Carl Gibson, im antikommunistischen Protest-Gewand - als Ritter des Deutschen Ordens, eingehüllt in deutsche Farben, 1976, in sozialistischen Rumänien Ceausescus, hier in Sackelhausen zu Fasching, kurz danach in der gleichen Montur im Lenau-Lyzeum in Temeschburg.
Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit, 2008, Leseprobe.
Michael Gorbatschow - vom späten Triumph der Freiheit
Glück
stellt sich dann ein, wenn Wunder wahr werden, wenn lange geträumte
Träume in Erfüllung gehen, wenn sich Wünsche und Aspirationen
realisieren, wenn ein großes Fernziel erreicht ist und wenn entrückte
Ideale Wirklichkeit werden.
An
einem solchen Glücksmoment durfte ich gleich zweimal teilhaben in einem
kurzen Leben. Im Jahr 1979, als nach jahrelangem Ringen um bürgerliche
Freiheiten und Menschenrechte in einer der bittersten Diktaturen
Osteuropas mein Ausbruch in die Welt der Freiheit möglich wurde - und
dann ganze zehn Jahre später, in jenem denkwürdigen Herbst des Jahres
1989 noch einmal, als die Völker Osteuropas fast über Nacht die lange
ertragene Tyrannei einer totalitären Weltanschauung abschüttelten und
frei wurden.
Welthistorische
Ereignisse rollten damals vor uns allen ab, fesselnd wie auf einer
Kinoleinwand - doch sehr real und diesmal nicht tragisch wie in den
verheerenden Weltkriegen und in den weitaus negativ verlaufenden
Entwicklungen im Osten Europas während der Nachkriegszeit, sondern
aufwärtsgerichtet im Geist der Freiheit auf eine vielversprechende
Zukunft hin - als Wandel zum Guten. Nahezu unerreichbare Ziele und
Ideale wurden Wirklichkeit. Alles, was in den selbst noch intensivst
erlebten Tagen des Kalten Krieges unerschütterlich und für Tausende
Jahre zementiert schien, stürzte, innerlich morsch geworden, über Nacht.
Ein finsterer Despot wankte und fiel. Und vor meinen Augen vollzog sich
im fernen Bukarest der Sturz der letzten Diktatur in Osteuropa, eine
Gewaltherrschaft, die meine Existenz über Jahre geprägt und bestimmt
hatte. Bald darauf wurde ich noch Zeuge des Zusammenbruchs des gesamten
kommunistischen Systems in der sich auflösenden Sowjetunion, ja
weltweit, einer Willkürherrschaft, die über Jahrzehnte den Frieden der
Welt bedroht hatte. Freudig erschüttert und mit bebenden Herzen erlebte
ich in kurzer Zeit gesellschaftliche Umbrüche kaum gekannten Ausmaßes,
an dessen Ende die politische Freiheit und Selbstbestimmung ganzer Völker stand.
Der
Motor dieser Realität gewordenen Utopie war Michail Gorbatschow. Er
entfesselte die Lawine, deren Wucht das moralisch fragwürdige Gebäude
des Weltkommunismus zum Einsturz brachte, indem er die „Menschlichkeit in die Realpolitik einführte“ - und indem er überall dort menschlich handelte, wo früher die Staatsraison waltete, die kühl berechnende Macht. Durch sein beherztes Handeln im Zaudern, die Mittel der Repression in voller Wucht einzusetzen wie seinerzeit Breschnew 1968 in Prag,
wurde der damalige Präsident der Sowjetunion notwendigerweise zum
unfreiwilligen Totengräber einer alten Struktur - und aus der Sicht
konservativer Kommunisten sogar zum Verräter an den Idealen und
Errungenschaften der einst glorreichen Arbeiterrevolution. Für Millionen
Unterdrückte und Geknechtete des kommunistischen Machtbereichs jedoch
avancierte er zum unbestrittenen Begründer, ja zum „Vater der Freiheit“
im Europa der Nachkriegszeit. Gorbatschow wurde, um es in pathetischer
Würdigung eines symphonischen Kunstwerks auf den Punkt zu bringen, zur
„Conditio sine qua non“ der Freiheit in Osteuropa. Ohne diese Persönlichkeit der Weltgeschichte sehe unser blauer Planet heute anders aus.
Warten auf … den Retter!
Als sich vor nicht all zu langer Zeit, im Jahr 2003, erstmals die Gelegenheit bot, diesem „Retter der Welt“,
denn nicht viel weniger war er in meinen Augen, von Angesicht zu
Angesicht gegenüberzutreten, Tuchfühlung aufzunehmen und ihm vielleicht
im innigsten Dank für das Unterlassene die Hand zu schütteln, nutzte ich
den Tag und die Gunst der Stunde und reiste nach Ludwigsburg.
Ludwigsburg,
der königliche Lustgarten Württembergs, war eine vertraute Stadt.
Früher, während den Anfängen meiner Studienzeit um 1983, als unsere
Kulturzeitschrift nomen konzipiert
und ediert wurde, kam ich regelmäßig in die alte Residenz. Nicht zum
eigenen Plaisir oder um dem mondänen Lustwandeln zu frönen, das seit der
Säkularisation auch die bürgerlichen Schichten des Volkes erfasst hat,
noch um das architektonische Erbe eines rücksichtslosen Autokraten zu
bewundern, der seine Untertanen bis nach Amerika verkauft hatte. Damals
lockte das schöne Ludwigsburg eher als Stätte der Literatur, als
künstlerischer Ort, wo sich Gleichgesinnte trafen, Intellektuelle und
kreative Köpfe aller Art, hauptsächlich aber Literaturschaffende,
Schriftsteller, Dichter und Kritiker. Sie kamen aus ganz
Südwestdeutschland und hatten sich zu einer losen literarischen
Gruppierung zusammengefunden, die unter dem bescheidenen Namen „Literateam“ fast
so bekannt wurde wie anno dazumal die Schwäbische Dichterschule um
Uhland, Schwab, Kerner und Lenau, dem schwarz gefiederten Raben aus
Ungarn.
Alle
paar Wochen trafen wir in uns ungezwungen in einer Schenke in der
Innenstadt. In Lesungen wurden eigene Kreationen dargeboten. Die
Teilnehmer diskutierten gemeinsamen Editionen, Anthologien und
anstehende Projekte. Wie in solchen Kreisen üblich, lamentierten,
polemisierten und stritten sie untereinander - doch mehr über
literarische als über gesellschaftliche Themen und ganz im Geist einer
dialektischen Streitkultur, die auf Erkenntnisgewinn setzt, ohne dabei
persönliche Animositäten und künstlerische Rivalitäten hervor zu kehren.
Kurz, alle lebten und erlebten das literarische Kunstwerk im
kommunikativen Miteinander und im Dialog. Da mich seinerzeit als
literarischer Ressortleiter der Zeitschrift nomen
überwiegend Fragen und Kriterien literaturwissenschaftlicher Wertung
beschäftigten, wurde ich von den meisten aktiven Lyrikern und Prosaisten
des Kreises als „Kritiker“
wahrgenommen. Herbert, den Freund fürs Leben, hatte ich in jenem Umfeld
zum ersten Mal als eigenwilligen Gedankenlyriker erlebt - und seine
siebzehnjährige Tochter Iris, heute eine zunehmend bekannter werdende
Malerin, die damals gerade mit dem Dichten begann. Doch das war zwanzig
Jahre her!
Inzwischen
war viel Wasser den Neckar hinab geströmt, und die Welt hatte sich in
einer Art verändert, wie ich es mir, als ich noch im Kerker saß, in
hoffnungsvollsten Vorstellungen nie hätte ausmalen können. Aus
Ludwigsburg, der beschaulichen Barockresidenz mit Nebengebäuden, war
eine richtige Stadt geworden. Und wie alle richtigen Städte der Neuzeit
wirkte sie im Alltag unmusisch und laut. Wo war die prunkvolle
Schlossanlage? Irgendwo hinter profanen Zweckbauten verborgen. Es
dauerte eine Weile, bis ich sie wieder gefunden hatte. Zielstrebig
steuerte ich auf die Veranstaltungshalle zu, wo das große Ereignis
stattfinden sollte. Eine Viertelstunde später fand ich mich dann in
einem großen Saal wieder, inmitten von Menschen, deren Blick
erwartungsvoll auf ein Podest gerichtet war, das weiter unten auf der
breiten Bühne aufgebaut den Mittelpunkt markierte. Sie warteten … und
ich wartete mir ihnen, doch nicht wie früher so oft auf die rettende
Hand der Gottheit, auf den „Deus ex machina“,
sondern auf eine Gestalt aus Fleisch und Blut, auf einen Heros der
Neuzeit und auf einen Charakter, der meinen Glauben an das Humanum
bestärkt und mein Hoffen auf Wunder intensiviert hatte.
Neben
mir ein bekanntes Gesicht - Michael, ein befreundeter Ökologe aus Bad
Mergentheim, der als Umweltaktivist über einen Naturschutzverband die
Einladungen zu der anstehenden Ehrung erhalten hatte. Nur galt die
Ehrung nicht ihm, noch dem Erzengel mit dem Flammenschwert. Geehrt
werden sollte „hier und jetzt“
der wohl bekannteste Namensvetter der Neuzeit - der andere Michael,
jene politische Persönlichkeit von Weltformat, die seit Jahren nicht nur
die Deutschen in den Bann geschlagen hatte - Michael Gorbatschow!
Eigentlich
stand er seit seinem etwas ruhmlosen Abgang nicht mehr ganz so oft im
Rampenlicht. Jelzin, der spätere Präsident des wie Phönix neu aus der
Asche der Geschichte emporgestiegenen Russland, hatte ihn gedemütigt und
entthront, indem er ihm Russland aus der Sowjetunion entführte. Ein
Kaiser ohne Imperium war Michael Gorbatschow,
als er ruhmlos abtreten musste wie schon andere Cäsaren vor ihm. Und
trotzdem! Im Bewusstsein der Menschen blieb er präsent - als
welthistorische Größe, die die Rosenspur der Neunten ermöglicht hatte.
Zumindest in meinem Bewusstsein war dies so. Ein Zufall? Während des
Wartens versuchte ich zurückzudenken und Gorbatschow in die lange Reihe
der Führungspersönlichkeiten einzureihen, die das Gesicht der
Sowjetunion seit den Tagen der Oktoberrevolution bestimmt hatten. Lenin,
Stalin … Gorbatschow! Wo stand er in der Hierarchie? Er, der erste
unter den Namen, der mir beim Aussprechen keinen Schrecken einjagte?
Die „Matroschka“ - sowjetische Geschichte im Zeitraffer
Entzündet
an einem Reisesouvenir aus Moskau, hatte ich mich gerade erst vor
wenigen Tagen mit dieser überragenden Persönlichkeit der Zeitgeschichte
beschäftigt und, ein naives Abbild in den Händen haltend, über
Gorbatschows Rolle in der Geschichte nachgedacht. Während eines
Mittagmahls bei guten Freunden in Wachbach war mir ein originelles
Mitbringsel aus Russland aufgefallen, ein Volkskunstwerk aus dem neuen,
vielfach veränderten Russland. Es war eine Matroschka, im Westen auch als Babuschka
bekannt - ein enigmatisches Präsent, das eines ist und auch keines ist,
weil es bei näherem Erkunden in immer kleinere Gestaltungen zerfällt
wie die Ringe einer Zwiebel in der schälenden Hand. Ideen kommen auf und
verfliegen mit jedem neuen Bild. Vielleicht, um auf diese heiter
amüsante Weise eine philosophisch tiefsinnige Botschaft zu vermitteln
als leiser Hinweis auf die Vergänglichkeit der Dinge, die da nur
flüchtig sind, um zu verkümmern und bald im Nichts zu entschwinden, je
mehr man sich Kern und Wesenheit nähert.
Nur
verkörperte jene Babuschka in meinem Händen nicht wie gewöhnlich eine
altrussische Puppenmatrone im Bauerngewand, sondern, die
identitätsbestimmende Tradition krass parodierend, eine politische
Variation. Auf jeder Hülle erschien das Konterfei eines Führers der
einst „glorreichen Sowjetunion“, beginnend mit dem Revolutionär Lenin
bis in die neueste Zeit mit Präsident Vladimir Putin als Endpunkt.
Putin, der neue starke Mann Moskaus auch heute noch, von dem sogar zu
befürchten ist, dass er das Rad der Geschichte noch einmal zurückdrehen
könnte, als Winzling! War das kein Sakrileg? Oder verwies die frivole
Parodie auf die neue Freiheit hinter den Kremlmauern?
Als
ich das grell bemalte Riesenei aus leichtem Ahornholz zu entpacken
begann und angestrengt mit etwas Geschick die naiv bemalten
Weichholzschalen staunend auseinandernahm, fühlte ich mich in eine
Zeitmaschine versetzt, die mich rasend schnell ein Jahrhundert
zurückkatapultierte, hinein in die Zeit der Oktoberrevolution, wo der
Winterpalast gestürmt und alle Romanows bald danach unmenschlich
exekutiert worden waren; schon fühlte ich mich zurück- und hinein
versetzt in das postzaristische Russland Lenins, Trotzkis und Stalins,
wo einst eine für viele Millionen Osteuropäer verhängnisvolle
Entwicklung ihren Anfang genommen hatte.
Indem
es Lenin nach Russland lotste und den bolschewistischen Aufruhr mit
substanziellen Geldmitteln stützte, hatte das Deutsche Reich als
Geburtshelfer einer neuen Ära mitgewirkt. Unbeabsichtigt hatte es dabei
mitgeholfen, die Weltanschauung des Kommunismus für viele Jahrzehnte zu
instaurieren, kurz bevor es selbst an sozialistischem Streben und
kommunistischen Umtrieben zerbrach. Es quietschte beim Drehen der
Eierschalen aus Lindenholz. Und jeder Schauerton brachte neue Gesichter
hervor - neue Physiognomien mit neuen Bildern und hundert Assoziationen.
Es war ein Ausflug in die „Geschichte der Sowjetunion“ im Zeitraffertempo, was sich mir darbot: rote Geschichte, blutrote und blutige Geschichte: Den Anfang als dickstes Ei machte „Lenin“,
der Ahnherr und Begründer der Sowjetunion und ihr unbestrittenes
ideologisches Haupt, Vorbild für Generationen bis zum Fall des
Weltreiches in jüngster Zeit! Er bildete übergroß und mächtig die äußere
Hülle des synthetischen Zwiebelrings. Sein Schädel hatte die Größe
eines Straußeneis. In Wladimir Iljitschs hohlem Bauch folgte dann, immer
noch gewaltig erhaben als Ei eines Aasgeiers, die eigentliche Ausgeburt
der bolschewistischen Revolution: der Menschheitsverbrecher avant la
lettre „Stalin“. Die Fratze des Stählernen ließ mich zurückschrecken - als Albtraum: „Väterchen Stalin“,
bei dessen erlösendem Tod Millionen weinten, war ein zynischer Tyrann
übelster Ausprägung, ein Diktator ohne Erbarmen, der unter den hundert
Völkern der Sowjetunion noch schlimmer gewütet hatte als außerhalb der
Staatsgrenzen im Krieg. Es war das schnauzbärtige Zerrbild des Bösen als
Gesicht eines Diktators, der nur noch mit einem „Untermenschen der Menschheitsgeschichte“
verglichen werden kann, mit einem Wahldeutschen, dessen Name in den
Ohren ganzer Völker so schrecklich klingt wie alles, was mit Stalinismus
assoziiert wird, in den eigenen. Wer war der größere Verbrecher: Hitler
oder Stalin? Eine Frage der Perspektive, auch aus historischer Sicht?
Die gesamte Biografie dieses menschlichen Zerrbildes war eine
Verbrechergeschichte - von Anfang an. Und der „Terror“, den er verbreitete, selbst im Kreis seiner engsten Angehörigen war schlimmer als die Angst vor dem Tod.
Aus
sicherer Distanz heraus setzte ich die Entblätterung fort. Dem
Stählernen folgte die rein physisch imponierende Puppe eines
Apparatschiks mit freundlichem Gesicht. Es war der immerhin schon
weitaus liberalere Chruschtschow, der ungeachtet
uneingeschränkter Parteiloyalität trotzdem den Mut aufbrachte, die
vielfachen Verbrechen Stalins offen zu legen, eine
Vergangenheitsbewältigung anzuregen und den Entstalinisierungsprozess
einzuleiten. Chruschtschow, ein agrarischer Mensch, der dem Bauer
und dem Rindvieh näher stand als orthodoxer Marxistendoktrin, hatte
eingesehen, dass eine Weiterentwicklung
der Sowjetunion nur nach Überwindung des stalinistischen Systems durch
breite gesellschaftliche Reformen erreichbar ist. Ideologisch zwar
weniger verbohrt als seine Vorgänger und nach wie vor schnöder
Machtpolitiker des Kalten Krieges brachte er die Welt an den Rand eines
alles vernichtenden Atomkriegs. Doch durch ihn wurde auch das „Phänomen
Solschenizyn“ möglich - und mit dessen Wirken eine Welle der Aufklärung
über die Welt des Kommunismus hinter dem Eisernen Vorhang, ein erster
Anflug von Glasnost und Perestroika. Ahnten meine Gastgeber, was in
meinem Kopf vorging, im Schädel eines Entsprungenen? Wohl kaum! Wer die
Heilslehre des Kommunismus nicht auf eigener Haut erlebt hat, der kann
auch nicht wissen, was der Kommunismus wirklich war. Sowjetischer
Imperialismus und osteuropäische Geschichte sind für viele Menschen des
Westens unbekannte, siebenfach versiegelte Themen.
Das bemalte Lindenholz wurde leichter. Die nächste Enthüllung förderte Leonid Breschnew an
das Licht der Welt, einen behäbigen Partei- und Staatschef, der als
kühler Machtzyniker alten Schlages in die Geschichte einging. Er stand für den Status quo im Ostblock, für das lodernde Prag und für einen auf Ewigkeiten zementierten Weltkommunismus. Stets hatte ich in ihm nur ein lebendes Fossil gesehen, eine Mumie, deren mentale Trägheit und Unbeweglichkeit für die Kontinuität
der Unterdrückung im gesamten Ostblock verantwortlich war. Er war der
gnadenlose Puppenspieler, der die Marionetten tanzen ließ, Ceauşescu und
Honecker, Gierek, Husak, Kadar und Schivkov - alle nach seiner Façon!
Panzer und brennende Märtyrer - das war sein Vermächtnis! An meinen
Augen huschten noch einige Schreckensgesichter vorbei, Führer der
Sowjetunion, doch Figuren des Übergangs wie der einstige KGB-Chef Andropow und der Parteisoldat Tschernenko. Ihre Namen waren so blass wie ihre Taten. Kaum einer erinnert sich noch ihrer flüchtigen Erscheinung.
Erst
spät in der Zeitordnung immer deutlicher zusammenschrumpfender
Puppenfiguren erschien als Kulminationspunkt dieses Ritus der
Enthüllungen der Mann mit dem Stigma am Haupt, der Gezeichnete, an dem mein Blick viel länger haften blieb. Der Auserwählte? Es war die einzige Ikone mit humanem Antlitz: „Michael Gorbatschow“.
Nur
war er in jener Puppen-Ordnung bereits winzig ausgefallen,
verschwindend klein, zum Taubenei reduziert, zum Friedenstauben-Ei und
kaum noch zu unterscheiden von den ihm nachfolgenden Jelzin und Putin.
Was hatten die von seiner wahren Größe? Nichts! Boris Jelzin,
der Restaurator Russlands, der alten Macht als Reich der politischen
und wirtschaftlichen Ohnmacht, schien als schmächtiger Schrumpfkopf
durchaus seinem „historischen Wert“
zu entsprechen. Wenn ich an ihn dachte, sah ich das Bild einer
angeheiterten, sinnenfreudigen Barockgestalt, die unter den Augen eines
lachenden Bill Clinton dionysisch enthemmt auftanzt und nach dem Ewig
Weiblichen greift, statt nach den Sternen.
Doch
ich erinnerte mich auch des überzeugten Halbdemokraten, der irgendwann
einmal auch wahre Größe gezeigt hatte, in einer glücklichen Stunde der
Geschichte, als er mutig antrat und vom Panzer aus von idealistischen Antrieben bestimmt zum Widerstand gegen totalitäre Restaurationsbestrebungen aufrief,
während sein Ziehsohn Putin, der unbemerkt die Stalin-Statuen ausgraben
und aufs Podest stellen ließ, mir künftige Rätsel aufgab. Als „Mann des alten Systems“ und
der KGB-Ordnung stützte er mit Geld und Macht den Stall, aus dem er
kam, den Geheimdienst, das mächtige Militär dahinter, die eigenen
Familien und ein Heer von neuen Oligarchen, während die große arme Menge
applaudieren durfte wie eh und je.
Alle Ikonen russischer Neuzeit standen bald vor mir in Reih und Glied auf dem weißen Tischtuch als makabre „Geschichte der Sowjetunion“ von Alpha bis Omega. Doch mich faszinierte nur eine Puppe: die mit dem Zeichen!
War
er der Auserwählte? Der von Gott Gesandte, der Retter? Michael – nomen
est omen, auch in diesem Fall? Lange betrachtete ich die Gestalt in der
merkwürdigen Ordnung, die die Werte verschob. Eine Ironie der
Geschichte?
Gorbatschow
als Endpunkt? Oder stand er für einen neuen Anfang, für ein
demokratisches Russland und für ein Entlassen der Völker in die
Souveränität und Freiheit? Manche, die den Untergang der großen Sowjetunion bedauerten, waren anderer Meinung.
Wer zu „Späth“ kommt, den bestraft kein Leben!
Jetzt,
im Saal, in der Erwartung der historischen Ausnahmepersönlichkeit,
waren die Reflexionen wieder präsent. Etwas unruhig sah mich um. Der
Einklang freudiger Erwartung bestimmte die Menschen im Saal. Viele der
Anwesenden hatten die gerade erst abgelaufenen Entwicklungen noch nicht
vergessen. Die Emotionen waren noch wach und drängten sich wieder auf.
Der Fall der Mauer – das Ende des Reiches des Bösen. Sie alle hatten die
Abläufe der Wiedervereinigung erlebt, auf ihre Weise, mit deutschen
Augen und mit deutschem Herzen erfühlt. Und weil es Deutsche waren,
interpretierten sie auch den Lauf der Geschichte, die ihnen die
nationale Einheit wieder schenkte, nicht nur rational, vielmehr aus dem
Gefühl heraus. Plötzlich wurde es still im Festsaal.
Unten, vor den Augen der Menge, betrat Michail Gorbatschow die Bühne. Frei und souverän als große Gestalt der modernsten Weltgeschichte.
Nach
Hegel und Nietzsche bestimmten die großen historischen Individuen den
Lauf der Weltgeschichte - die Cesare Borgias der Neuzeit, die Napoleons …
War Michael Gorbatschow einer von ihnen? Oder entsprach er doch eher
dem Typus des großen Humanisten nach dem Renaissancemenschen, der aus
tieferen ideellen Beweggründen wirkt und schafft?
Freundlich
in die Menge lächelnd und gewandt schritt er über die Bühne zum Podest
hin, wo er nach erfolgter Laudatio auch zu den Menschen sprechen sollte.
Doch wer würdigte seine Verdienste hier und heute? Späth, Lothar Späth? Einer, der diesmal nicht zu spät kam und dafür auch nicht vom Leben bestraft wurde?
Fast hätte ich ihn vergessen, denn neben Gorbatschow wirkte der oft gut
gelaunte und witzige Ministerpräsident der Badener und Schwaben außer
Dienst, den ich sonst sehr schätzte, so nebensächlich und fast trivial!
Gorbatschow
bestach und war so bescheiden und menschlich wie immer. Einige seiner
tieferen Züge, die auf ihre Weise mein Schreckensbild des Russen
korrigierten, hatten mich immer schon berührt. Sie hatte ihn mir, den
seinerzeit mächtigsten Mann des kommunistischen Weltreiches, in
unbestimmter Erinnerung an den eigenen Vater, intuitiv sympathisch
erscheinen lassen, von Anfang an, bereits zu einem Zeitpunkt, als andere
in ihm noch den „cleveren“ Public Relations-Künstler sahen, ihn gar in die Nähe des NS-Demagogen Joseph Goebbels rückten.
Mit dem Herzen sehen, ihn über die eigene Wesenheit zu erfassen,
das schien mir bei Michael Gorbatschow der wahre Weg zu sein.
Gorbatschow war mir einst im Traum erschienen, gleich nach seinem
Antritt als Lenker des Sowjetreiches, wohl als Projektion eigener
Erwartungen - als herbeigewünschter messianischer Hoffnungsträger, als
positive Rettergestalt, als weißer Ritter, voller Zuversicht, in
fernster Erinnerung an den triumphierenden Erzengel Michael, der sich
über die Bestie erhebt, zu dem ich oft als junger Ministrant in der
Dorfkirche hochgesehen hatte, wenn ich frühmorgens auf Knien die Litanei
absolvierte. Das Humane seines Wesens erwuchs aus dem Gesicht, dessen
milder, Vertrauen schaffender Ausdruck die künftigen politischen
Handlungen schon vorwegzunehmen schien. Und jetzt stand dieser
Hoffnungsträger, an dem zeitweise das Schicksal Europas, ja selbst der
Welt hing, als später Triumphator vor uns.
Michael,
mein Begleiter neben mir, strahlte - auch ich war tief erregt. Die
Macht des Augenblicks nahm alle ein. Manch ein Anwesender aus
Ludwigsburg und der Region um Stuttgart hätte das Idol gerne umarmt,
nicht nur Frauen, und ihm, dem Russen, die Hände geschüttelt. Die
alte Völkerfeindschaft zweier Weltkriege schien für alle Zeiten
vergessen und aufgelöst. Es war wie eine freie „Unio mystica“ der Masse
mit einer Idee - ein Zusammenfall der Gegensätze, eine „Coincidentia
Oppositorum“ lange getrennter Welten. Enthusiasmus lag in der Luft -
unmittelbare Begeisterung.
Sprache der Herzen
Die
Menge applaudierte, als er seine Appelle vortrug und zu den Menschen
sprach, spontan und natürlich - aus dem Herzen. Sein Ruhm war ihm
vorausgeeilt wie seine Taten, die diesen begründeten. Es war ein
cäsarisches Auftreten im freundschaftlichen Forum. Michael Gorbatschow
hatte schon gesiegt und gewonnen, bevor er gekommen war. Jetzt ging es
nur noch um das Ernten der reifen Früchte, um den späten Lorbeer, der
ihm hier - wie überall im wiedervereinten Deutschland - zufiel, während
ihm der Dank der Heimat versagt blieb.
Hier
im liberalen Südwesten war er wirklich willkommen. Seine entspannte und
erfüllte Mimik verriet es, dass er dies auch fühlte. Hier, in
Deutschland, war er zwar nicht daheim, doch zumindest in einer
Wahlheimat und unter Menschen, die ihm zugetan waren. Wieder warf ich
meinem Begleiter Michael einen nach Bestätigung der eigenen Gefühle
zielenden Blick zu, ohne dabei weiter an die Namenskoinzidenz zu denken
oder an die mythische Rettergestalt der Bibel. Michaels gütiges Gesicht
strahlte vor heller Begeisterung, ohne sich im Ausdruck von anderen
entzückten Gesichtern abzuheben; ob jung oder alt - die unmittelbare
Freude war greifbar. Es war ein kurzes Aufleuchten der Humanität in
einer immer noch schwer verfahrenen, wenn auch schon besser gewordenen
Welt. Eine
natürliche Begeisterung erfüllte den Saal, in dem eigentlich nichts
ablief, in dem sich nichts ereignete als ein „Akt des Bestaunens“ und
des „Staunens über den Gang der Geschichte“, deren Fortgang nicht nur
von Ideen bewegt wird, sondern auch vom Gefühl für das Richtige zum
richtigen Zeitpunkt aus dem Geist des Humanum.
Die
ganze Gestimmtheit des Raumes wurde nur von einer Person getragen, von
einer weltgeschichtlichen Größe, die mit der gleichen Natürlichkeit in
die deutsche Provinzstadt gekommen war, wie sie den heimatlichen
Kaukasus bereiste. Gorbatschow, ein Ausstrahlungsphänomen an sich,
wirkte durch die bloße Präsenz. Ein Nimbus war da, der nicht gesehen,
doch gefühlt wurde. Die Herzlichkeit der Menschen verwies darauf.
Vielleicht
hätte Hegel beim Anblick der Menschen in diesen Hallen das Walten des
Weltgeistes vermutet und Kant den Wink von den Sternen auf den ewigen
Frieden. Für Augenblicke schienen sich göttlicher Weltwille und
Individualwille zu durchströmen zu einem harmonischen Ganzen, aus
welchem das Böse gebannt war. Eine Illusion? Die Menschen hielten den
Atem an - überall gelöste Spannung. Etwas vom Hauch der großen
Geschichte durchwehte den Saal und erfüllte für kurze Zeit die ehemalige
Residenzstadt, die schon manche gekrönte Häupter gesehen hatte, selbst
Tyrannen und heimische Sklavenhändler.
Als
der Ritus der Ehrung vollzogen war, löste sich die allgegenwärtige
Spannung in stürmischen Ovationen - wie nach einer großen Operngala. Die
Menschen klatschten rauschenden Beifall und tobten teilweise vor
Verzückung - und dies lange Jahre nach Gorbatschows relativ glanzlosem
Abtritt. Sie würdigten damit auf ihre Weise die Tat einer
Persönlichkeit, die der Weltgeschichte einen neuen Lauf gegeben hatte.
Immer noch beeindruckt und gebannt von der besonderen Stimmung im Saal
überflog ich die Menge und musterte intuitiv die aufgehellten Gesichter -
es waren überwiegend schwäbische, deutsche Gesichter. Und was ich
erkennen konnte, das war Dankbarkeit; reinste, innigste Dankbarkeit.
Die
Menschen um mich herum, junge und alte Leute, bunt gemischt, mit
Videokameras und Fotoapparaten ausgestattet, beeilten sich, den
„Nachklang der Weltgeschichte“ für immer einzufangen, das hautnahe
Erleben eines besonderen Menschen, der das Gesicht der Welt zum
Positiven hin nachhaltig verändert hatte. Sie blickten auf einen leicht
gerührten, immer noch sehr menschlichen, ehemaligen Staatschef der
Sowjetunion, auf einen Charakter aus einer Welt, die Präsident Reagan als das Reich des Bösen bezeichnet hatte.
Und
sie sahen Bilder: Vielleicht sahen sie vor ihrem geistigen Auge, wie
der Stacheldraht durchschnitten wurde, wie Grenzen durchlässig wurden -
und sie erlebten vielleicht in innerer Sicht, wie Steine wankten und wie
die Mauer fiel; und sie fühlten, wie die große Freiheit, getragen von beethovenscher Musik, sich ihren Weg bahnt: „Freiheit schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“
… Friedrich Schiller, der Sohn aus dem kleinen Marbach am Neckar gleich
um die Ecke, hatte in Worten verdichtet, was Beethoven inspirierte,
lange nachdem Schiller der unfreien Karlsschule entflohen war. Dieser
humanistische Geist großer Individuen wirkte hier - Gut und Böse in
Versöhnung erlösend.
Weltgeschichtliche Ereignisse wurden für Sekunden zurückgeholt und erfüllten die Herzen der Menschen. Viele
waren gerührt - auch ich, ein Abgebrühter, dessen Tränensäcke fast
schon ausgetrocknet waren. Schließlich gehörte ich mit zu jenen, deren
Ideal sich erfüllt hatte, zu jenen, die die Freiheit schauen durften, auch das Gelobte Land, das andere Eden, die es betreten und genießen durften über die allseits präsente Freiheit.
Das war eine späte Satisfaktion der Geschichte - eine Genugtuung der
menschlichen Existenz: das Realität gewordene Humanum.
Der
ehemalige Staats- und Parteichef der bereits aufgelösten und in viele
Einzelstaaten zerfallenen Sowjetunion Michael Gorbatschow war als Haupt
seiner Stiftung nach Ludwigsburg gekommen, um für diese einen Preis,
eine Ehrung, entgegen zu nehmen. Er kam für das „Grüne Kreuz“, das er als ökologische Initiative alternativ zum „Roten Kreuz“ begründet hatte, um den Menschen zu signalisieren, dass
unsere gesamte Welt noch viel mehr Mitverantwortung für unsere
lebenswichtige Natur und Umwelt nötig hat. Diese Initiative sah er ganz
in der Tradition der gesamtpolitischen Verantwortung für die Welt, die
ihm einst als Staatsmann wichtig war; und die ihn bewogen hatte, so zu
handeln, wie er handelte, indem er für die Sache der Freiheit eintrat
und sie in seinem Einflussbereich ermöglichte. Das Grüne Kreuz,
dessen Symbolik bei mir so manche Assoziationen wachrief, fand den
höflichen Beifall der schon lange ökologisch sensibilisierten Menschen -
doch ihre eigentliche Begeisterung galt dem großen Staatsmann, der als
Apologet und Vollender politischer Freiheit in die Weltgeschichte eingehen wird.
Freiheit schöner Götterfunken
Als
ich abends, auf einer Liege zur Ruhe gekommen, noch einmal über die
Ereignisse des so angenehm verflossenen Tages nachdachte, die den
Verlauf der europäischen Geschichte nachhaltig zum Guten hin verändert
hatten, blendete ich intuitiv zurück und ließ die historische
Bilderfolge der letzten Jahre vor meinem geistigen Auge abrollen: den
Fall der Mauer - ein Jahrhundertereignis, dessen Bann man sich als
Deutscher kaum entziehen kann; Szenen aus der blutigen Revolution in
Rumänien, die in den Straßen meiner Geburtsstadt Temeschburg begonnen
und in der Hauptstadt Bukarest ihre Vollendung erfahren hatte. Wie
im Trance sah ich die Fahne im Wind, die Trikolore, aus der man die
kommunistischen Symbole der Macht gerissen hatte; auch sah ich
begeisterte junge Menschen auf den Straßen, die sich erstmals ihrer Freiheit
bewusst wurden - und ich sah einen enthusiastisch euphorisierten
Dichter, der umringt von jubelnden Landsleuten, den Sturz des letzten
großen Tyrannen in Europa und das Ende der kommunistischen Diktatur in
Rumänien verkündete. War das der Sturm auf die Bastille in neuen
Bildern? Europaweit fielen die Bollwerke der Unterdrückung in sich
zusammen wie morsche Bäume, die sich selbst überlebt hatten. Die
Morgendämmerung der Freiheit kündigte sich an - und die Glocken der Freiheit waren überall im Osten des Alten Kontinents zu hören, begleitet von der Symphonik eines Beethoven, der seine Musik der Freiheit schon fast zwei Jahrhunderte vorher für solche Augenblicke komponiert hatte.
Von
ihren symphonischen Klängen getragen fielen die kommunistischen
Basteien nach Ostberlin in Prag, Warschau, Budapest und Bukarest. Die
drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, entzogen sich
der sowjetischen Umklammerung, verkündeten ihre Souveränität und setzten
ihre alten demokratischen Verfassungen in Kraft, die seit der
Fremdbestimmung suspendiert worden waren. Gorbatschow
hatte diese Befreiungs-Prozesse ermöglicht, indem er kaum Panzer
schickte und keinen drastischen Schießbefehl erteilte.
Doch weshalb erklang gerade Beethovens Neunte auf den Straßen von Wilna? Der damalige Präsident Litauens, Vytautas Landsbergis,
der nicht nur ein kluger Politiker, sondern auch ein glänzender Musiker
ist, verwies auf den wahren Grund. Die Neunte, betonte er damals, sei
eine „Symphonie der Freiheit und des Sieges über Sklaverei, Heimtücke und tiefsten Hass.“ Damit hatte er nicht nur den Menschen aus der Seele gesprochen, die von der Freiheit der Musik getragen wurden. Er
hatte auch die „Konzeption eines Buches fast vorweggenommen, das erst
fünfzehn Jahre danach ohne Kenntnis des luziden Ausspruchs angegangen
wurde: dieses Buches in zwei Bänden!
US-Präsident George Bush,
der Vater des nicht ganz so glücklichen George W. Bush, zwei
Wahlperioden im gleichen Amt, der, wie andere seiner großen Vorgänger,
ein Visionär war und als Botschafter im Reich der Mitte tieferen
Einblick in die Welt des Kommunismus hatte nehmen können, würdigte den
Siegeszug der Freiheit in Osteuropa in einer richtungweisenden Rede vor Studenten an der University of Texas. Bushs von Pathos getragene Apologie der Freiheit kulminiert in der vielsagenden Erkenntnis, „die Zeit der Diktatoren sei abgelaufen“ - und dies
dank des mutigen Einsatzes von Widerständlern und Dissidenten aus
Osteuropa, die durch ihr persönliches Engagement die weltpolitischen
Entwicklungen erst möglich gemacht hätten.
Die Welt der Tyrannei und der Unterdrückung, von Präsident Ronald Reagan noch als Reich des Bösen
apostrophiert, in welcher den Menschen, fern von jeder Wahl, gesagt
wurde, was sie zu denken, zu lernen, wo sie zu arbeiten und zu leben
hatten, sei nur deshalb überwunden worden, weil mutige Menschen sich ihr
widersetzten: „Selbst im Angesicht des Todes leisteten sie Widerstand,“ betonte Präsident George Bush.
Der
amerikanische Präsident nennt in seiner Ovation des freiheitlichen
Widerstands einige geschätzte Widerständler und Dissidenten beim Namen.
Neben Andrej Sacharow, dem Ahnvater aller Dissidenten im Ostblock, hebt
er Arbeiterführer Lech Walesa hervor, den Elektriker aus Gdansk, dann
Václav Havel, den Dramatiker aus Prag, der für seine Überzeugungen lange
im Gefängnis saß. Neben den späteren Staatschefs Polens und Tschechiens
werden auch weniger bekannte Namen hervorgehoben wie Árpád Göncz,
seinerzeit amtierender ungarischer Präsident, der schon früher ein Mann
des freien Wortes war. In der kommunistischen Zeit agierte er als
konsequenter Dissident, während sein tschechischer Kollege aus der
gleichen Zunft, der Journalist Cestimir Suchy, nach 1968 sein Überleben
als „Fensterputzer“ sichern musste, weil er sich geweigert hatte, den
Einmarsch in Prag zu verharmlosen. Die Würdigung des Freiheitskampfes
der Völker, der von herausragenden Individuen getragen wurde, die nicht
alle namentlich genannt werden können, schließt mit den Worten: „Heute,
wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte, setzt sich die Freiheit in
der ganzen Welt durch, weil Freiheit funktioniert. Freiheit ist nicht
nur richtig, sie ist auch praktisch. Sie ist nicht nur gut, sie ist
besser. Und es ist auf den unzähmbaren Geist des Menschen
zurückzuführen, dass die Zeit der Diktatoren abgelaufen ist.“
Ein Name allerdings blieb bei Bush ungewürdigt. Der wichtigste von allen:
Michael Gorbatschow.
Ihn, der mit Glasnost und Perestroika all
das in Bewegung gebracht und ermöglicht hatte, was zur Befreiung der
Völker Osteuropas und der späteren GUS-Staaten geführt hatte, konnte
Bush im Jahr 1990, kurz nach dem Zusammenbruch der Warschauer
Pakt-Konstellation, als die Rede gehalten wurde, noch nicht würdigen.
Während die sogenannten „2+4-Gespräche“
geführt wurden, die eine Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichten,
zerfiel unter den Fingern Gorbatschows die Sowjetunion. Bush und
Gorbatschow standen sich auf dem seinerzeit bevorstehenden Gipfeltreffen
auf der Insel Malta noch als weltpolitische Gegner gegenüber, im
Gespräch zwar, doch immer noch mit unterschiedlichen Interessen und
Prioritäten.
Während
auf höchster Ebene verhandelt wurde, um die Welt trotz ideologischer
Diskrepanzen sicherer zu machen, ging der Siegeszug der Freiheit
im östlichen Teil Europas weiter. Die Balten waren die ersten unter den
ehemaligen Sowjetrepubliken, die ohne Blutvergießen in die Freiheit entlassen wurden. Andere Völker folgten der friedlichen Entwicklung.
Zu
Gewaltanwendungen und hohem Blutzoll kam es nur an einem Ort im
ehemaligen Ostblock - in der Diktatur Nicolae Ceauşescus, in Rumänien.
Der letzte der finsteren Despoten setzte weiterhin auf Repression, noch
1988 bereit, mit den Truppen des „Warschauer Paktes“ in Polen einzumarschieren, solange, bis die heraufbeschworene Gewalt sich gegen ihn selbst richtete.
Als Präsident Bush vor texanischen Studenten sprach, hatte sich Ceauşescus Schicksal bereits vollendet. Seit der Aburteilung im „Kurzen Prozess“
und der anschließenden Hinrichtung war ein halbes Jahr verstrichen.
Präsident Bush erwähnte Ceauşescus Namen nicht, als er vom Ende der
Diktaturen in Europa sprach, obwohl das Los des „letzten Diktators“ das überwundene Phänomen am treffendsten einfing.
Auch
wurden in der Rede keine rumänischen Andersdenker oder Dissidenten
genannt, so als ob es in Rumänien keine Dissidentenbewegungen gegeben
hätte. Dafür
gab es Gründe; viele Gründe, die mit dem Sonderweg der rumänischen
Diktatur zusammenhängen, mit einem Sonderweg, in dessen labyrinthisch
obskure Struktur erst jetzt in distanzierter Rückschau Licht und
Klarheit gebracht werden kann - und für diese Prinzipien, für Glasnost und Perestroika, steht ein Name der Freiheit: Michael Gorbatschow!
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