Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
4.
Arthur Schopenhauers „elitäres“ Verständnis von Einsamkeit -
nur wer allein ist, ist wirklich frei!
„Wer sich der
Einsamkeit ergibt,
Ach! Der ist bald
allein;
Ein jeder lebt, ein
jeder liebt,
Und lässt ihn
seiner Pein.
Ja! Lasst mich
meiner Qual!
Und kann ich nur
einmal
Recht einsam sein,
Dann bin ich nicht
allein.“
Goethe
Die Tatsache, dass Arthur
Schopenhauer die Problematik der Einsamkeit in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“,
genauer im neunten Abschnitt seiner „Paranäsen
und Maximen“ erörtert, unterstreicht recht deutlich die lebensphilosophische Relevanz des Phänomens.
Schopenhauer thematisiert in dieser Abhandlung zwar die
Einsamkeit an sich, sein besonderes Interesse aber gilt der Einsamkeit des
freien Geistes. Schopenhauer bewegt sich in diesem Text weitgehend innerhalb
stoischer Paradigmen, deren konstantes Grundmuster beibehalten wird: Einsamkeit
bedeute für den bewusst Lebenden, für den geistig autarken Philosophen
Selbstsein schlechthin. Selbstsein aber ist Freiheit. Beides, Selbstsein und
Freiheit, führen zum Glück. Also ist wahre Einsamkeit gleichbedeutend mit existenziellem
Glück und echter Lebensfreude.
Gestützt auf Aristoteles und Cicero, akzentuiert
Schopenhauer bereits am Anfang des Abschnittes die Selbstgenügsamkeit, um dann eine
Verbindung zwischen Selbstsein und Einsamkeit herzustellen: „Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange
er allein ist; wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die
Freiheit, denn nur, wenn man allein ist, ist man frei.“
Nicht anders als bei Rousseau, der die
Gesellschaft verteufelt, schränkt auch bei Schopenhauer die Gesellschaft, auch die so genannte gute Gesellschaft,
durch ihr oberflächliches Geartet-Sein die Freiheit des Einzelnen ein. Das
unmittelbare Selbstsein, wie es Mark Aurel und Montaigne anstreben, ist in der Gesellschaft vielfach
bedroht. Um gesellschaftsfähig zu sein oder zu erscheinen, muss das Individuum
Opfer bringen. Der Einzelne muss sich einschränken, sich zurücknehmen – und bis
hin zu „schwerer Selbstverleugnung drei
Viertel“
der Individualität aufgeben. Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum
Werte seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen oder lieben.“
Damit erhebt Schopenhauer die Einsamkeit für den, der sich zu ihr
bekennt, zum aristokratisch-elitären Charakteristikum des großen Individuums,
zum Kennzeichen des Auserwähltseins: „je
höher einer auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und
zwar wesentlich unvermeidlich.“
Nietzsches zentrales
Zarathustra-Wort: „Ihr Einsamen von
heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch
selber erwähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: - und aus ihm der
Übermensch“, ist
hier bereits vorweggenommen. Der Einsame ist demnach die geniale Natur, das
Genie schlechthin. Schopenhauers Begriff „Einsamkeit“
meint generell wahre, selbst gewählte
Einsamkeit, das heißt: „physische (äußere) Einsamkeit“ und „geistige
(innere) Einsamkeit“ fallen zusammen. Der Begriff „Einsamkeit“ und alle seine Ableitungen genießen extreme
Positivität.
4.1. Der Ungesellige - „Er
ist ein Mann von großen Eigenschaften.“
Dafür ist die
entgegengesetzte „Geselligkeit“
eindeutig pejorativ
besetzt. Mit La Bruyère, Chamfort und anderen kritischen
Moralisten kommt Schopenhauer zu der Schlussfolgerung, Geselligkeit resultiere lediglich aus der Unfähigkeit des Menschen „die Einsamkeit und in dieser sich selbst zu
ertragen.“
Der oft übel gelaunte und doch souverän argumentierende philosophische
Schriftsteller aus Frankfurt wird nicht müde, das gesellige Zusammensein als
schädlich anzuprangern: „Geselligkeit
gehört zu den gefährlichen, ja verderblichen Neigungen“
mahnt, ganz im Sinne des späten Lenau, Schopenhauer, eben weil dieses oberflächliche Miteinander in der Gemeinschaft den
Menschen verfälsche, entfremde, ihn von sich selbst weg führe, sein
eigentliches Sein zerstöre und ihn, den permanent Gegängelten und Verführten, der
Fremdbestimmung überantworte. Ergo macht angepasstes, gesellschaftskonformes Sein den Menschen unfrei. Zynisch pointiert
fügt Schopenhauer, dann noch hinzu, die Aussage, jemand sei ungesellig, besage schon: „Er ist ein Mann von großen Eigenschaften.“
Historische
Persönlichkeiten, ausgehend von der Antike, über die Renaissance bis in das 19.
Jahrhundert leuchten hier hervor, große Unverstandene,
epochemachende Individuen, die – weit über ihre Zeit hinaus – aus ihrem Selbst
heraus der Menschheitsgeschichte ihren Stempel aufdrückten, Gestalten wie
Alexander der Große oder Napoleon im Politischen oder Michelangelo oder Leonardo in der Wissenschaft und Kunst.
Im Gegensatz zu Seneca, der die
Antithese Alleinsein – Geselligsein
fast zweitausend Jahre vor Schopenhauer in seiner Auseinandersetzung auch mit Ciceros Rückzug nach Tusculum problematisiert, die Exklusivität des einsamen Lebens aber
nicht überbetont, sondern sogar relativiert, indem er recht versöhnlich auf das
gesunde Wechselverhältnis beider
Haltungen setzt, hält der deutsche Querdenker an seiner radikalen
Zuspitzung fest. Ein Leben in Einsamkeit
ist für Schopenhauer die dem Menschen angemessenste Lebensform, die Art des
Seins par excellence. Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann und wird
letztendlich auch zufrieden sein, versöhnt und in Harmonie mit dem Kosmos, und
zwar auf Dauer: „Überhaupt kann jeder im
vollkommensten Einklange nur mit sich selbst stehn, nicht mit seinem Freunde,
nicht mit seiner Geliebten; denn die Unterschiede der Individualität und
Stimmung führen allemal eine, wenn auch geringe Dissonanz herbei. Daher ist der
wahre tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe dieses nächst der
Gesundheit höchste irdische Gut, allein in der Einsamkeit zu finden und als
dauernde Stimmung nur in der tiefsten Zurückgezogenheit.“
Als genauer Beobachter
psychischer Phänomene hat der philosophische Schriftsteller und engagierte
Zeitkritiker auch eine eminent wichtige Finesse registriert und
herausgestrichen, jene „Dissonanz“, verursacht
durch „die Unterschiede der
Individualität und Stimmung“. Das mythische, schon von Platon übermittelte Zusammentreffen und Eins-Werden lange
getrennter Seelenhälften sowie den daraus resultierenden Zusammenklang der Seelen in absoluter Harmonie, kann es also nach
Schopenhauer - nicht geben, auch nicht in einer echten
Liebesbeziehung, weil sich immer eine auch noch so „geringe Dissonanz“ zwischen die Individuen schiebt. Andere sensible
Geister nach Schopenhauer, die als Dichter und
Denker vergebens nach jenem harmonischen Konsens fragten, werden diesem Apologeten der Einsamkeit recht geben, ohne Glück und Trost in der Geborgenheit
trauter Zweisamkeit zu suchen.
4.2. Die „Einsamkeit
ist das Los aller hervorragenden Geister“ - Ist der Mensch von Natur aus
einsam? Ist „Einsamkeit“ ein Wert an sich?
Ist
die Einsamkeit ein natürliches Phänomen des Menschseins? Oder ist Alleinsein
nur ein Charakteristikum elitärer Naturen, die diese Existenzform erwählen,
weil sie es so wollen?
Schopenhauer greift diese seit der Antike immer wieder
erörterte Fragestellung auf und kommt zur Schlussfolgerung, dass dies nicht
zutrifft. Einen Hang, eine Disposition, einen Trieb zur Einsamkeit hat man nicht von Geburt an. Dieser Grundzug
wird nicht vererbt, sondern Einsamkeit, die
Schopenhauer als Tugend empfindet, muss
man sich im Laufe des Lebens erst erarbeiten. Ein Kleinkind ist noch vollkommen
hilflos und auf sein familiäres Umfeld, seine Mitmenschen angewiesen. Während
auch dem heranwachsenden Knaben das Alleinsein
noch weitgehend unverträglich ist, erscheint die freiwillige Einsamkeit und das
selbst gewählte Alleinleben dem
reifen Manne hingegen schon leichter - Doch erst der Greis „findet an der Einsamkeit sein eigentliches Element.“
Das bedeutet, „dass die Liebe zur
Einsamkeit nicht direkt und als ursprünglicher Trieb auftritt, sondern sich
indirekt, vorzüglich bei edleren Geistern und erst nach und nach entwickelt,
nicht ohne Überwindung des natürlichen Geselligkeitstriebes.“
Der Mensch ist also von
Natur aus kein Einsamer, sondern ein Herdentier. Die Natur hat ihn dazu
bestimmt, sich zusammen zu rotten wie Tiere, wie Wildschweine, Wölfe oder
Schafe. Wie diese in der großen Formation, in der Rotte, im Rudel oder in der
Herde am besten bestehen und überleben können, so findet der Mensch sein
adäquates Auskommen und zugleich seine Wesensbestimmung in der Gruppe, im Volk,
im Staat, in der Gesellschaft. Also ist der Mensch doch das „Zoom politikon“ des Aristoteles, ein
gesellschaftliches Tier, das im Staat
Schutz sucht und diesen zum Überleben
braucht, während die Einsamen, die Melancholiker, die genialen Erscheinungen
nur als Ausnahmen gelten können?
Rhetorisch versiert, doch
im Denken und Handeln nicht immer ganz konsequent, ein Geist, der sich seine
Zurückgezogenheit ein Leben hindurch mühsam erarbeitet hat, weiß Schopenhauer ganz genau, wo er steht – oben, über den
Dingen, in guter Gesellschaft, als Olympier zwischen Auserwählten wie bald nach
ihm sein geistiger Ziehsohn Nietzsche: „Einsamkeit ist das Los aller
hervorragenden Geister.“
Wer
den steinigen und dornigen Pfad hinauf, zum Parnass, beschreiten will, muss ihn
sich hart erarbeiten, indem er als Geist und Schaffender, vor allem in
Wissenschaft und Kunst, Überragendes produziert, unvergängliche Werte schafft. Mit
seiner prägnanten Sentenz bringt Schopenhauer das, was Leonardo in
Überdruss und Absetzung vom Massenmenschen schon vorformulierte, noch einmal
dezidiert auf den Punkt: Für den Freigeist ist Einsamkeit Schicksal. Als
Schaffender muss er es annehmen. Einsamkeit
ist aber auch eine Sache des Bewusstseins, eine Existenzhaltung als Wert an
sich – und somit etwas, was einem nicht zufällt wie die reife Frucht vom Baum,
sondern im Denken und Handeln erarbeitet, ja erkämpft werden muss. Dahinter
steht die „conditio sine qua non“
aller schöpferischen Tätigkeit überhaupt: die Freiheit. Durch sein Streben
von der Masse weg hinein in die Lebensform
Einsamkeit erreicht der freie, schöpferische Geist einen Zustand, den die Strukturanthropologie Rombachs als „Idemität“
definiert. Er lebt in der Einsamkeit wie der Fisch im Wasser.“
Damit ist auch für den Freigeist, der die
„Überwindung des natürlichen Geselligkeitstriebes“ bereits hinter sich hat, der
Hang zur Einsamkeit ein wirklich naturgemäßer, ja instinktartiger.
4.3. Das Sein in der Einsamkeit als existenzielles Problem - Einübung in die zurückgezogene
Lebensführung.
Wie alle Einsamen seit
der Antike beginnend mit Extremphilosophen wie Empedokles, über einen Michelangelo und Rousseau, versteht auch Schopenhauer den Rückzug in die Einsamkeit primär als das
aristokratische Selbstgefühl des intellektuell hoch stehenden und überlegenen
Menschen. Sein mehrfaches Berufen auf andere Koryphäen der Einsamkeit, besonders auf Petrarca, Bruno, Angelus Silesius, Chamfort, La Bruyère, ja selbst auf Voltaire unterstreicht dies noch.
Lebensphilosophisch kritisch - und vorgewarnt durch Seneca - erkennt der empathische Seelen-Analytiker
aber auch im Sein in der Einsamkeit ein
existenzielles Problem, die Gefahr
der Vereinsamung. Deshalb fordert Schopenhauer, eine Art Einübung
in die zurückgezogene Lebensführung. Der Mensch soll bereits während seiner
Jugend die Herausforderung „Einsamkeit
ertragen“
lernen.
Ein weiterer Nachteil des
Lebens in freiwilliger Abgeschiedenheit, stellt der empathische Psychologe
fest, ist eine aufkommende, bis zur Mimosenhaftigkeit sich steigende
Übersensibilität des „Gemüt(s)“, das bei Alleinlebenden „so empfindlich“
wird. Also setzt Schopenhauer die Einsamkeit bezeichnenderweise nicht
absolut – und dies im Unterschied zu Nietzsche, der die einsame
Lebensform immer wieder bejahen und uneingeschränkt zelebrieren wird, obwohl
er, wie aus den Klartext redenden Briefen hervorgeht, sehr unter
melancholischen Heimsuchungen zu
leiden hatte.
Jenem, der sie längere
Zeit gut ertragen könne, empfiehlt der an sich recht gesellige Eigenbrötler –
in Absetzung zu Seneca, der stets für
ein Wechselverhältnis im ständigen Austausch plädierte – man möge einen Teil
seiner „Einsamkeit in die Gesellschaft
mitnehmen“,
um auch dort auch recht allein sein zu
können. Die innere Einsamkeit der
Mystiker, die überall praktiziert werden kann, selbst in der turbulenten
Großstadt der Neuzeit oder in vornehmen Palästen, wird damit – wie einst bei
Marc Aurel und Montaigne – der äußeren
übergeordnet.
„Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein
sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei der
Berührung von Mensch zu Mensch ‚in Gesellschaft’ – unvermeidlich-unreinlich
zugehen muß. Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann –
‚gemein’.“ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut
und Böse, §248.
Es gibt Menschen, die man nicht anders als
Durchgang von Speisen, Vermehrer von Kot und Füller von Abtritten nennen muß,
weil durch sie nichts anderes auf der Welt erscheint, keine Tugend sich ins
Werk setzt und von ihnen nichts übrig bleibt als volle Latrinen.“ In: Leonardo, Philosophische
Tagebücher. Italienisch und Deutsch. Zusammengestellt, übersetzt und mit einem
„Essay zum Verständnis der Texte“ und einer Bibliographie herausgegeben von
Giuseppe Zamboni. Hamburg 1959. S.
113.
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Books by author Carl Gibson, Germany. |
Bücher von Carl Gibson, zum Teil noch lieferbar.
Mehr zu Carl Gibson, Autor, Philosoph, (Vita, Bibliographie) hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/person/gnd/111591457
https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/
Copyright:
© Carl Gibson 2020.
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