Die „noch nicht perfekte Schöpfung“- in den Niederungen des Seins: Radikale Zeitkritik … gegen die Infamie!
Der Rundumschlag gegen das menschliche Geschlecht nimmt seinen Lauf. Vom „Furor poeticus“ entflammt und getrieben, fährt Atta Troll fort, der missratenen Gattung den Pelz zu waschen, den der Mensch überhaupt nicht hat.
„Menschen, warum seid ihr besser
Als wir andre? Aufrecht tragt ihr
Zwar das Haupt, jedoch im Haupte
Kriechen niedrig die Gedanken.
Menschen, seid ihr etwa besser
Als wir andre, weil eu'r Fell
Glatt und gleißend? Diesen Vorzug
Müßt ihr mit den Schlangen teilen.
Menschenvolk, zweibein'ge Schlangen,
Ich begreife wohl, warum ihr
Hosen tragt! Mit fremder Wolle
Deckt ihr eure Schlangennacktheit.“
Aufrechter Gang - niedere Gedanken und Kriechertum: das ist der Mensch, die Krone der Schöpfung! Doch jener Schöpfung, die eine „Creatio continua“, aber auch eine noch nicht perfekte Schöpfung ist.
Heine - in gewissen Passagen alias Atta Troll -geht noch weiter in der Abkanzelung der Zweibeiner, die aufrecht gehen, doch nieder handeln. Das Fell des Menschen ist „glatt und gleißend“; wie die aalglatte Gesinnung, ist er nicht zu greifen, nicht zu fassen: er entgleitet und er entzieht sich schleichend der Verantwortung. Die Konstellation Mensch - Schlange wird deutlich und dahinter die Erweiterung: Mensch - Schlange - Teufel!
Der Mensch, der kleine Gott Hegels, ist eine Schlange und somit durch und durch teuflisch, hinterhältig, böse, eben das Gegenteil einer „Krone der Schöpfung“!
Wen wundert es da noch, wenn - der von Heine überhaupt nicht geschätzte - Jehova ständig strafend auf seiner unvollkommen erschaffenen Kreatur herumhackt? Der Mensch ist nicht nur etwas, was überwunden werden muss, wie Nietzsches Zarathustra es predigen würde; sondern der Mensch ist das Böse schlechthin, vor dem sich jedes aufrechte Wesen, jeder anständige Bär hüten soll. Was Hosen trägt, um die Glattheit und Gesinnung zu verdecken, ist gefährlich - für alle Tiere. Der Antagonismus Tier - Mensch spitzt sich zu. Nach dem anklagenden Plädoyer folgt die „Moral“, die im zukünftigen Leben zu der zu beherzigenden Lehre erhoben wird:
„Kinder! hütet euch vor jenen
Unbehaarten Mißgeschöpfen!
Meine Töchter! Traut nur keinem
Untier, welches Hosen trägt!«
Dann hält der Dichter, der sich später noch - zur Verblüffung des Lesers - als deutscher Bärenjäger zu erkennen geben wird, vorerst inne und sagt etwas vorgreifend, weshalb:
„Weiter will ich nicht berichten,
Wie der Bär in seinem frechen
Gleichheitsschwindel räsonierte
Auf das menschliche Geschlecht.
Denn am Ende bin ich selber
Auch ein Mensch, und wiederholen
Will ich nimmer die Sottisen,
Die am Ende sehr beleid'gend.
Ja, ich bin ein Mensch, bin besser
Als die andern Säugetiere;
Die Intressen der Geburt
Werd ich nimmermehr verleugnen.
Und im Kampf mit andern Bestien
Werd ich immer treulich kämpfen
Für die Menschheit, für die heil'gen
Angebornen Menschenrechte.“
Das antike „Homo sum“ ist dem Dichter genauso bewusst wie der „Gleichheitsschwindel“, der sich hier nicht auf das Verhältnis Mensch - Tier bezieht, sondern, realistisch ausgerichtet, die Menschen in der von Ausbeutung und Elend bestimmten bürgerlichen Gesellschaft betrifft.
Heine - ein Kämpfer für Menschenrechte, für die Ideale der großen Französischen Revolution und der noch folgenden Revolution in Frankreich, Ungarn, Polen, in allen Ecken und Enden Europas?
In der Tat: Als Heine sich entschloss, im Jahr 1831 nach Frankreich zu gehen, im freiheitlichsten Land Europas zu leben, das Land der Freiheit zu besingen, um dann auch von Frankreich aus von Freiheiten und Menschenrechte auch im zersplitterten Deutschland mit der Feder in der Hand zu kämpfen, war der Lebensplan bereits abgesteckt. Wie in der „Vorrede“ zu „Atta Troll“ betont, hatte er nicht mehr die Absicht, den Plan zu ändern, wobei das Überleben in der ab 1848 anbrechenden „Matratzengruft“ vollendete Tatsachen schaffen wird. Der Kampf für bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, den deutsche Patrioten, der angestammten Heimat verwiesen, exiliert im eigenen Vaterland auf ähnliche Art betrieben, schreibend, veröffentlichend, aufklärend, konnte also weitergehen, auch in einer Posse mit ernsten Elementen.
Um Missverständnisse aus der Welt zu schaffen und, um den Kritikern zu begegnen, die ihm eine Verhöhnung des menschlichen Seins und der Menschenrechte vorwarfen, bekennt sich Heine zur Conditio humana und zu diesem Kampf für bürgerliche Freiheiten und Rechte an exponierter Stelle, in der klarstellenden Endstrophe:
„Und im Kampf mit andern Bestien
Werd ich immer treulich kämpfen
Für die Menschheit, für die heil'gen
Angebornen Menschenrechte.“
Was der Bär Atta Troll vor der Klarstellung verbittert-zeitkritisch zu Protokoll gibt, muss von dieser Warte aus in einer Rückschau noch einmal gelesen und verinnerlicht werden.
Heine thematisiert das Sujet „Menschenrechte“ nicht nur, um die Perspektive der Tiere heraus zu kristallisieren, mit Voltaire die menschliche Heuchelei exponierend, sondern er verfolgte die Materie „Menschenrechte“ an sich, um in seiner Zeit, wenige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution von 1848, den Menschen jener Tage die brisante Thematik aufzutischen, damit zu konfrontieren, um so[1] überhaupt über „Menschenrechte“ zu debattieren.
Die Deutschen in den 36 Einzelstaaten und im Habsburgerreich unter Metternich sollten erreicht werden. Tier-Emanzipation und Tierrechte hatten noch keine Priorität in einer Zeit, in welcher Minderheiten - nahezu Tieren gleichgestellt - ausgegrenzt wurden, Zigeuner und Juden, und „Menschenrechte für alle“ im demokratischen Staat noch eine Illusion waren.
Dessen ungeachtet ist die Zeitkritik aus dem Blickwinkel eines Bären wichtig, weil sie Gesellschaftskritik ist, speziell Kritik an der - dem Besitz und Eigentum verpflichteten - bürgerlichen Gesellschaft ist. Es geht an die Substanz: die Grundlagen dieser materialistischen Gesellschaftsordnung werden in Frage gestellt.
[1] Missverständnisse waren absehbar. Man kann darüber diskutieren, ob und wie gut es Heine gelingt, seine Zeitkritik, formuliert aus der Perspektive der geschundenen Kreatur, hier eine Art Quadratur des Kreises, zu entwickeln und poetisch umzusetzen. Nicht legitim ist jedoch die Bestrebung einzelner Kritiker - von frühester Stunde bis hinein in die heuchlerische Literaturwissenschaft der DDR ausgeübt - die dargestellte Ideenwelt zur Parodie zu reduzieren und somit zu entschärfen, nur weil sie über eine „Allegorie“ vorgetragen wird, die eigentlich mehr als nur eine „Allegorie“ ist.
Auszug und Leseprobe aus:
Carl Gibson, „Atta Troll“ - Heinrich Heines poetische Zeitkritik
Gesamtinterpretation. Geistige Strukturen in Heines vorrevolutionärem
Kulturkampf gegen „Tendenzdichtung“, Pseudo-Humanismus, -Nationalismus,
Religion und Biedermeier-Heuchelei, das neueste Werk von Carl Gibson,
überall im Buchhandel!
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Neuerscheinung 2019:
Carl Gibson
Versuch einer ideengeschichtlichen Annäherung
ISBN
978-3-947337-10-1
1. Auflage, 2019
Copyright © Carl Gibson, Tauberbischofsheim.
Alle Rechte vorbehalten.
Aus
der Reihe:
Schriften zur Literatur,
Philosophie, Geistesgeschichte und Kritisches zum Zeitgeschehen, Band
1, 2019
Hardcover, 413 Seiten, Preis: 39,90 Euro.Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte und Kritisches zum Zeitgeschehen, Band 1, 2019
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E-Mail: carlgibsongermany@gmail.com
Mehr zu Carl Gibson, Autor, Philosoph, (Vita, Bibliographie) hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/person/gnd/111591457
https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/
Copyright © : Carl Gibson 2020.
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