„Menschenrechte“ und Menschenhass oder Wenn aus dem tierischen Melancholiker ein rechter Misanthrop wird - zu Caput V. Auszug und Leseprobe aus: Carl Gibson, „Atta Troll“ - Heinrich Heines poetische Zeitkritik Gesamtinterpretation. Geistige Strukturen in Heines vorrevolutionärem Kulturkampf gegen „Tendenzdichtung“, Pseudo-Humanismus, -Nationalismus, Religion und Biedermeier-Heuchelei, das neueste Werk von Carl Gibson, überall im Buchhandel!
„Menschenrechte“ und Menschenhass oder Wenn aus dem tierischen Melancholiker ein rechter Misanthrop wird - zu Caput V
Bereits in diesem Kernstück der Dichtung wird zum zentralen Generalangriff auf das Menschengeschlecht geblasen - in direkter Ansprache. Es ist die Abrechnung eines malträtierten Bären, der, krank am Herzen, nun Bilanz zieht:
„In der Höhle, bei den Seinen, / Liegt gemütskrank auf dem Rücken / Atta Troll, nachdenklich saugt er / An den Tatzen, saugt und brummt:
»Mumma, Mumma, schwarze Perle,
Die ich in dem Meer des Lebens
Aufgefischt, im Meer des Lebens
Hab ich wieder dich verloren!
Werd ich nie dich wiedersehen,“
Alte Sehnsüchte werden wach, Allzutierisches, Sensualistisches, lecken, schnüffeln, Honig und Rosendüfte, an schöne Zeiten aus der Vergangenheit erinnernd, während die Realität eine triste ist. Der Bär musste die Gefährtin zurücklassen. Das wird dem melancholisch Gestimmten jetzt schmerzvoll bewusst:
„Aber ach! die Mumma schmachtet
In den Fesseln jener Brut,
Die den Namen Menschen führet,
Und sich Herrn der Schöpfung dünkelt.“
Die gesamte Menschheit - eine „Brut“!?
Der - in der Bibel, im Alten Testament formulierte Anspruch, Krone der Schöpfung zu sein, wird - über den pejorativen Ausdruck „Brut“ - zurückgewiesen und als arrogant angeprangert, garniert mit einem Fluch[1]:
„Tod und Hölle! Diese Menschen,
Diese Erzaristokraten[2],
Schaun auf das gesamte Tierreich
Frech und adelstolz herunter,
Rauben Weiber uns und Kinder,
Fesseln uns, mißhandeln, töten
Uns sogar, um zu verschachern
Unsre Haut und unsern Leichnam!“
Die Legitimität dieses Tuns wird bestritten, strikt zurückgewiesen:
„Und sie glauben sich berechtigt,
Solche Untat auszuüben
Ganz besonders gegen Bären,
Und sie nennen's Menschenrechte!“
Verkehrte Welt[3]?
Nicht nur im Gedicht, auch in der Realität stellen die Menschen alles auf den Kopf, das Naturrecht ebenso wie den pervertierten Begriff „Menschenrechte“, der eingesetzt wird, um das Recht des Stärkeren durchzusetzen, das oft Unrecht ist.
Das Merkwürdige daran - und das ist ein schlauer Schachzug Heines - besteht darin, dass der Dichter hier mit der Ambivalenz des Begriffes spielt: Der Mensch, der noch nicht in der Lage war, „Menschenrechte“ für alle Menschen durchzusetzen, nutzt das - von Menschen gemachte - Recht, um Macht auszuüben, um über andere Menschen zu herrschen, aber auch über den Rest der Schöpfung, über Tiere, Pflanzen, ja - unter Missbrauch aller Ressourcen - über die Schöpfung selbst. Rücksichtlos stellt sich der Mensch außerhalb der Schöpfung und übt - zynisch, in Berufung auf Pseudo-Rechte und Gesetze - seine Macht aus.
„Menschenrechte! Menschenrechte!
Wer hat euch damit belehnt?
Nimmer tat es die Natur,
Diese ist nicht unnatürlich.
Menschenrechte! Wer gab euch
Diese Privilegien?
Wahrlich nimmer die Vernunft,
Die ist nicht so unvernünftig!“
Statt Naturrecht umzusetzen - und das Menschenrecht[4] ist ein Naturrecht, ein elementares, angeborenes Recht - entfernt der Mensch sich im egoistischen Drang mehr und mehr von der Natur, macht sie sich - auch noch in Berufung auf den Gottesauftrag aus der Bibel - untertan und beherrscht sie mit Macht.
Nicht nur „unnatürlich“ ist dieses Handeln aus der unmoralischen Machtentfaltung heraus, sondern auch „unvernünftig“, weil es in die Zerstörung mündet und später einmal sogar in die Selbstzerstörung führen wird.
Heines Bär, der die Naturrechtsdebatte[5] - beginnend mit Locke und Hume bis hin zu Kant genau verfolgte - hat es treffend auf den Punkt gebracht, im Geist der Franzosen seit Descartes klar und deutlich. Der Mensch versündigt sich an der Natur und handelt ohne Verstand gegen die Gebote der Vernunft aber auch der Moral.
Einmal in Fahrt gekommen, fährt der aufgeklärte Bär, der nicht nur tanzen kann, fort, dem teilweise der Hybris verfallenen, teils dekadent gewordenen Menschen den Marsch zu blasen, ohne zu vergessen, ihm einen echten Spiegel vorzuhalten, einen, der kein konstruiertes Zerrbild zeigt, sondern eine wahre Fratze.
„Menschen, seid ihr etwa besser
Als wir andre, weil gesotten
Und gebraten eure Speisen?
Wir verzehren roh die unsern,
Doch das Resultat am Ende
Ist dasselbe – Nein, es adelt
Nicht die Atzung; der ist edel,
Welcher edel fühlt und handelt.“
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, verkündete Goethe in der Hoffnung, man werde das Dichter- und Denkerwort eines Tages, wenn der Mensch zur Vernunft gekommen sei, beherzigen. Es war ein Ruf in der Wüste, in den Wind gesprochen: Goethe, Voltaire, Rousseau, Kant und andere aufgeklärte Mahner wurden überhört, weil der Mensch immer noch dort steht, wo er herstammt, nahe an der Bestie, fern vom geläuterten Humanismus, der Mitgefühl und Mitleiden auch mit den Tieren kennt. Edel fühlen und handeln - eine Fiktion, eine regulative Idee, die - vielleicht, wenn Nietzsche recht hat - dem Übermenschen vorbehalten bleibt, jenem höheren Neuentwurf, der sich zum Menschen verhält wie der Mensch zum Affen.
[1] Zum Aspekt des „Fluches“ und des „Verfluchens“ siehe den Exkurs zu Lenau und Heine weiter unten.
[2] Nach Ludwig Börne verhielt sich Heine - nicht anders als ein Platen in Italien - selbst wie ein Aristokrat, unsolidarisch mit dem Vierten Stand, mit der Arbeiterklasse, eine Haltung, die erst 1844, lange nach Börnes Tod, in dem Webergedicht revidiert wurde.
[3] Vgl. dazu Heines gleichnamiges Gedicht „Verkehrte Welt“
Das ist ja die verkehrte Welt,
Wir gehen auf den Köpfen!
Die Jäger werden dutzendweis'
Erschossen von den Schnepfen.
Die Kälber braten jetzt den Koch,
Auf Menschen reiten die Gäule;
Für Lehrfreiheit und Rechte des Lichts
Kämpft die katholische Eule.
Der Häring wird ein Sansculott',
Die Wahrheit sagt uns Bettine,
Und ein gestiefelter Kater bringt
Den Sophokles auf die Bühne.
Ein Affe läßt ein Pantheon
Erbauen für deutsche Helden.
Der Maßmann hat sich jüngst gekämmt,
Wie deutsche Blätter melden.
Germanische Bären glauben nicht mehr
Und werden Atheisten;
Jedoch die französischen Papagei'n,
Die
werden gute Christen.
Im uckermärk'schen Moniteur,
Da hat man's am tollsten getrieben:
Ein Toter hat dem Lebenden dort
Die schnödeste Grabschrift geschrieben.
Laßt uns nicht schwimmen gegen den Strom,
Ihr Brüder! Es hilft uns wenig!
Laßt uns besteigen den Templower Berg
Und rufen: »Es lebe der König!«
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 337-338.
[4] Das echte Menschenrecht, diese große Errungenschaft der Aufklärung und der Französischen Revolution, wird zu keinem Zeitpunkt von Heine in Frage gestellt. Selbst in der Darstellung aus der Tierperspektive heraus kommt es darauf an, den Begriff - nicht - zur Floskel verkommen zu lassen. Wer human geworden ist und die Menschenrechte in voller Tragweite erfasste, der respektiert auch die ebenso natürlichen, elementaren Tierrechte und verhält sich - wie von Schopenhauer eingefordert - entsprechend.
[5] Was nicht ignoriert werden darf: Heine, der beiden Rechte Doktor, wurde während des Studiums in Bonn, Göttingen und Berlin mit Fragen des Naturrechts und des Staatsrechts konfrontiert, auch kennt er die moralischen Implikationen. Später hat der Dichter ausdrücklich diese Passagen überarbeitet und konkretisiert, um dem Vorwurf der Kritiker aus der deutschnationalen Ecke und linken zu begegnen, er hätte die Errungenschaften der Französischen Revolution verhöhnt und lächerlich gemacht.
Carl Gibson, „Atta Troll“ - Heinrich Heines poetische Zeitkritik
Gesamtinterpretation. Geistige Strukturen in Heines vorrevolutionärem
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„Atta Troll“ - Heinrich Heines poetische Zeitkritik
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Neuerscheinung 2019:
Carl Gibson
Versuch einer ideengeschichtlichen Annäherung
ISBN
978-3-947337-10-1
1. Auflage, 2019
Copyright © Carl Gibson, Tauberbischofsheim.
Alle Rechte vorbehalten.
Aus
der Reihe:
Schriften zur Literatur,
Philosophie, Geistesgeschichte und Kritisches zum Zeitgeschehen, Band
1, 2019
Hardcover, 413 Seiten, Preis: 39,90 Euro.Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte und Kritisches zum Zeitgeschehen, Band 1, 2019
Bestellungen auch direkt beim Autor Carl Gibson
E-Mail: carlgibsongermany@gmail.com
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