihen, die das Gesicht der Sowjetunion seit den Tagen der Oktoberrevolution bestimmt hatten. Lenin, Stalin … Gorbatschow! Wo stand er in der Hierarchie? Er, der erste unter den Namen, der mir beim Aussprechen keinen Schrecken einjagte?

Die „Matroschka“ - sowjetische Geschichte im Zeitraffer


Entzündet an einem Reisesouvenir aus Moskau, hatte ich mich gerade erst vor wenigen Tagen mit dieser überragenden Persönlichkeit der Zeitgeschichte beschäftigt und, ein naives Abbild in den Händen haltend, über Gorbatschows Rolle in der Geschichte nachgedacht. Während eines Mittagmahls bei guten Freunden in Wachbach war mir ein originelles Mitbringsel aus Russland aufgefallen, ein Volkskunstwerk aus dem neuen, vielfach veränderten Russland. Es war eine Matroschka, im Westen auch als Babuschka bekannt - ein enigmatisches Präsent, das eines ist und auch keines ist, weil es bei näherem Erkunden in immer kleinere Gestaltungen zerfällt wie die Ringe einer Zwiebel in der schälenden Hand. Ideen kommen auf und verfliegen mit jedem neuen Bild. Vielleicht, um auf diese heiter amüsante Weise eine philosophisch tiefsinnige Botschaft zu vermitteln als leiser Hinweis auf die Vergänglichkeit der Dinge, die da nur flüchtig sind, um zu verkümmern und bald im Nichts zu entschwinden, je mehr man sich Kern und Wesenheit nähert.
Nur verkörperte jene Babuschka in meinem Händen nicht wie gewöhnlich eine altrussische Puppenmatrone im Bauerngewand, sondern, die identitätsbestimmende Tradition krass parodierend, eine politische Variation. Auf jeder Hülle erschien das Konterfei eines Führers der einst „glorreichen Sowjetunion“, beginnend mit dem Revolutionär Lenin bis in die neueste Zeit mit Präsident Vladimir Putin als Endpunkt. Putin, der neue starke Mann Moskaus auch heute noch, von dem sogar zu befürchten ist, dass er das Rad der Geschichte noch einmal zurückdrehen könnte, als Winzling! War das kein Sakrileg? Oder verwies die frivole Parodie auf die neue Freiheit hinter den Kremlmauern?
Als ich das grell bemalte Riesenei aus leichtem Ahornholz zu entpacken begann und angestrengt mit etwas Geschick die naiv bemalten Weichholzschalen staunend auseinandernahm, fühlte ich mich in eine Zeitmaschine versetzt, die mich rasend schnell ein Jahrhundert zurückkatapultierte, hinein in die Zeit der Oktoberrevolution, wo der Winterpalast gestürmt und alle Romanows bald danach unmenschlich exekutiert worden waren; schon fühlte ich mich zurück- und hinein versetzt in das postzaristische Russland Lenins, Trotzkis und Stalins, wo einst eine für viele Millionen Osteuropäer verhängnisvolle Entwicklung ihren Anfang genommen hatte.
Indem es Lenin nach Russland lotste und den bolschewistischen Aufruhr mit substanziellen Geldmitteln stützte, hatte das Deutsche Reich als Geburtshelfer einer neuen Ära mitgewirkt. Unbeabsichtigt hatte es dabei mitgeholfen, die Weltanschauung des Kommunismus für viele Jahrzehnte zu instaurieren, kurz bevor es selbst an sozialistischem Streben und kommunistischen Umtrieben zerbrach. Es quietschte beim Drehen der Eierschalen aus Lindenholz. Und jeder Schauerton brachte neue Gesichter hervor - neue Physiognomien mit neuen Bildern und hundert Assoziationen.
Es war ein Ausflug in die „Geschichte der Sowjetunion“ im Zeitraffertempo, was sich mir darbot: rote Geschichte, blutrote und blutige Geschichte: Den Anfang als dickstes Ei machte „Lenin“, der Ahnherr und Begründer der Sowjetunion und ihr unbestrittenes ideologisches Haupt, Vorbild für Generationen bis zum Fall des Weltreiches in jüngster Zeit! Er bildete übergroß und mächtig die äußere Hülle des synthetischen Zwiebelrings. Sein Schädel hatte die Größe eines Straußeneis. In Wladimir Iljitschs hohlem Bauch folgte dann, immer noch gewaltig erhaben als Ei eines Aasgeiers, die eigentliche Ausgeburt der bolschewistischen Revolution: der Menschheitsverbrecher avant la lettre „Stalin“. Die Fratze des Stählernen ließ mich zurückschrecken - als Albtraum: „Väterchen Stalin“, bei dessen erlösendem Tod Millionen weinten, war ein zynischer Tyrann übelster Ausprägung, ein Diktator ohne Erbarmen, der unter den hundert Völkern der Sowjetunion noch schlimmer gewütet hatte als außerhalb der Staatsgrenzen im Krieg. Es war das schnauzbärtige Zerrbild des Bösen als Gesicht eines Diktators, der nur noch mit einem „Untermenschen der Menschheitsgeschichte“ verglichen werden kann, mit einem Wahldeutschen, dessen Name in den Ohren ganzer Völker so schrecklich klingt wie alles, was mit Stalinismus assoziiert wird, in den eigenen. Wer war der größere Verbrecher: Hitler oder Stalin? Eine Frage der Perspektive, auch aus historischer Sicht? Die gesamte Biografie dieses menschlichen Zerrbildes war eine Verbrechergeschichte - von Anfang an. Und der „Terror“, den er verbreitete, selbst im Kreis seiner engsten Angehörigen war schlimmer als die Angst vor dem Tod.
Aus sicherer Distanz heraus setzte ich die Entblätterung fort. Dem Stählernen folgte die rein physisch imponierende Puppe eines Apparatschiks mit freundlichem Gesicht. Es war der immerhin schon weitaus liberalere Chruschtschow, der ungeachtet uneingeschränkter Parteiloyalität trotzdem den Mut aufbrachte, die vielfachen Verbrechen Stalins offen zu legen, eine Vergangenheitsbewältigung anzuregen und den Entstalinisierungsprozess einzuleiten. Chruschtschow, ein agrarischer Mensch, der dem Bauer und dem Rindvieh näher stand als orthodoxer Marxistendoktrin, hatte eingesehen, dass eine Weiterentwicklung der Sowjetunion nur nach Überwindung des stalinistischen Systems durch breite gesellschaftliche Reformen erreichbar ist. Ideologisch zwar weniger verbohrt als seine Vorgänger und nach wie vor schnöder Machtpolitiker des Kalten Krieges brachte er die Welt an den Rand eines alles vernichtenden Atomkriegs. Doch durch ihn wurde auch das „Phänomen Solschenizyn“ möglich - und mit dessen Wirken eine Welle der Aufklärung über die Welt des Kommunismus hinter dem Eisernen Vorhang, ein erster Anflug von Glasnost und Perestroika. Ahnten meine Gastgeber, was in meinem Kopf vorging, im Schädel eines Entsprungenen? Wohl kaum! Wer die Heilslehre des Kommunismus nicht auf eigener Haut erlebt hat, der kann auch nicht wissen, was der Kommunismus wirklich war. Sowjetischer Imperialismus und osteuropäische Geschichte sind für viele Menschen des Westens unbekannte, siebenfach versiegelte Themen.
Das bemalte Lindenholz wurde leichter. Die nächste Enthüllung förderte Leonid Breschnew an das Licht der Welt, einen behäbigen Partei- und Staatschef, der als kühler Machtzyniker alten Schlages in die Geschichte einging. Er stand für den Status quo im Ostblock, für das lodernde Prag und für einen auf Ewigkeiten zementierten Weltkommunismus. Stets hatte ich in ihm nur ein lebendes Fossil gesehen, eine Mumie, deren mentale Trägheit und Unbeweglichkeit für die Kontinuität der Unterdrückung im gesamten Ostblock verantwortlich war. Er war der gnadenlose Puppenspieler, der die Marionetten tanzen ließ, Ceauşescu und Honecker, Gierek, Husak, Kadar und Schivkov - alle nach seiner Façon! Panzer und brennende Märtyrer - das war sein Vermächtnis! An meinen Augen huschten noch einige Schreckensgesichter vorbei, Führer der Sowjetunion, doch Figuren des Übergangs wie der einstige KGB-Chef Andropow und der Parteisoldat Tschernenko. Ihre Namen waren so blass wie ihre Taten. Kaum einer erinnert sich noch ihrer flüchtigen Erscheinung.
Erst spät in der Zeitordnung immer deutlicher zusammenschrumpfender Puppenfiguren erschien als Kulminationspunkt dieses Ritus der Enthüllungen der Mann mit dem Stigma am Haupt, der Gezeichnete, an dem mein Blick viel länger haften blieb. Der Auserwählte? Es war die einzige Ikone mit humanem Antlitz: „Michael Gorbatschow“.
Nur war er in jener Puppen-Ordnung bereits winzig ausgefallen, verschwindend klein, zum Taubenei reduziert, zum Friedenstauben-Ei und kaum noch zu unterscheiden von den ihm nachfolgenden Jelzin und Putin. Was hatten die von seiner wahren Größe? Nichts! Boris Jelzin, der Restaurator Russlands, der alten Macht als Reich der politischen und wirtschaftlichen Ohnmacht, schien als schmächtiger Schrumpfkopf durchaus seinem „historischen Wert“ zu entsprechen. Wenn ich an ihn dachte, sah ich das Bild einer angeheiterten, sinnenfreudigen Barockgestalt, die unter den Augen eines lachenden Bill Clinton dionysisch enthemmt auftanzt und nach dem Ewig Weiblichen greift, statt nach den Sternen.
Doch ich erinnerte mich auch des überzeugten Halbdemokraten, der irgendwann einmal auch wahre Größe gezeigt hatte, in einer glücklichen Stunde der Geschichte, als er mutig antrat und vom Panzer aus von idealistischen Antrieben bestimmt zum Widerstand gegen totalitäre Restaurationsbestrebungen aufrief, während sein Ziehsohn Putin, der unbemerkt die Stalin-Statuen ausgraben und aufs Podest stellen ließ, mir künftige Rätsel aufgab. Als „Mann des alten Systems“ und der KGB-Ordnung stützte er mit Geld und Macht den Stall, aus dem er kam, den Geheimdienst, das mächtige Militär dahinter, die eigenen Familien und ein Heer von neuen Oligarchen, während die große arme Menge applaudieren durfte wie eh und je.
Alle Ikonen russischer Neuzeit standen bald vor mir in Reih und Glied auf dem weißen Tischtuch als makabre „Geschichte der Sowjetunion“ von Alpha bis Omega. Doch mich faszinierte nur eine Puppe: die mit dem Zeichen!
War er der Auserwählte? Der von Gott Gesandte, der Retter? Michael – nomen est omen, auch in diesem Fall? Lange betrachtete ich die Gestalt in der merkwürdigen Ordnung, die die Werte verschob. Eine Ironie der Geschichte?
Gorbatschow als Endpunkt? Oder stand er für einen neuen Anfang, für ein demokratisches Russland und für ein Entlassen der Völker in die Souveränität und Freiheit? Manche, die den Untergang der großen Sowjetunion bedauerten, waren anderer Meinung.

Wer zu „Späth“ kommt, den bestraft kein Leben!


Jetzt, im Saal, in der Erwartung der historischen Ausnahmepersönlichkeit, waren die Reflexionen wieder präsent. Etwas unruhig sah mich um. Der Einklang freudiger Erwartung bestimmte die Menschen im Saal. Viele der Anwesenden hatten die gerade erst abgelaufenen Entwicklungen noch nicht vergessen. Die Emotionen waren noch wach und drängten sich wieder auf. Der Fall der Mauer – das Ende des Reiches des Bösen. Sie alle hatten die Abläufe der Wiedervereinigung erlebt, auf ihre Weise, mit deutschen Augen und mit deutschem Herzen erfühlt. Und weil es Deutsche waren, interpretierten sie auch den Lauf der Geschichte, die ihnen die nationale Einheit wieder schenkte, nicht nur rational, vielmehr aus dem Gefühl heraus. Plötzlich wurde es still im Festsaal.
Unten, vor den Augen der Menge, betrat Michail Gorbatschow die Bühne. Frei und souverän als große Gestalt der modernsten Weltgeschichte.
Nach Hegel und Nietzsche bestimmten die großen historischen Individuen den Lauf der Weltgeschichte - die Cesare Borgias der Neuzeit, die Napoleons … War Michael Gorbatschow einer von ihnen? Oder entsprach er doch eher dem Typus des großen Humanisten nach dem Renaissancemenschen, der aus tieferen ideellen Beweggründen wirkt und schafft?
Freundlich in die Menge lächelnd und gewandt schritt er über die Bühne zum Podest hin, wo er nach erfolgter Laudatio auch zu den Menschen sprechen sollte. Doch wer würdigte seine Verdienste hier und heute? Späth, Lothar Späth? Einer, der diesmal nicht zu spät kam und dafür auch nicht vom Leben bestraft wurde? Fast hätte ich ihn vergessen, denn neben Gorbatschow wirkte der oft gut gelaunte und witzige Ministerpräsident der Badener und Schwaben außer Dienst, den ich sonst sehr schätzte, so nebensächlich und fast trivial!
Gorbatschow bestach und war so bescheiden und menschlich wie immer. Einige seiner tieferen Züge, die auf ihre Weise mein Schreckensbild des Russen korrigierten, hatten mich immer schon berührt. Sie hatte ihn mir, den seinerzeit mächtigsten Mann des kommunistischen Weltreiches, in unbestimmter Erinnerung an den eigenen Vater, intuitiv sympathisch erscheinen lassen, von Anfang an, bereits zu einem Zeitpunkt, als andere in ihm noch den „cleveren“ Public Relations-Künstler sahen, ihn gar in die Nähe des NS-Demagogen Joseph Goebbels rückten.
Mit dem Herzen sehen, ihn über die eigene Wesenheit zu erfassen, das schien mir bei Michael Gorbatschow der wahre Weg zu sein. Gorbatschow war mir einst im Traum erschienen, gleich nach seinem Antritt als Lenker des Sowjetreiches, wohl als Projektion eigener Erwartungen - als herbeigewünschter messianischer Hoffnungsträger, als positive Rettergestalt, als weißer Ritter, voller Zuversicht, in fernster Erinnerung an den triumphierenden Erzengel Michael, der sich über die Bestie erhebt, zu dem ich oft als junger Ministrant in der Dorfkirche hochgesehen hatte, wenn ich frühmorgens auf Knien die Litanei absolvierte. Das Humane seines Wesens erwuchs aus dem Gesicht, dessen milder, Vertrauen schaffender Ausdruck die künftigen politischen Handlungen schon vorwegzunehmen schien. Und jetzt stand dieser Hoffnungsträger, an dem zeitweise das Schicksal Europas, ja selbst der Welt hing, als später Triumphator vor uns.
Michael, mein Begleiter neben mir, strahlte - auch ich war tief erregt. Die Macht des Augenblicks nahm alle ein. Manch ein Anwesender aus Ludwigsburg und der Region um Stuttgart hätte das Idol gerne umarmt, nicht nur Frauen, und ihm, dem Russen, die Hände geschüttelt. Die alte Völkerfeindschaft zweier Weltkriege schien für alle Zeiten vergessen und aufgelöst. Es war wie eine freie „Unio mystica“ der Masse mit einer Idee - ein Zusammenfall der Gegensätze, eine „Coincidentia Oppositorum“ lange getrennter Welten. Enthusiasmus lag in der Luft - unmittelbare Begeisterung.

Sprache der Herzen


Die Menge applaudierte, als er seine Appelle vortrug und zu den Menschen sprach, spontan und natürlich - aus dem Herzen. Sein Ruhm war ihm vorausgeeilt wie seine Taten, die diesen begründeten. Es war ein cäsarisches Auftreten im freundschaftlichen Forum. Michael Gorbatschow hatte schon gesiegt und gewonnen, bevor er gekommen war. Jetzt ging es nur noch um das Ernten der reifen Früchte, um den späten Lorbeer, der ihm hier - wie überall im wiedervereinten Deutschland - zufiel, während ihm der Dank der Heimat versagt blieb.
Hier im liberalen Südwesten war er wirklich willkommen. Seine entspannte und erfüllte Mimik verriet es, dass er dies auch fühlte. Hier, in Deutschland, war er zwar nicht daheim, doch zumindest in einer Wahlheimat und unter Menschen, die ihm zugetan waren. Wieder warf ich meinem Begleiter Michael einen nach Bestätigung der eigenen Gefühle zielenden Blick zu, ohne dabei weiter an die Namenskoinzidenz zu denken oder an die mythische Rettergestalt der Bibel. Michaels gütiges Gesicht strahlte vor heller Begeisterung, ohne sich im Ausdruck von anderen entzückten Gesichtern abzuheben; ob jung oder alt - die unmittelbare Freude war greifbar. Es war ein kurzes Aufleuchten der Humanität in einer immer noch schwer verfahrenen, wenn auch schon besser gewordenen Welt. Eine natürliche Begeisterung erfüllte den Saal, in dem eigentlich nichts ablief, in dem sich nichts ereignete als ein „Akt des Bestaunens“ und des „Staunens über den Gang der Geschichte“, deren Fortgang nicht nur von Ideen bewegt wird, sondern auch vom Gefühl für das Richtige zum richtigen Zeitpunkt aus dem Geist des Humanum.
Die ganze Gestimmtheit des Raumes wurde nur von einer Person getragen, von einer weltgeschichtlichen Größe, die mit der gleichen Natürlichkeit in die deutsche Provinzstadt gekommen war, wie sie den heimatlichen Kaukasus bereiste. Gorbatschow, ein Ausstrahlungsphänomen an sich, wirkte durch die bloße Präsenz. Ein Nimbus war da, der nicht gesehen, doch gefühlt wurde. Die Herzlichkeit der Menschen verwies darauf.
Vielleicht hätte Hegel beim Anblick der Menschen in diesen Hallen das Walten des Weltgeistes vermutet und Kant den Wink von den Sternen auf den ewigen Frieden. Für Augenblicke schienen sich göttlicher Weltwille und Individualwille zu durchströmen zu einem harmonischen Ganzen, aus welchem das Böse gebannt war. Eine Illusion? Die Menschen hielten den Atem an - überall gelöste Spannung. Etwas vom Hauch der großen Geschichte durchwehte den Saal und erfüllte für kurze Zeit die ehemalige Residenzstadt, die schon manche gekrönte Häupter gesehen hatte, selbst Tyrannen und heimische Sklavenhändler.
Als der Ritus der Ehrung vollzogen war, löste sich die allgegenwärtige Spannung in stürmischen Ovationen - wie nach einer großen Operngala. Die Menschen klatschten rauschenden Beifall und tobten teilweise vor Verzückung - und dies lange Jahre nach Gorbatschows relativ glanzlosem Abtritt. Sie würdigten damit auf ihre Weise die Tat einer Persönlichkeit, die der Weltgeschichte einen neuen Lauf gegeben hatte. Immer noch beeindruckt und gebannt von der besonderen Stimmung im Saal überflog ich die Menge und musterte intuitiv die aufgehellten Gesichter - es waren überwiegend schwäbische, deutsche Gesichter. Und was ich erkennen konnte, das war Dankbarkeit; reinste, innigste Dankbarkeit.
Die Menschen um mich herum, junge und alte Leute, bunt gemischt, mit Videokameras und Fotoapparaten ausgestattet, beeilten sich, den „Nachklang der Weltgeschichte“ für immer einzufangen, das hautnahe Erleben eines besonderen Menschen, der das Gesicht der Welt zum Positiven hin nachhaltig verändert hatte. Sie blickten auf einen leicht gerührten, immer noch sehr menschlichen, ehemaligen Staatschef der Sowjetunion, auf einen Charakter aus einer Welt, die Präsident Reagan als das Reich des Bösen bezeichnet hatte.
Und sie sahen Bilder: Vielleicht sahen sie vor ihrem geistigen Auge, wie der Stacheldraht durchschnitten wurde, wie Grenzen durchlässig wurden - und sie erlebten vielleicht in innerer Sicht, wie Steine wankten und wie die Mauer fiel; und sie fühlten, wie die große Freiheit, getragen von beethovenscher Musik, sich ihren Weg bahnt: „Freiheit schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“ … Friedrich Schiller, der Sohn aus dem kleinen Marbach am Neckar gleich um die Ecke, hatte in Worten verdichtet, was Beethoven inspirierte, lange nachdem Schiller der unfreien Karlsschule entflohen war. Dieser humanistische Geist großer Individuen wirkte hier - Gut und Böse in Versöhnung erlösend.
Weltgeschichtliche Ereignisse wurden für Sekunden zurückgeholt und erfüllten die Herzen der Menschen. Viele waren gerührt - auch ich, ein Abgebrühter, dessen Tränensäcke fast schon ausgetrocknet waren. Schließlich gehörte ich mit zu jenen, deren Ideal sich erfüllt hatte, zu jenen, die die Freiheit schauen durften, auch das Gelobte Land, das andere Eden, die es betreten und genießen durften über die allseits präsente Freiheit. Das war eine späte Satisfaktion der Geschichte - eine Genugtuung der menschlichen Existenz: das Realität gewordene Humanum.
Der ehemalige Staats- und Parteichef der bereits aufgelösten und in viele Einzelstaaten zerfallenen Sowjetunion Michael Gorbatschow war als Haupt seiner Stiftung nach Ludwigsburg gekommen, um für diese einen Preis, eine Ehrung, entgegen zu nehmen. Er kam für das „Grüne Kreuz“, das er als ökologische Initiative alternativ zum „Roten Kreuz“ begründet hatte, um den Menschen zu signalisieren, dass unsere gesamte Welt noch viel mehr Mitverantwortung für unsere lebenswichtige Natur und Umwelt nötig hat. Diese Initiative sah er ganz in der Tradition der gesamtpolitischen Verantwortung für die Welt, die ihm einst als Staatsmann wichtig war; und die ihn bewogen hatte, so zu handeln, wie er handelte, indem er für die Sache der Freiheit eintrat und sie in seinem Einflussbereich ermöglichte. Das Grüne Kreuz, dessen Symbolik bei mir so manche Assoziationen wachrief, fand den höflichen Beifall der schon lange ökologisch sensibilisierten Menschen - doch ihre eigentliche Begeisterung galt dem großen Staatsmann, der als Apologet und Vollender politischer Freiheit in die Weltgeschichte eingehen wird.

Freiheit schöner Götterfunken


Als ich abends, auf einer Liege zur Ruhe gekommen, noch einmal über die Ereignisse des so angenehm verflossenen Tages nachdachte, die den Verlauf der europäischen Geschichte nachhaltig zum Guten hin verändert hatten, blendete ich intuitiv zurück und ließ die historische Bilderfolge der letzten Jahre vor meinem geistigen Auge abrollen: den Fall der Mauer - ein Jahrhundertereignis, dessen Bann man sich als Deutscher kaum entziehen kann; Szenen aus der blutigen Revolution in Rumänien, die in den Straßen meiner Geburtsstadt Temeschburg begonnen und in der Hauptstadt Bukarest ihre Vollendung erfahren hatte. Wie im Trance sah ich die Fahne im Wind, die Trikolore, aus der man die kommunistischen Symbole der Macht gerissen hatte; auch sah ich begeisterte junge Menschen auf den Straßen, die sich erstmals ihrer Freiheit bewusst wurden - und ich sah einen enthusiastisch euphorisierten Dichter, der umringt von jubelnden Landsleuten, den Sturz des letzten großen Tyrannen in Europa und das Ende der kommunistischen Diktatur in Rumänien verkündete. War das der Sturm auf die Bastille in neuen Bildern? Europaweit fielen die Bollwerke der Unterdrückung in sich zusammen wie morsche Bäume, die sich selbst überlebt hatten. Die Morgendämmerung der Freiheit kündigte sich an - und die Glocken der Freiheit waren überall im Osten des Alten Kontinents zu hören, begleitet von der Symphonik eines Beethoven, der seine Musik der Freiheit schon fast zwei Jahrhunderte vorher für solche Augenblicke komponiert hatte.
Von ihren symphonischen Klängen getragen fielen die kommunistischen Basteien nach Ostberlin in Prag, Warschau, Budapest und Bukarest. Die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, entzogen sich der sowjetischen Umklammerung, verkündeten ihre Souveränität und setzten ihre alten demokratischen Verfassungen in Kraft, die seit der Fremdbestimmung suspendiert worden waren. Gorbatschow hatte diese Befreiungs-Prozesse ermöglicht, indem er kaum Panzer schickte und keinen drastischen Schießbefehl erteilte.
Doch weshalb erklang gerade Beethovens Neunte auf den Straßen von Wilna? Der damalige Präsident Litauens, Vytautas Landsbergis, der nicht nur ein kluger Politiker, sondern auch ein glänzender Musiker ist, verwies auf den wahren Grund. Die Neunte, betonte er damals, sei eine „Symphonie der Freiheit und des Sieges über Sklaverei, Heimtücke und tiefsten Hass.“ Damit hatte er nicht nur den Menschen aus der Seele gesprochen, die von der Freiheit der Musik getragen wurden. Er hatte auch die „Konzeption eines Buches fast vorweggenommen, das erst fünfzehn Jahre danach ohne Kenntnis des luziden Ausspruchs angegangen wurde: dieses Buches in zwei Bänden!
US-Präsident George Bush, der Vater des nicht ganz so glücklichen George W. Bush, zwei Wahlperioden im gleichen Amt, der, wie andere seiner großen Vorgänger, ein Visionär war und als Botschafter im Reich der Mitte tieferen Einblick in die Welt des Kommunismus hatte nehmen können, würdigte den Siegeszug der Freiheit in Osteuropa in einer richtungweisenden Rede vor Studenten an der University of Texas. Bushs von Pathos getragene Apologie der Freiheit kulminiert in der vielsagenden Erkenntnis, „die Zeit der Diktatoren sei abgelaufen“ - und dies dank des mutigen Einsatzes von Widerständlern und Dissidenten aus Osteuropa, die durch ihr persönliches Engagement die weltpolitischen Entwicklungen erst möglich gemacht hätten.
Die Welt der Tyrannei und der Unterdrückung, von Präsident Ronald Reagan noch als Reich des Bösen apostrophiert, in welcher den Menschen, fern von jeder Wahl, gesagt wurde, was sie zu denken, zu lernen, wo sie zu arbeiten und zu leben hatten, sei nur deshalb überwunden worden, weil mutige Menschen sich ihr widersetzten: „Selbst im Angesicht des Todes leisteten sie Widerstand,“ betonte Präsident George Bush.
Der amerikanische Präsident nennt in seiner Ovation des freiheitlichen Widerstands einige geschätzte Widerständler und Dissidenten beim Namen. Neben Andrej Sacharow, dem Ahnvater aller Dissidenten im Ostblock, hebt er Arbeiterführer Lech Walesa hervor, den Elektriker aus Gdansk, dann Václav Havel, den Dramatiker aus Prag, der für seine Überzeugungen lange im Gefängnis saß. Neben den späteren Staatschefs Polens und Tschechiens werden auch weniger bekannte Namen hervorgehoben wie Árpád Göncz, seinerzeit amtierender ungarischer Präsident, der schon früher ein Mann des freien Wortes war. In der kommunistischen Zeit agierte er als konsequenter Dissident, während sein tschechischer Kollege aus der gleichen Zunft, der Journalist Cestimir Suchy, nach 1968 sein Überleben als „Fensterputzer“ sichern musste, weil er sich geweigert hatte, den Einmarsch in Prag zu verharmlosen. Die Würdigung des Freiheitskampfes der Völker, der von herausragenden Individuen getragen wurde, die nicht alle namentlich genannt werden können, schließt mit den Worten: „Heute, wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte, setzt sich die Freiheit in der ganzen Welt durch, weil Freiheit funktioniert. Freiheit ist nicht nur richtig, sie ist auch praktisch. Sie ist nicht nur gut, sie ist besser. Und es ist auf den unzähmbaren Geist des Menschen zurückzuführen, dass die Zeit der Diktatoren abgelaufen ist.“
Ein Name allerdings blieb bei Bush ungewürdigt. Der wichtigste von allen:
Michael Gorbatschow.
Ihn, der mit Glasnost und Perestroika all das in Bewegung gebracht und ermöglicht hatte, was zur Befreiung der Völker Osteuropas und der späteren GUS-Staaten geführt hatte, konnte Bush im Jahr 1990, kurz nach dem Zusammenbruch der Warschauer Pakt-Konstellation, als die Rede gehalten wurde, noch nicht würdigen. Während die sogenannten „2+4-Gespräche“ geführt wurden, die eine Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichten, zerfiel unter den Fingern Gorbatschows die Sowjetunion. Bush und Gorbatschow standen sich auf dem seinerzeit bevorstehenden Gipfeltreffen auf der Insel Malta noch als weltpolitische Gegner gegenüber, im Gespräch zwar, doch immer noch mit unterschiedlichen Interessen und Prioritäten.
Während auf höchster Ebene verhandelt wurde, um die Welt trotz ideologischer Diskrepanzen sicherer zu machen, ging der Siegeszug der Freiheit im östlichen Teil Europas weiter. Die Balten waren die ersten unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, die ohne Blutvergießen in die Freiheit entlassen wurden. Andere Völker folgten der friedlichen Entwicklung.
Zu Gewaltanwendungen und hohem Blutzoll kam es nur an einem Ort im ehemaligen Ostblock - in der Diktatur Nicolae Ceauşescus, in Rumänien. Der letzte der finsteren Despoten setzte weiterhin auf Repression, noch 1988 bereit, mit den Truppen des „Warschauer Paktes“ in Polen einzumarschieren, solange, bis die heraufbeschworene Gewalt sich gegen ihn selbst richtete.
Als Präsident Bush vor texanischen Studenten sprach, hatte sich Ceauşescus Schicksal bereits vollendet. Seit der Aburteilung im „Kurzen Prozess“ und der anschließenden Hinrichtung war ein halbes Jahr verstrichen. Präsident Bush erwähnte Ceauşescus Namen nicht, als er vom Ende der Diktaturen in Europa sprach, obwohl das Los des „letzten Diktators“ das überwundene Phänomen am treffendsten einfing.
Auch wurden in der Rede keine rumänischen Andersdenker oder Dissidenten genannt, so als ob es in Rumänien keine Dissidentenbewegungen gegeben hätte. Dafür gab es Gründe; viele Gründe, die mit dem Sonderweg der rumänischen Diktatur zusammenhängen, mit einem Sonderweg, in dessen labyrinthisch obskure Struktur erst jetzt in distanzierter Rückschau Licht und Klarheit gebracht werden kann - und für diese Prinzipien, für Glasnost und Perestroika, steht ein Name der Freiheit: Michael Gorbatschow!


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