Finger
den Brief von mir schrieben, vernimm: ich war krank,
krank
am äußersten Rand einer Welt, die mir nicht bekannt ist,
war ich
verzweifelt beinah, ob ich noch würde gesund.
Kannst
du dir denken, wie jetzt, da ich liege in grausiger Gegend,
zwischen
den Geten es mir und den Sarmaten zumut?
Weder
das Klima ertrag’ ich, noch schmeckt mir das hiesige Wasser,
und es
missfällt auch das Land selbst mir, ich weiß nicht wieso;
kein
geeignetes Haus noch Speise, die nützlich dem Kranken;
keiner
erleichtert die Pein durch apollinische Kunst,
auch
kein Freund ist da, der mich tröstet oder die träge
weitergleitende
Zeit mir durch Erzählen vertreibt.
Müde
liege ich so in der Ferne bei fremdesten Völkern:
jetzt,
da ich leidend bin, spür’ ich, was alles mir fehlt;
alles
zwar fällt mir dann ein, doch du, Frau, gehst über alles,
mehr
als zur Hälfte gehört dir meines Herzens Bereich.“
Der gefeierte Dichter
von einst, fern von Rom, von allem abgeschnitten, verharrt allein in der Krankheit - Isolation und Deprivation werden ihm
schmerzlich bewusst. Die Entlegenheit in der bedrohlichen, einschränkenden
Eiswüste macht ihm zu schaffen. Er hat das Gefühl, tatsächlich am Ende der Welt
angelangt zu sein; eine Empfindung, die ihm noch bewusster wird, je mehr er
darüber nachdenkt. Dem großen Dichter Ovid fehlt vor allem das, was allen Einsamen aller
Zeiten fehlt – die Geborgenheit an sich
und in trauter Zweisamkeit, das vertraute Miteinander mit der zweiten
Seelenhälfte, mit der Lebensgefährtin und Ehefrau, die in Rom zurückbleiben
musste. Es wird nicht in seiner Macht stehen, diesen Zustand des
Getrennt-leben-Müssens abzuändern. Er wird auch keine neue Beziehung eingehen.
Und er wird sich unter den Einheimischen keine andere Frau suchen. Dem Poeta laureatus verbleibt nur das elegische
Klagen, Anklagen und das Beklagen seines Daseins in Einsamkeit auf der Bahn in
die Vereinsamung.
Bild
2.
Am
„Meer“
In den „Briefen“ (Epistulae ex Ponto) wird das Beklagen
der Isolation erneuert und verstärkt, wobei Ovid eine moralische Wertung des
Verbannungsortes einfließen lässt:
„Da
ich indessen das Land entbehre, wo einst ich geboren,
glaubt’
ich, ein menschlicher Ort werde mein Aufenthalt sein:
einsam
lieg’ ich am Strande des äußersten Endes der Erde,
wo
der Boden bedeckt bleibt von beständigem Schnee;“
Ovid klagt an. Er wird zum Zeitkritiker und tadelt,
an die Römer in Rom gerichtet, auf Fürsprache und Rettung hoffend, die inhumane
Verbannung als gängiges Mittel der Machtpolitik: Einen Menschen für längere
Zeit seines vertrauten Umfelds, seiner Heimat zu berauben, ihn zu zwingen, in
die Fremde zu gehen, eine seit dem Bestehen der griechischen Polis viel geübte
Praxis, ist an sich schon unmenschlich. Noch inhumaner aber ist die Verbannung
eines Geistes in die tatsächliche Wüste, an einen lebensfeindlichen Ort ohne
Frieden, wo nicht nur Äpfel fehlen und süße Trauben, Weiden am Ufer und Eichen
am Berghang, sondern auch die elementaren Lebensbedingungen wie Trinkwasser,
ein festes Haus und die höheren Notwendigkeiten eines hochintellektuellen
Menschen und Künstlers, die dieser zum seelischen Überleben braucht.
Ovid wird die in
intensiver Klage formulierten Gedanken vielfach leitmotivisch wiederholen, er
wird sie zur Anklage steigern und damit immer wieder auf sein
ungerechtfertigtes und ungerechtes Leiden hinweisen. Fern von der Hauptstadt
des Weltimperiums vermisst er vor allem die vertraute Sprache, das gepflegte
Latein, die Möglichkeit der direkten Kommunikation, die gesamte Welt der Kunst,
die geordnete Zivilisation, die manchen Qualen Linderung schafft, selbst in der
Krankheit. Die Gegend ist ihm, dem mediterranen Menschen aus Mittelitalien,
viel zu rau und abstoßend. Fast nur starres Eis und grimmige Kälte bestimmen
sein Umfeld. Selbst die Menschen um ihn herum, mit denen er sich anfangs nicht
unterhalten kann, deren Sprache er aber noch erlernen wird, erscheinen ihm
fremd. Er vermisst die vertraute Ansprache des Intimfreundes, die
gesellschaftliche Kommunikation auf dem Forum. Vor allem aber fehlt ihm, dem
Liebenden, die ihm zugeneigte Gattin, es ist die dritte Frau, die – wohl als
Teil, der perfiden Bestrafung – in Rom zurückbleiben musste. Der Liebesentzug
steigert die Verbannung des Einsamen zum andauernden Marter- und
Folterinstrument.
3. 2. Nemo propheta in patria?
Einsamkeit
Ich
grüße dich, du traute Einsamkeit,
Du
Stätte der Begeisterung und Weihe,
In Glück leb' ich und
in Vergessenheit
Hier
meiner Tage stille Reihe!
Ja
dir gehör' ich nun, und wende mit Verachtung
Vom
Lärm der Welt mich ab und beider Stille zu,
Dem
Nichtsthun das sich paart mit sinniger Betrachtung
Der
Eichenwälder Rauschen, der Felder heiler Ruh
Dein
bin ich nun! und, o, wie gern vertausch' ich
Den Glanz der Stadt und ihre Festgelage
Mit
deiner Fluren Pracht!
Puschkin,
aus dem Russischen von Friedrich Martin Bodenstedt.
Ovidius
Naso,
der hochsensible Poeta doctus, beklagt aus seinem Exil heraus auch immer wieder
den Verlust des ideellen Wertes Heimat: „patria“
– ein Sammelbegriff für alles Wertvolle, was der verbannte Dichter in Rom
zurücklassen musste. Zugleich befürchtet er, seine Grabstätte werde nicht im
heimischen Grund anzutreffen sein.
Ovid steigert Klage und Anklage, stets mit
Zuversicht, das Herz des entrückten Kaisers doch noch erweichen zu können. Er
hofft auf Milde und Gnade, auf Barmherzigkeit und letztendliche Rettung, obwohl
er weiß, dass Augustus, ein machtbewusster
Despot seiner Zeit, wie fast alle Cäsaren vor und nach ihm in vielen Dingen
willkürlich waltet und regiert, ohne Sinn für die Lamentationen eines
exilierten Dichters, der sich ungerecht behandelt fühlt.
Wenn die Griechen einen
ehrgeizigen Politiker, der nach der Macht griff, aus ihren Reihen entfernen und
für eine Weile aus den Mauern der Stadt bannen wollten, beriefen sie ein
Scherbengericht ein. In einem Ostrakismus-Verfahren
auf dem Areopag, an welchem sich tausende Bürger beteiligen konnten, wurde
dann plebiszitär-demokratisch über die direkte Meinungsäußerung im Einritzen
eines Namens auf eine Tonscherbe darüber entschieden, ob ein Einzelner, der
potenziell die Demokratie gefährdete und zur Tyrannis strebte, für einige Zeit
ins Exil geschickt werden sollte oder nicht. War der politische Einfluss des Verbannten
nach Jahren der Abwesenheit aus der Polis geschwunden, konnte er wieder ehrenhaft
als Bürger in die Stadt oder in den Staat zurückkehren, seine Stellung
einnehmen und wieder über sein temporär eingezogenes Vermögen verfügen.
Im Rom der Kaiserzeit
hingegen entschied zeitweise nur eine Person, nämlich der diktatorisch
agierende Cäsar selbst, wer zu gehen hatte, ob das, oft sehr
substantielle, Vermögen des Stigmatisierten beschlagnahmt werden sollte und ob
der Exilierte irgendwann heimkehren durfte. Der Entscheidungsakt verlief in solchen
Fällen in der Regel pseudojuristisch, nach Gutdünken, von politischem Kalkül
und persönlichen Launen des Despoten gesteuert, wobei sich auch die Würdigsten
im Staat den böswilligen Unterstellungen von Berufsdenunzianten nicht entziehen
konnten. Sowohl Cicero als auch Seneca mussten diese bitteren Erfahrungen machen, ebenso
der mit Lorbeer bekränzte Ovid.
Cicero wird noch
darüber klagen, dass selbst die Griechen das Mittelmaß kultivierten, indem sie,
im blinden Vertrauen auf das Maß, auch jene „viri optimi“ verbannten, jene Charaktere, die, fern von jeder
Hybris, nur kraft ihres natürlichen Wesens, ihres Wissens und ihrer Tugenden
den Durchschnitt amorpher Massenindividuen überragten.
Der Gedanke, zu Unrecht
zum Exil verdammt zu sein und in der fernen Fremde leiden und sterben zu
müssen, wurmte und kränkte alle. Doch bei Ovid, dessen Verbannung nur eine
milde „relegatio“ war, sollte
offensichtlich in einem einmaligen Präzedenzfall ein abschreckendes Exempel
statuiert werden. Denn offiziell wurde er für das Verfassen eines Werkes in die
Einsamkeit der Wüste geschickt, dessen Edition bereits acht Jahre zurück lag –
und dies von einem an sich verdienstvollen Kaiser, der sich paradoxerweise
selbst nach einem Leben in Muße und
Kontemplation sehnte.
3.
3. Kummer, „aegritudo“, „mania“,
„melankolia“ in Ciceros „Disputationes Tusculanae“ - Bellerophon, der antike Einsame, Unbehauste; Einsamkeit und Melancholie
in der mythisch-analytischen Zeitdiskussion.
Die beiden Stoiker und
Eklektiker Cicero und Seneca haben Verbannung, Exilsituation und die daraus
resultierenden Wechselwirkungen psychisch-geistiger Natur vielfach reflektiert,
stets gestützt auf eigenes Erleben. Ovid geht ähnlich vor, rational-analytisch und
poetisch zugleich. Da ihm noch mehr Zeit zur Verfügung steht als seinen nicht
minder bekannten Landsleuten Cicero und Seneca, die als
Schriftsteller primär eine kultivierte, wissenschaftlich fundierte Prosa
pflegen, fällt Ovids Auseinandersetzung mit dem Leben in unfreiwilliger
Einsamkeit umfangreicher aus, zugleich auch ungleich poetisch tiefer - in
mächtigen Elegien, in welchen Vereinsamung und Melancholie als anthropologische
Grundsituationen in vielfältigen Darstellungsvariationen Eingang finden.
Cicero jammerte bisweilen – nur ein Steinwurf von Rom
entfernt – im beschaulichen Tusculum
auch über das Menschenlos. Seneca, der deutlich
schwerer Getroffene, immerhin mehr als sieben Jahre auf der Insel, die den noch
berühmteren Korsen hervorbringen sollte, mitten im milden Mittelmeer. Doch Ovid, der Mensch des
Südens, wurde in eine abgelegene Winterwelt verbannt, ausgestoßen, an den „Strande des äußersten
Endes der Erde“, in barbarisches Hinterland mit lang anhaltender
Kälte, Eis und Schnee; in eine ihm unbekannte, nebelverhangene, melancholische
Landschaft, wo die Fische im Wasser des Hister, so nennt er die Donau, und des
Pontus festfrieren, wo der Wein zu Blöcken erstarrt und wo die Menschen, mit
dicken Tierfellen umhüllt gegen die grimmige Kälte sich wappnen, statt leicht
geschürzt und in Sandalen durch die Gegend ziehen.
Ovids Umgebung am
Schwarzen Meer war damals nicht – wie man es aus heutiger Sicht vielleicht
vermuten würde – eine warme Urlaubslandschaft, sondern vielmehr eine
unwirtliche, noch nicht erschlossene, fast lebensfeindliche Gegend, eine
Eiswüste, in der ein aus dem Land der Skythen einfallender Nordwind regiert,
ein frostiger Wind, der jedes Leben bedroht und alles zu Eis erstarren lässt.
Der sonnenverwöhnte Südeuropäer Ovid aus dem Land, wo die Zitronen blühen, wird mit
einer abweisenden, einer extrem lebensfeindlichen Umwelt konfrontiert, mit
einer Aura der Negativität, zu der er als mediterraner Mensch nur eine
permanente innere Abneigung entwickeln kann. Diese Aversion, diese geistige
Diskrepanz zu seiner Außenwelt, die ihn immer wieder in die Isolation und Einsamkeit zurück wirft,
kann Ovid nicht ablegen. Sie bleibt ein wesentlicher Grund seiner Klage:
„Darüber
hinaus ist nichts als unbewohnbare Kälte:
ach,
wie nachbarlich nah ist mir das Ende der Welt!
Fern
aber ist mir die Heimat und fern die geliebte Gefährtin,
fern
ist, was nach diesen zwein mir jemals lieb war und hold.“
Der Appell der Stoiker,
die eigene Geistigkeit in die Öde des
Exils mit zu nehmen und sich mit Vernunft und Verstand in Rückbesinnung darauf
stets neu zu entwerfen, eine Forderung, die Ovid im Ansatz bekannt ist, lässt sich nur bedingt
umsetzen. Die tatsächlich erlebte Welt ist mächtiger als der philosophische
Trost:
„Nie
wird mein Vers einen Freund durch Nennung aus dem Verborgnen
ziehen:
es liebe geheim mich, wer von je mich geliebt!
Dennoch
wißt: wie entfernt auch das Land, wohin ich
entrückt
ward,
werdet
ihr allzeit doch nahe mir bleiben im Geist,
und,
wie ein jeglicher kann, erleichtert irgend mein Unglück
und
dem Vertriebenen entzieht nie eure helfende Hand.“
Außer den Gütern des
Geistes und des Herzens Besitz ist alles vergänglich. Eine Vanitas-Stimmung
ergreift den Dichter, die seine innere Diskrepanz zur unerträglichen Umwelt,
die er hinnehmen muss, noch steigert. Sein Leben im unfreiwilligen Exil an der
Schwarzmeerküste wird von Kummer
bestimmt, von einem Zustand, der schon bei den alten Griechen zu den schlimmsten
Lebenslagen zählte.
Kummer, „aegritudo“, führt Cicero in seinem dritten Tusculum-Buch aus, wirkt
noch verheerender auf die Psyche des Betroffenen als der Brand der Begierde
oder die Angst. „Denn wenn jede
Leidenschaft ein Elend ist, so ist der Kummer ein mörderisches. Die Begierde
hat ihren Brand, die unmäßige Freude ihre Leichtfertigkeit, die Angst das
Demütigende, aber der Kummer ein noch schwereres Leiden, Verfall, Qual,
Niedergeschlagenheit und Verworfenheit. Er
zerfetzt und zerfrißt die Seele und vernichtet sie ganz. Wenn wir ihn nicht
beseitigen, so daß wir ganz frei von ihm werden, können wir vom Elend nicht
wegkommen.“
Mit dieser Beschreibung
umschreibt Cicero eigentlich auch schon mittelbar die
Seelenkrankheit Melancholie – in
erstaunlicher Nähe zur mittelalterlichen, christlich bestimmten „Acedia“ – ohne dass der Römer dabei den
- ihm wohl geläufigen Begriff der Griechenwelt „Melancholie“ (Schwarzgalligkeit) gebrauchen würde. Cicero vermeidet
den Sammelbegriff Melancholie, in welchem mittelalterliche Geister den Urgrund
aller seelischen Übel und Sünden sehen werden, weil er, wie weiter oben bereits
betont wurde, dem vage umschriebenen Ausnahme-Fall nicht die Bedeutung
beimisst, die ihm später Interpreten zuschrieben. Für ihn bleiben Melancholie
und Manie Akzidenzien des Grundphänomens „Kummer“: „Woher die Griechen das Wort [mania –griech.] haben, kann ich nicht
leicht sagen. Doch ihr Wesen unterscheiden wir besser als jene. Denn jenen
Wahnsinn, der, mit der Torheit verbunden, weit verbreitet ist, unterscheiden
wir vom Irrsinn. Die Griechen wollen dies auch, aber können es mit ihren Worten
nicht genügend. Was wir Irrsinn nennen, nennen jene [melankolia].“
Dass Ciceros Versuch einer Phänomen-Definition stark
verkürzt ausfällt, ist möglicherweise auch auf die ihm wohl bekannte
Positivwertung der Melancholie der Aristoteliker nach Aristoteles zurückzuführen, auf jene gern zitierte
Passage, in welcher – fälschlicherweise -
Genialität als die hervorstechende Eigenschaft des Melancholikers erscheint. Ist damit auch jedes Genie an sich
schon ein Kranker?
Das Verharren im
„Kummer“ führt, wie Cicero im gleichen Buch ausführt, zur Flucht in die falsche Einsamkeit,
zum Rückzug in die Welt der Stille und Abgeschiedenheit, aber zum falschen Zeitpunkt, also zu einer
Handlung, die das Leiden des Kummervollen noch verstärkt, statt es zu beheben -
wie einst im Mythos beim vereinsamten Helden „Bellerophon“, den Cicero nach Homer zitiert: „Trauernd
irrte der Unselige in den Aleischen Feldern, selbst sein eigenes Herz
aufzehrend, die Spuren der Menschen meidend.“
Dem genialen Ovid in Tomis am Schwarzen Meer ergeht es nicht
viel besser als dem einsamen Melancholiker des antiken Mythos, jenem Paradigma
des Sinnenden
im Schmerz. Muster und Motiv werden in den Faust-Gestalten
Goethes und Lenaus sowie in Franz Schuberts Vertonung von Wilhelm Müllers Lieder-Zyklus „Winterreise“
wieder zu neuem Leben erwachen.
3. 4.
Psychosomatik
Auch er ist in seinem
Elend gefangen. Die Folge seines Kummers sind psychosomatische Krankheitsprozesse, direkte Wechselwirkungen zwischen
Psyche und Soma, der antiken Welt seit Hippokrates und Aristoteles bekannt. Ovid, der kultivierte Römer, für den das griechische
Erbe aus Geist und Kunst Pflichtlektüre war, merkt deutlich, wie er einer Krankheit verfällt; einer seelischen
Verstimmung zunächst, dann einer richtigen Erkrankung der Seele mit eindeutigen
Auswirkungen auch auf die körperliche Befindlichkeit. Die Symptomatik aufziehender Melancholie, der Anflug von Überdruss,
Kraftlosigkeit, Apathie wird deutlich eingefangen. Der „Geist der Schwere“, von dem
frühchristliche Eremiten ebenso wissen wie aufgeklärte Dichter der Neuzeit vom
Format eines Nietzsche, überkommt den
Elegiker, wirft ihn zurück und lähmt ihn für eine gewisse Zeit. Trotzdem bäumt
der Poet sich noch auf, reflektiert seine Leidsituation und dokumentiert das
Erfahrene in Versen. Da ihm unter Geten und Sarmaten philosophische
Kommunikationspartner fehlen, verbalisiert Ovid seine Lage über die strenge
Kunst, einzelne Symptome des psychosomatischen
Wechselprozesses poetisch festhaltend:
„Weder
Gewässer noch Himmel noch Luft noch Erde ertrag’ ich:
weh
mir, beständig hält Schwäche den Körper in Bann!
Ob
nun mein krankes Gemüt sich mir schwer auf die Glieder
gelegt
hat,
ob
es die Gegend ist, die mich so elend gemacht,
seit
ich zum Pontus gekommen, verfolgen mich Träume, ich
bin
nur
Haut
und Knochen, es schmeckt keinerlei Speise mir mehr,
und
auch die Farbe, mit welcher der Herbst bei beginnender
Kühle
all
die Blätter durchdringt, die schon der Winter versehrt,
hält
meine Glieder gepackt, und ich kann mich nicht wieder erholen:
Grund
zu kläglicher Pein habe ich immer genug.
Besser
nicht geht’s meinem Geist als dem Körper, sondern
erkrankt
sind
alle
beide, und so duld’ ich verdoppeltes Weh;
nimmer
verlässt mich auch und gleichsam leibhaft vor Augen,
könnte
man sagen, erscheint mir meines Schicksals Gestalt:
wenn
ich den Ort dann, die Sitten, die Bildung und Sprache
der
Menschen
ansehn
muß und mir fällt ein, was ich bin, was ich war,
sehn’
ich mich so nach dem Tod, daß ich zürne der Rache des Kaisers,
weil
er nicht mit dem Schwert mich für die Kränkung
bestraft;
doch,
da er nun einmal im Haß sich milde erwiesen,
nehme
ein Wechsel des Orts meiner Verbannung die Qual!“
Wenn Seneca in dem Trostschreiben
an seine Mutter vom Wechsel des Ortes
spricht, ist das eine bewusst untertriebene, euphemistische Umschreibung des
Exils. Ovid, der Leidende,
hingegen hofft, ihm werde ein anderer Ortswechsel die erlösende Heimkehr
bescheren. Nur die Hoffnung auf Milde und Vergebung lässt ihn die Todessehnsucht überwinden und im Leben
bleiben.
Erstaunlich ist, wie
genau Ovid, der hier mit dem Gegensatz Körper – Geist, corpore und mens,
operiert, wobei das Seelisch-Geistige eine Einheit bildet, die an sich selbst
beobachteten, seelisch-körperlichen Zusammenhänge erkennt und bestimmt. Mit den
Erkenntnissen der antiken Medizin seit Hippokrates vertraut, spricht er klarsichtig von seinem kranken
Gemüt, von seinen Alpträumen,
die ihn seit seiner Ankunft verfolgen, von seinen psychischen Leiden, die eine körperliche und geistige Versteifung,
Lähmung und Schwächung nach sich ziehen. Appetitlosigkeit stellt sich ein,
gefolgt von physischen Schmerzen wie brennendes Seitenstechen.
Mit
dem seelischen Niedergang erschlaffen daraufhin auch die Muskeln des gesunden
Körpers. Hinter dem seelisch-körperlichen Verfall deutet
sich nach einiger Zeit schließlich auch ein nicht zu ignorierender
Identitätsverfall an – was ich bin, was
ich war – eine bedrohliche
Entwicklung, die Ovid jedoch kraft seiner starken Persönlichkeit aufzufangen
weiß, indem er wieder agiert und schöpferisch tätig wird.
Ovid, der Seelenkranke, verharrt immer wieder an
der Grenze zur Melancholie und taucht gelegentlich schon in sie ein.
Wenn die Schwarze Galle im menschlichen Körper zunahm und das Gefüge der Säfte
durcheinander brachte, kam es - nach der Auffassung der Griechen - zu einem Ausbruch der Melancholie, zu depressiven wie
manischen Zuständen. Die von Ovid an sich selbst beobachteten Symptome der Seelenkrankheit wie
Ruhelosigkeit, die ungesunde Gelbverfärbung der Haut, die nahende Verzweiflung
verweisen auf sein Ringen mit der Melancholie.
Bild
3.
Ovid-Büste in Bukarest
Aber der Poet wird über
sein Leiden triumphieren, indem er trotz allem aktiv bleibt und agiert. Ovidius Naso wird versuchen, in kurzer Zeit das Getische zu erlernen und selbst in
der Landesprache der Daker zu dichten, wo ihm doch bekannt war, dass auch der
König der Geten Verse verfasste. Das Festhalten an seiner Dichtkunst und der
Glaube an ihre Fortdauer über die Zeiten werden ihm helfen, die psychischen und
somatischen Beschwerden zu überwinden – und somit auch die Heimsuchungen der düsteren
Melancholie.
3. 5. Das „Schwarze
Meer“ und „Tomis“ – antike Unort(e)?
Faktisch ist es die
Arbeit an den Trauerliedern und an
den Briefen vom Schwarzen Meer, die
ihn im Leben hält. Und dabei hätte Ovid es viel einfacher haben können, wenn er
sich denn früher in Rom gegen die Kunst und für ein konventionelles Leben,
verbunden mit einer politischen Laufbahn, entschieden hätte. Ihm, dem von Haus
aus vermögenden Angehörigen des Ritterstandes, wäre das Amt eines Senators
sicher gewesen. Die Entscheidung für die freie Geistesentfaltung über die Kunst
aber bewirkte das Gegenteil. Sie machte aus ihm, dem gefeierten Dichter einer
großen Nation, einen unglücklichen Verbannten am fernen, gelben Meeresstrand,
einen melancholischen Bellerophon der Römer, dem nur noch die Freiheit verbleibt, dichtend zu klagen.
Wohin der Poet auch
blickt, umgeben ihn Zeichen von Bedrohung und Gefahr. Dieses Meer, von anderen
als das freundliche und gastliche gepriesen, erscheint ihm, dem am Mittelmeer
Aufgewachsenen, diesmal ins Negative transponiert – „Pontus Euxinus falso nomine dictus“, stellt er fest. Das „Gastliche Meer“ ist es nicht.
Ovid wird nicht müde das Gegenteil zu betonen: Es
ist vielmehr das dunkle und schwarze
Gewässer, das in seiner negativen Ausstrahlung der schwarzen Galle der
Melancholie nahe kommt. Angstvoll, von Stürmen bedroht, war er her gerudert
worden. Verzweifelt suchend rannte er später im Hafen von Tomis umher in der
Hoffnung, einen Schiffer zu treffen, mit dem er lateinisch oder griechisch
reden konnte oder gar einen Landsmann aus dem fernen Italien, der ihm Kunde
davon brachte, ob das aufrührerische Germanien seine Hauptstadt Rom bereits
unterworfen hat. Doch die Hafenstadt enttäuscht ihn zunächst nur noch wie das schwarze, die Melancholie stimulierende, Meer.
Tomis
– ein Unort? Ein unseliger Ort des Verderbens? Ein
verfluchter Ort ohne Glück, Hoffnung und Geborgenheit? Ein mythisch belasteter
Ort, an dem nichts Gutes entstehen kann? So etwa fühlt es Ovid. Ein alter
Mythos verweist darauf. Als wohl bester Mythenkenner seiner Epoche besinnt sich
Ovid auf die Geschichte von Medea,
die einst, vor der Rache des Vaters fliehend, an den Ort, wo Tomis begründet
wurde, geschifft worden sein soll. Als der rächende Vater ihr folgte, soll sie,
das Schwert in die Brust ihres anwesenden Bruders gebohrt, diesen darauf hin
zerstückelt und die Leichenteile auf den Feldern verteilt haben, um so den
trauernden Vater von seiner Rache-Tat abzulenken. Deshalb heiße Tomis Zerstückelung. Ein böses Omen - denn ein
vom Fluch belasteter Unort bringt nichts Segenreiches hervor.
Die Griechenkolonie
Tomis am Schwarzen Meer steigert sich im Empfinden des vorbelasteten Ovid zum locus terribilis, zur Brutstätte von
Einsamkeit und Melancholie – zum locus
horrios, zum schaurigen Ort, zum Schreckensort, wo kein Genius loci wirkt und waltet, sondern
der Schrecken selbst: „mitius
exilium faciunt loca: tristior ista terra sub ambulos non iacet ulla polis.“ - Kein traurigeres
Land unter der Sonne als dieses.
Die eisige Welt des
Saturn, der die Melancholie der Renaissancegenies wachrütteln wird, umgibt
bereits jetzt den römischen Dichter. Er hat das Gefühl, alles, das gesamte
Leben um ihn herum, sei vor Kälte erstarrt. Er müsse, fern der Sonne, im
unendlichen Winter leben, dort, wo der scharfe Nordwind regiert. Wenn der
nachsinnende Ovid sich dann bewusst macht, was er alles hinter
sich lassen musste, was er, wahrscheinlich für immer, verlor, die liebende
Gefährtin, gute Freunde, Achtung, Ehre, Ruhm und mit allem die Geborgenheit der
Heimat, kommt ein Gefühl besonderer
Verlassenheit auf; eine prometheische
Verlassenheit im Dauerschmerz,
die noch über den leiblichen Tod hinaus zu reichen scheint. Sein Exil empfindet der sensible Geist als
eine ganz extreme Form unfreiwilliger Einsamkeit.
Dem Verbannten bleibt
nur die Klage über den kontinuierlich erlebten Schmerz und die Hoffnung auf
geistig-metaphysische Kompensation. In patria,
im heimischen Grund will Ovid wenigstens begraben liegen. Zumindest seine
Asche soll, nachdem sich Geist und Seele in höhere Sphären erhoben haben, in
der Heimat ruhen und damit das endgültige Verbannt-Sein nach dem Tode aufheben.
Von diesem Trost getragen, erleidet er seine exponierte Situation als
Verbannter und Zwangsexilierter mit einem gewissen fatalistischen Heroismus in
einem stoischen Amor fati – ohne zu
resignieren mit dem Bewusstsein eines Dichters von Weltformat, der den eigenen
Wert kennt und der sich unerschütterlich mit einer gewissen elegischen Ironie
über das von Willkür bestimmte Schicksal erhebt.
Für seinen späteren
Grabstein, von dem er hofft, dass er – ganz im Geiste antiker
Bestattungstradition – in der Heimat stehen werde, entwirft er die epigrammatischen
Worte:
„DER
ICH HIER LIEGE, EIN SÄNGER DER ZÄRTLICHEN LIEBESGEFÜHLE,
DURCH
MEIN TALENT GING ICH, NASO, DER DICHTER, ZUGRUND.
DER DU
VORBEIKOMMST, LIEBTEST DU JE, SO MÖGEST DU GERNE SAGEN:
SANFT
IN DER GRUFT RUHEN SOLL NASOS GEBEIN!“
Es folgt der selbstbewusste Zusatz:
„Dies als
Grabschrift genügt; denn ein größeres Denkmal von
längrer
Dauer werden für
mich all meine Bücher sein;
Diese, so glaub
ich, werden, wieviel sie auch schadeten, ihrem
Schöpfer
künftigen Ruhm schenken und langen Bestand.“
Wie wahr, wie wahr! Der Nachruhm war abzusehen – ein
Oeuvre von weltgeschichtlichem Format war bereits geschaffen! Trotzdem hadert
der Exilierte immer noch still mit der Ursache seiner ungerechten Verbannung.
Ovid hatte nach bestem Wissen und Gewissen die „Ars amatoria“ gedichtet: Ein Buch für Liebende, mit besten
Absichten und fern von dem Gedanken, die Sitten Roms gefährden oder schwächen
zu wollen.
Die Sittlichkeit Roms – welch ein Hohn! Selbst vor
Caligula und Nero waren die Römer kein Volk von Traurigkeit und alles
andere als streng. Ovid bekennt sich schuldig, der Autor jener
Dichtung zu sein – und der Metamorphosen;
doch er lehnt es stets ab, darin ein Verbrechen zu sehen, wie dies Kaiser
Augustus in seiner Wertung tat, als er ihn aus der
Heimat verwies. Ovids Anklage geht über das Leben hinaus. Er sieht sich als Opfer, als tragisches Opfer, dessen Schuld nur darin
bestand, Talent besessen zu haben – keine Talente! Die Unerschütterlichkeit
des Weisen, der standhaft Unrecht zu erdulden weiß und sich des eigenen Wertes
bewusst seiend über die Dinge erhebt, eine philosophische Haltung, die Seneca aus eigener Erfahrung aber auch in Kenntnis
von Ovids Schicksal kaum zwei Jahrzehnte später formulieren wird, entspricht
nicht Ovids Haltung. Er hält den Vorwurf aufrecht – für die Nachgeborenen,
vielleicht in der Hoffnung, seinem Leiden dadurch einen höheren zu Sinn zu
geben. Im gleichen Atemzug appelliert er aber an die Solidarität aller
Liebenden, für die er stellvertretend, als einer von ihnen gehandelt hat, als
er die Bücher der Ars amatoria verfasste.
Vor allem von den Liebenden erhofft er Anteilnahme und Verständnis.
3. 6.
Künstlerisches Schaffen in Einsamkeit an
sich und als Selbsttherapie
In späteren
Jahrhunderten, vor allem beginnend mit Petrarca, wird die selbst gewählte, die freiwillig begründete
Einsamkeit zum Schaffen eines Kunstwerks eingesetzt. Sie wird zur Schaffensbedingung sowohl für das klare,
folgerichtige Denken wie für das besondere Kunstwerk in Musik, Malerei,
Bildhauerei und Literatur.
Ovid nimmt diese segensreiche Entwicklung bereits
vorweg, indem er die zwanghaft herbei
geführte Einsamkeit-Situation zum gleichen Zweck umfunktioniert. Wie kaum
ein anderer vor und nach ihm nutzt er die
bittere Lage des Exils mit all ihren Unzulänglichkeiten, um künstlerisch
kreativ zu sein, um zu agieren und über das zu schaffende Kunstwerk die
Leidsituation zu überwinden. Der Schaffensprozess
rückt in den Vordergrund und erhebt sich
auf eine Ebene zum Kunstwerk selbst, das Selbstzweck ist und gleichzeitig
auch nur Mittel zum Zweck. Die besondere Entstehungssituation führt zu dieser
sehr seltenen Wertigkeit. Eines wird das andere bedingen. Der Antrieb des Ganzen ist jedoch der starke, produktive Wille, über
das sinnsetzende Schaffen und das Werk, das zurückbleibt, letztendlich auch die
Seelenkrankheit zu besiegen.
Ovid weiß genug von
Melancholie und den mitschwingenden, körperlich-seelischen Wechselbeziehungen,
um das Seelenleiden, das ihn befallen hat, eindeutig als Krankheit zu identifizieren. Mehrfach verweist er darauf:
„Denn
am Gemüt erkrankt, übertrug ich das Weh auf den Körper,
daß
nur ja nicht ein Teil frei von der Peinigung bleibt.
Viele
Tage hindurch hab’ ich brennenden Schmerz in der Seite,
die
mir des Winters Wut sehrte mit grimmigem Frost.“
Der Niedergang wird ihm
bewusst, und der sensible, fast hypochondrisch sich selbst beobachtende Dichter
fühlt, wie die kranke Seele den Körper
mehr und mehr hinab zieht. Eine das kreative, künstlerische Schaffen
beeinträchtigende, körperliche Schwäche verweist auf den drohenden Tod in der Einsamkeit
des Exils am Pontus.
„Glaubt
mir, es geht zu Ende; mich lässt mein entkräfteter
Körper
ahnen:
nur wenige Frist dauert mein Leiden noch an.
Hab’
ich doch weder die Kraft noch die Farbe, die früher
gewesen:
kaum
eine magere Haut hüllt meine Knochen noch ein.
Aber
im krankenden Leib ist ein kränkerer Geist: unaufhörlich
steht
er in seines Geschicks düstre Betrachtung versenkt.“
Der medizinische
Grundsatz der Alten, mens sana in corpore
sano, steht somit auf dem Kopf. Trefflicher kann es Ovid kaum noch ausdrücken: die kranke Seele macht auch den Körper krank. Das psychische Leiden
geht dem somatischen voraus. Dieser Prozess, den kein geringerer als der
große Michelangelo Buonarroti
im verwandten Lamento-Stil aufnehmen und in einer – unten vollständig zitierten
- misanthropischen Selbstreflektion in Versen verewigen wird, ist heute nicht
anders. In dieser Situation des
allgemeinen Niedergangs stürzt sich der Dichter, der sich krankheitsbedingt
mehr und mehr zum Melancholiker wandelt, auf die sinnsetzende Kunst. Er
bäumt sich wieder auf und nützt die selbst geschaffene Poesie als Therapeutikum, um über das zu entstehende Kunstwerk Melancholie und körperlichen Verfall zu besiegen.
Die Weisheit ist, nach Cicero, die Gesundheit
der Seele, während die Torheit, die
man auch Wahnsinn und Verrücktheit nennt oder
missverständlich verkürzt auch Melancholie,
ihre Krankheit verkörpert. Doch wie der Weise sich selbst hilft, die Philosophie als Universalheilmittel
einsetzend, so mobilisiert Ovid die geistigen und seelischen Widerstandskräfte
des Organismus, indem er ungeachtet aller Leiden positiv denkt und gleichzeitig
künstlerisch handelt.
Neu ist: Das Exil in Einsamkeit diktiert auch den
Stil. Was früher in der „Ars
amatoria“ und in den „Metamorphosen“ noch
zuversichtlich, heiter, ja humoresk vergnügt klang, wird nunmehr ins Traurige
transponiert: Aus Dur wird Moll. Das Charakteristikum der „Tristia“ – das sind tiefe Tristesse, Skepsis, Pessimismus, ja
Nihilismus und Melancholie. Die typische elegische Grund-Gestimmtheit jener
Tage beeinträchtigt das entstehende Kunstwerk zwar, sie hemmt den Fluss der
Gedanken und vielleicht auch die Genialität des Ausdrucks, aber sie verhindert
die Dichtung nicht vollkommen: Die Poeme der „Tristia“- Sammlung entstehen trotzdem – im Amor fati und gleichzeitig in heroischer Auflehnung gegen das
ungerechte Schicksal:
„Ich suche, wie ich nur kann, im Gedicht Trost für mein
trauriges Los;
ist hier auch keiner, um ihm zu Gehör meine Verse zu bringen“ .
Wie das Wasser in
Bewegung bleiben muss, um nicht zu verderben, kommt es darauf an, weiter zu
dichten und dadurch konstruktiv kreativ tätig zu sein. Es gilt, der lähmenden Langeweile und dem Nichtstun
das schöpferische Schaffen entgegen
zu stellen, den positiven Akt des Handelns:
„Darum,
weil ich noch lebe und trete entgegen der Drangsal,
weil
mich des Lebens Verdruß doch nicht mit Ekel erfüllt,
sag‘
ich, Muse, dir Dank: denn du hast Trost mir geboten,
du,
die mir Ruh’ in der Qual, du, die mir Linderung bringt!“
Die Arbeit am
Kunstwerk, das konkrete Dichten in gepflegtestem Latein, von dem er befürchtet,
es könne durch das barbarische Umfeld Schaden nehmen, der Umgang mit dem
Griechischen und mit der umfassenden Mythologie der antiken Welt, trainieren
seine Fertigkeiten und vermitteln ihm gleichzeitig eine geistige und sprachliche Geborgenheit.
Was das bildungsarme
Umfeld nicht zu geben vermag, das leisten Kultur und Sprache und die
Rückbesinnung auf die philosophischen und poetischen Werke der Vorgänger der
antiken Welt. Das eigene poetische Schaffen erfüllt seinen Zweck, indem - in
der Auseinandersetzung mit dem bereits geschaffenen Oeuvre von literarischem Weltniveau
- neue Werke der Poesie entstehen. Mit demselben Prozess werden aber auch
drohende melancholische Heimsuchungen vereitelt oder im kreativen Schaffen
bewältigt, insofern sie doch einsetzen. Ovid erhält sich dabei eine besondere Souveränität
des freien Geistes, der, sich seines Wertes bewusst seiend, auf keine
augenblickliche Rezeption angewiesen ist. Obwohl er den
zarten Kunstfreund gerne an seiner Seite hätte, der manchen Aspekt mit ihm
bespricht und korrigiert, geht er seinen
Weg auch allein, überzeugt davon, für die Ewigkeit zu dichten. Alleinsein und Einsamkeit sind noch keine
Gründe, um kläglich zu versagen, zu resignieren – weder künstlerisch, noch
existenziell. Obwohl zu unfreiwilliger Einsamkeit verdammt, sucht Ovid sogar
noch das Agieren in Einsamkeit, „solus
agam“ – also die bisweilen selbst
gewählte Einsamkeit, um aus ihr heraus kreativ zu sein, um sich so über
beide Einsamkeiten zu erheben:
„Wem
sollt’ ich hier meine Dichtungen sprechen als blonden Corallern
und
was am Hister noch sonst lebt an barbarischem Volk?
Aber
was soll ich allein? Mit welchem Geschäfte vertreib‘ ich
leidige
Muße, womit sollt’ ich vergeuden die Zeit?“
Da ihn der Wein ebenso
wenig reizt wie das zeitabtötende Würfelspiel, die Feldarbeit, das Kriegshandwerk
oder der oberflächliche Liebesgenuss, den er von seinem traurigen Bett gern
fernhält, bleiben als Trösterinnen in kalter Zeit nur höhere Genüsse, die
Poesie und die Musen. Deshalb wird der Dichter sich selbst stimulieren, im
erhebenden Zuruf:
„Du
aber, der du ja glücklicher trinkst aus dem Borne der Dichtkunst,
liebe
die Arbeit, die schönen Erfolg dir gewährt,
weih
dich – du darfst es – dem Dienste der Musen, und schaffst
du
ein neues
Werk,
so schick es alsbald, daß ich es lese, mir zu!“
So klingt ein frühes „Ora et labora“. Götterdienst und
künstlerisches Schaffen lassen sich harmonisch und sinnvoll miteinander
verbinden.
Angesichts der zahlreichen melancholischen Passagen in
Ovids Spätwerk kann die berechtigte Frage gestellt werden, ob der einst
heitere Ovid in die große Familie genialer Melancholiker
als eine ihrer bedeutendsten Koryphäen aufgenommen werden kann. War auch Ovid ein Melancholiker?
Wenn überhaupt, dann
war er wohl kaum ein Schwermütiger der reinen Sorte, denn dieser Poet von
Weltruf war nicht von Anfang an der Melancholie zugeneigt, gar zu ihr
disponiert! Die Verneinung eines Ovidschen
Melancholikertums ist vor allem dann begründet, wenn im genuinen Melancholiker ausschließlich der
Manisch-Depressive gesehen wird, also in jenem Typus, wie ihn, laut Ficino, im Rom jener Tage möglicherweise Titus Lucretius Carus,
der Schöpfer des Lehrgedichts „De rerum
natura“, verkörpert haben soll, ein Epikureer und Dichter von Rang, der als
Verzweifelter im Freitod aus dem Leben schied. In Ovids teils milden, teils
tief elegischen Dichtung fehlt der krasse Gegensatz zwischen dem
symptomatischen, dem Melancholiker bestimmenden Gegensatz von „Himmelhochjauchzend“ (Manie) und Zum Tode betrübt (Depression). Ferner
fehlt das Manische beim späten Ovid vollkommen - und mit ihm vermisst man in
seiner luziden, logischen Vernunft-Dichtung alles Entrückte oder Verrückte,
Aspekte, die wesentlicher Teil der Melancholie-Krankheit sind. Ovid tangiert zwar in bitterer, fast
verbitterter Klage die Schwelle zur Melancholie, die Passivität, Stillstand und
Verzweiflung bedeutet – aber er passiert sie nicht.
Der Poet, der sich nicht das Leben nehmen, sondern als
alter Mann am fernen Meeresstrand sterben wird, verharrt an der Grenze, schaut hinüber, fühlt mit und berichtet in
seiner Poesie, die höchst zutreffend „Lieder der Trauer“
genannt werden dürfen, was er erkennt, erfährt und erleidet. Wie später
Goethe, der diesen
ganz Großen unter den Dichtern der Römer gründlich studiert hat, teilt der Poeta laureatus seinen Zeitgenossen –
auch in Rom, wo er immer noch gelesen wird – und den fernen Nachgeborenen mit, was er erleidet, mehrfach und immer wieder,
klagend und zugleich anklagend. Insofern schafft Ovid, über die poetische Arbeit am Mythos hinausgehend,
existenzielle Dichtung, ohne in der
exponierten Situation, in Einsamkeit und Vereinsamung, zu Grunde zu gehen
3. 7. Melancholie und Versöhnung – Concordia und Amor fati
Gegen Ende seines
disharmonischen Lebens in der Einsamkeit der Fremde mischen sich auch einige
schrille Töne des Überdrusses in Ovids klagende Dichtung. Den ewig auf Gnade
Hoffenden, der während all dem Warten deutlich alterte, dessen Haare grau
wurden und dessen Haut Falten warf, beschleichen nun doch noch Anflüge von
Verärgerung und existenziellem Überdruss. Rom, mit dem er ungeachtet des
Abgeschottet-Seins durch Entfernung immer noch in Kontakt steht, ignoriert ihn
weiter – auch über Augustus Tod hinaus und ruft ihn nicht zurück. Keiner
seiner vielen Freunde und Bekannten aus besseren Tagen hat ausreichend Macht
und Einfluss, ihn zurück zu holen. Immer weniger Römer nehmen Anteil an seinem
Schicksal. Aus den Augen, aus dem Sinn? Kein Wunder, dass ihn, den Ignorierten
und fast schon Vergessenen am äußersten Außenposten der römischen Zivilisation,
Selbstzweifel überkommen und Verärgerung über die – so erscheint es ihm jetzt -
eigene Torheit seiner Jugend. Seelisch wankelmütig geworden und existenziell
stark verunsichert, stellt er jetzt selbst das Verfassen der „Ars amatoria“ leicht in Frage, darin
eine Torheit erkennend, einen von Hybris bestimmten jugendlichen Akt des Wahnsinns,
der ihm das halbe Leben zerstört habe. Kaum ein Poem, kaum eine Epistel
verschweigt seine Dauer-Klage, die zur Anklage und auch zur Selbstbezichtigung
ausgeweitet wird. Erst als der Dichter fühlt, dass es mit dem Leben zu Ende
geht, gibt er die Selbstvorwürfe und das zersetzende Hadern mit sich selbst
auf. Nach der langen Auseinandersetzung mit der intuitiv immer noch bewunderten
Allmacht Roms einerseits sowie mit der oft inniglich verachteten Lebenswelt des
kulturlosen, bildungsfernen Barbarentums um ihn herum, versucht Ovid, seinen Frieden
mit der Welt zu machen. Erst im fortgeschrittenen Alter ist der Poet bereit,
die vom allmächtigen Schicksal und den fernen Göttern auserkorene Passion
endgültig anzunehmen. Ihn, den Pazifisten, der ständig unter dem Pfeilhagel
kriegerischer Geten und Skythen leben musste, der gelegentlich sogar gezwungen
war, mit zu kämpfen, überkommt nun eine große Friedenssehnsucht, ein tieferes
Streben nach universeller Harmonie, Gefühle, die ihn dazu bewegen, zumindest
mit den Menschen in Tomis in Eintracht leben zu wollen. Sie, die Bürger und
Einwohner von Tomis, griechische Siedler, Geten, Daker, wenige Römer
vielleicht, hatten es stets gut mit ihm gemeint und ihm, dem ungerecht
Exilierten Poeta laureatus in einer
großen Geste antiker Gastfreundschaft eine neue Heimat gegeben, wenn auch ohne
die Geborgenheit der alten. Sie hatten ihn nicht verstoßen, sondern anerkannt,
gefeiert sogar und ihm Privilegien eingeräumt, die einzigartig waren. Nur Ovid
zahlte keine Steuern an der Küste. Die raue natürliche Umgebung und die
kriegerische Natur der struppigen Geten konnten die Bürger von Tomis ebenso
wenig ändern wie die äußerst entlegene Lage am Rande der zivilisierten Welt. Im
vierzehnten Brief „An Tuticanus“, der
als vehemente, von existenziellem Ekel bestimmte Klage beginnt, findet Ovid schließlich auch Worte dankbarer Versöhnung
für seine Gastgeber:
„Selbst
die Gesundheit ist mir verhasst, und ich wünsche nur eins noch,
daß
ich von diesem Ort komme, wohin es auch sei;
gleich
ist es mir, wohin man aus diesem Land mich sende:
jegliches
andre ist mir lieber als das, wo ich bin;“
Ob Charybdis oder Styx
– ja selbst noch die Welt tiefer als Styx, die Unterwelt, ist dem Dichter
lieber als das Donauufer oder der gelbe Strand am Meer, an dem er täglich -
einsam in die Wogen schauend - auf und ab geht im Versuch, seiner Traurigkeit
Herr zu werden. Es ist ihm bewusst, dass er mit seinen scharfen Abkanzelungen
die wohlwollenden Gastgeber kränkt, die ihn aufnahmen, als sein Schiff in ihren
Wassern scheiterte. Deshalb nimmt er auch etwas davon zurück und betont
differenzierend, dass seine grenzenlose Verachtung nur dem lebensfeindlichen Land gilt, nicht aber seinen Menschen. Der
Humanist Ovid erhebt sich über den verärgerten Zyniker und
Misanthropen - Guten Gewissens kann er dann beteuern:
„Niemanden
hab’ ich bisher durch meine Worte verletzt.
Ja,
wenn ich finsterer noch als das Pech von Illyrien wäre,
wär’
es mir doch nicht erlaubt, Leute, die treu sind, zu schmähn:
daß
ihr Tomiten sogar meines Schicksals freundlich euch annahmt,
zeigt:
so gutherzig sind Männer vom griechischen Volk.“
Die ethisch
ausgerichtete Sicht, hinter welcher so etwas wie ein objektives
Gerechtigkeitsempfinden aufleuchtet, wird über das subjektive Fühlen gestellt.
Besser ein unvollkommener Exil-Ort als überhaupt kein Zufluchtsort – das sieht
der Zwangsexilierte doch noch ein. Wertschätzung und Dank kulminieren in der
Aussage Ovids:„tam
mihi cara Tomis, patria quae sede fugatis / tempus ad hoc nobis
hospita fida manet“– „ist
auch Tomis mir teuer, das mir aus der Heimat Vertriebnem gastlich bleibt und
getreu bis auf den heutigen Tag“.
Friede kehrt ein. Ovid, der große poeta doctus der Weltliteratur, macht
sich mit dem Gedanken vertraut, in Tomis einsam sterben zu müssen, obwohl er
Großes und Einzigartiges für die Menschheit geleistet hatte – als Verbannter,
als Verkannter, als Vereinsamter, dem Elend und der eigenen Melancholie überlassen.
Ungeachtet melancholischer Heimsuchungen, die ihm die letzten Tage verbittern,
wird Ovid an einer positiven Lebensphilosophie festhalten, deren Grundlage
nicht nur ein autarkes Denken, sondern vielmehr ein einzigartiges poetisches
Oeuvre ist.
Publius Ovidius
Naso: Briefe aus der Verbannung. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm
Willige. Eingeleitet und erläutert von Georg Luck. Zürich und Stuttgart 1963.
(TRISTIA EPISTULAS EX PONTO). Bzw. Ovidius Naso, Publius: Briefe aus der Verbannung.
Tristia, Epistulas ex Ponto. Lateinisch - deutsch. Übertragen von Wilhelm
Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. München, Zürich 1990.
Tristium, III,
3. Ovid, Zit. Ausgabe von 1963, S. 117f.
Ebenda, Epistulae I, 3. S. 315.
Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in
Tusculum. S. 205.
Ebenda, S. 237.
Nachdem er die Chimära besiegt, viele Heldentaten vollbracht, Pegasus gezähmt
und mit diesem zum Olymp hochreiten wollte, wurde Bellerophon, ein Liebling der
Götter, für seine Hybris bestraft und stürzte – wie Ikarus vom Himmelflug zur
Erde – um danach sein Lebensende in
Einsamkeit und Verzweiflung zu fristen. Der Frage nachgehend, wie einsam der
Mensch in archaischer Vorzeit (Griechentum) tatsächlich war, wird auch dieser,
in der antiken Literatur vielfach erwähnte „mythische Held“ (u. a. bei Homer, Pindar, Ovid) auch im
Sekundärliteratur-Bereich immer wieder angeführt, um auf die Phänomene
Einsamkeit und Melancholie zu verweisen; Cicero folgend, wird auch Ficino das Exempel anführen. Vgl. dazu auch:
Tellenbach, Hubertus: Schwermut, Wahn und Fallsucht in
der abendländischen Dichtung, Hürtgenwald 1992. „Die Dichtung Homers lässt Bellerophontes in auswegloser Schwermut
umherirren.“ S. 1.
Tristium III, 8. S. 145ff.
Epistulae ex Ponto, Briefe vom Schwarzen Meer,
II, 7. S. 394f: „Mildern kann auch der Ort der Verbannung; aber es liegt kein
Land, das trauriger ist, zwischen den Polen als dies“.
Epistulae ex Ponto, Briefe vom Schwarzen
Meer, IV, 2. S. 479.
Ovid:
Lieder der Trauer. Die Tristien des Publius Ovidius Naso. Aus dem Lateinischen
übertragen und herausgegeben von Volker Ebersbach.
Frankfurt 1997.
Epistulae ex Ponto, Briefe vom Schwarzen Meer,
IV, 14. S. 535.
Epistulae ex Ponto, Briefe vom Schwarzen Meer,
IV, 14. S. 537ff.
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