Samstag, 26. Dezember 2020

Sind „Reichsbürger“ „Faschisten“, „Ewig-Gestrige“, die den Lauf der Geschichte nicht wahrnehmen wollen? Auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat im Reich der Wettermacher

 

 

Sind „Reichsbürger“ „Faschisten“, „Ewig-Gestrige“, die den Lauf der Geschichte nicht wahrnehmen wollen?

  Auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat im Reich der Wettermacher

Im Trotzenwollen, obwohl die Entwicklungen rund um die zwei verheerende Weltkriege Fakten geschaffen haben, irreversible Fakten, indem neue Grenzlinien gezogen, neue Besitzverhältnisse begründet und Millionen Menschenschicksale durcheinandergewirbelt wurden – mit Siegern und Besiegten, mit Tätern und Opfern, mit Kriegsgewinnern aller Art und mit vielen Verlieren, mit ungezählten Toten, nicht anders als in der Tagen des Alten Testaments, als besiegte Völker für immer vom Erdboden verschwanden, um anderen, Auserwählten, Übermenschen, blonden Bestien mit braunen Führern Platz zu machen im Aufstieg und Niedergang der Kulturen und Zivilisationen.

„Sind „Reichsbürger“ Faschisten“, 

wurde ich gefragt. Die Antwort fiel mir nicht leicht. Über einen Kamm scheren, Außenseiter, Andersdenkende auf einen Schlag diskriminieren, in eine Ecke stellen, ohne dem Phänomen selbst kritisch auf den Grund gegangen zu sein? Sonst gewöhnt, diverse Fragen stets differenziert anzugehen, wollte ich das eigentlich nicht. Deshalb antwortete ich, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, zunächst spöttisch:

„Es ist mir nicht bekannt, wie weit diese Leute in ihrer Identitätsbegründung zurückgehen, ob sie sich auf das von Bismarck 1871 geschaffene Reich berufen oder auf das Großdeutsche Reich des Adolf Hitler!?“.

Der eine oder andere Politikverdrossene geht vielleicht noch weiter zurück, bis hin in den Garten Eden, zu Adam und Eva oder in die Tage der Neandertaler, die auch schon in irgendeinem Reich lebten, in Südfrankreich und am Rhein.

Politisch frustriert, konstruiert man sich oft eine Fiktion, formt sich ein Weltbild, das man seinem politischen Umfeld, der Gesellschaft der Gegenwart, provokativ entgegenhält bis hinein in verworrene, in der Regel esoterisch begründete Verschwörungstheorien, die man bereit ist, heute politisch und mit Macht umzusetzen.

Das Phänomen „Reichsbürger“ war mir nicht ganz neu. Bereits während meiner Studentenzeit an der Universität Freiburg hatte ich solche Tendenzen im rechten Lager und Parteienspektrum beobachtet, um 1982/83, als sich die Grünen zur Partei formten und die Rechten – neben der NPD – in den „Republikanern“ eines gewissen Schönhuber eine neue politische Heimat suchten und für kurze Zeit auch fanden. Es gab damals schon Leute, Bundesbürger, die ihren gut aufbewahrten „preußischen Pass“, dort vorzeigten, wo man nicht genau hinschaute, etwa an der deutsch-österreichischen Grenze, um dann selbst etwas vorzulügen im wirren Glauben, Preußen bestünde fort!

Eine Selbsttäuschung, eine Art, sich selbst etwas vorzumachen, sich selbst zu belügen, nur, weil man die historischen Veränderungen nicht zur Kenntnis nehmen will. Für die sogenannten Reichsbürger besteht das Reich[1] fort – und die faktische Rechtnachfolge des Deutschen Reiches durch die Bundesrepublik Deutschland, deren Souveränität man bestreitet, wird nicht anerkannt, abgelehnt.

„Was das rechte Spektrum doch so alles an Polit-Sekten hervorbringt“, wunderte ich mich damals, als ich in einem Gespräch mit einem Akteur aus der ganz rechten Szene zur Kenntnis nehmen musste, er sei „Ludendorffer“!

Was ist ein „Ludendorffer[2]“!

Das fragte ich mich damals etwas verblüfft, ohne mir jedoch die Zeit zum Nachrecherchieren zu nehmen. Ein „Bund deutscher Gotteserkenntnis“ – was immer das auch sein soll!

Wer kennt heute noch den Namen des maßgeblich an der militärischen Führung des Ersten Weltkriegs beteiligten Erich von Ludendorff[3] in direkter Zusammenarbeit mit dem mythisierten Helden von Tannenberg, Generalfeldmarschall und späterer Reichspräsidenten von Hindenburg.

Erich von Ludendorf, Vater der Dolchstoßlegende, aktiv beteiligt am Kapp-Putsch und Hitler-Putsch, hat selbst keine verschwörungstheoretischen Schriften verfasst, aber die Gattin des großen Kriegers, Mathilde[4], ein Schrifttum der obskuren Art, in welchem alle ideologischen Feinde Deutschlands und der Deutschen aufgelistet sind: Juden, das Weltjudentum, die Freimauer, die Jesuiten.

Wer sich näher mit der Welt der Konspiration beschäftigen will, wer erleben will, wie Verschwörungstheorien wirken Menschen verwirren, mit irrationalen Argumenten auf geistige Abwege führen, Hass und Hetze schüren, der findet in jenen Mach-Werken der Autorin eine geradezu musterhafte, reiche Fundgrube der Manipulation und Deviation.

Unüberprüfbares, Rätselhaftes, Obskures übte immer schon eine merkwürdige Faszination auf Menschen aus, auf weltanschaulich Ungefestigte, die selbst unsicher und unkritisch – jenseits von Verstand und Vernunft - nach neuen Bahnen suchen, in Nebelwelten, in der Gerüchteküche, in synthetisch begründeten Mythen.

Es ist schwer, Menschen, die bereits Verschwörungstheorien, esoterischem Humbug und ähnlichen Verirrungen zum Opfer gefallen sind, die den Verführern und deren Hokuspokus gerne folgen, mit rationalen Argumenten zu begegnen. Politisch Frustrierte der Jetztzeit, unzufrieden mit dem „Über-die-Köpfe-der-Deutschen-hinweg-Regieren“ von Kanzlerin Merkel, suchen in jenen Sphären der „Wettermacher“ eine neue politische Heimat – und, wie es das Phänomen der „Reichsbürger“ und „Selbstversorger“ heute zeigt, finden sie diese auch!



[1] Mehr dazu ist nachzulesen u. a. auf der Seite des Bundesverfassungsschutzes oder bei Wikipedia.


Philosoph Carl Gibson, Weihnachten 2020, daheim, in Klausur.

 

Mehr zu Carl Gibson, Autor, Philosoph, (Vita, Bibliographie) hier: 

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)

 https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/person/gnd/111591457

https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/

 

 

 Copyright: © Carl Gibson 2020.




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