Donnerstag, 10. Januar 2019

Das Kreuz und die Rose - Unter Rosen - In Memoriam "Weiße Rose" - Leseproben, Auszüge aus Carl Gibsons "Allein in der Revolte",2013 bzw. aus "Symphonie der Freiheit, 2008.



Das Kreuz und die Rose - Unter Rosen - In Memoriam "Weiße Rose" - 



Leseproben, Auszüge aus Carl Gibsons 



"Allein in der Revolte",2013 bzw. aus "Symphonie der Freiheit, 2008.






Unter Rosen

Manchmal machte ich im Rosarium Station, in jenem beschaulichen Rosengarten mitten in der Stadt, wo alte Menschen die letzten Sonnenstrahlen genossen und wo junge Verliebte eng umschlungen ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Der Rosengarten war der rechte Ort, um Einkehr zu halten, um die Stille zu genießen, um durchzuatmen und dem Gang der Gedanken folgen; auch um zu lesen oder um nur allein zu sein und um selbstvergessen vor sich hin sinnend manche kontemplative Stunde zu verbringen. Das Rosarium, ein gartenähnlicher Park mit unzähligen Rosen, das man auch aus anderen Rosenstädten kennt, aus Eltville am Rhein, aus Weltbädern wie Baden-Baden, Bad Kissingen oder Bad Mergentheim, war bereits in der Vorkriegszeit angelegt worden – mit mehr als tausend Rosenarten. Etwas von der früheren Pracht war immer noch da und erinnerte an rosigere Zeiten.
Eigentlich war ich unter Rosen aufgewachsen, wenn auch nicht auf Rosen gebettet. Wir hatten viele daheim im Vorgarten, wilde Feldrosen ebenso wie edelste Hybride aus England. Sie waren immer schon da und wurden gehegt und gepflegt – purpurne und samtrote, mehrfarbige und weiße Rosen, auch Strauchrosen und Heckenrosen, die im Konkurrenzkampf mit den ebenfalls sich hinauf schlingenden Reben, bis zum Dach emporkletterten und einen Teil des Hauses in ihrem grün-roten Teppich verhüllten. Die Rosen waren ein natürlicher Teil unseres Lebens und wurden, wie jeder zur Selbstverständlichkeit gewordene Wert, gerade von uns jungen Menschen nicht angemessen gewürdigt. Nie hatte ich daheim über Rosen nachgedacht und übersah sie, wie ich vieles andere von Wert auch übersehen hatte. Rosen sollten nicht nur wahrgenommen werden. Es gilt vielmehr, sie zu entdecken. Sie in ihrer Wesenheit im Bewusstsein aufzunehmen, in ihrer ästhetischen Vollkommenheit mit ihrem Duft, der ihr Wesen mit bestimmt. Erst im Rosengarten fand ich die Zeit und Muße, diese besonderen Pflanzen zu betrachten, ihr Bild zu erfassen und ihr Sinnbild. Die Rosen vor meinen Augen waren schön; sie verströmten ein mildes Parfüm – und sie waren zart und zerbrechlich wie alle Rosen.
Rosen blühten auf und welkten schnell dahin. Am gleichen Strauch sprossen sie und starben. Sie verglühten im Strahl der Sonne. Wie wir. Wie wir am Leben zerbrachen, ohne es voll ausgekostet zu haben. Rosen sind das Sinnbild unseres Lebens! Welcher Dichter hatte sie nicht besungen? Welcher Denker hatte nicht über sie nachgedacht? Welche Kultur hatte sich der Rose verschlossen? Könige hatten sich ihrer erfreut und Kaiser! Zu allen Zeiten wurden üppige Rosengärten angelegt. Rosen prägten das Bild der Städte und den Hof auf dem Land. Wie die Reben standen sie für Kultur. Auch im Banat. Ob es auch Orte gab, wo keine Rosen blühten? Orte, wo ihr Duft noch unbekannt war und der Reiz ihrer milden Feinheit? Lieder kündeten von ihr auch als Symbol, selbst als Symbol der Heimat. Gelegentlich hatte ich Vater dabei beobachtet, wie er, der Gärtner aus Leidenschaft, mit den zarten Pflanzen umging, mit den Schönheiten, die auch Dornen hatten. Dann merkte ich, mit wie viel Liebe er diese Blumen umhegte, die ihm mehr zu bedeuten schienen als manche Menschen. Er kultivierte seinen Rosengarten wie Candide, nachdem er seine existenziellen Erfahrungen gemacht hatte, in stiller Kontemplation wie ein Mönch seinen Kräutergarten.
War dies die Quintessenz seiner Existenz, nach den Erfahrungen der fünfjährigen Deportation als deutscher Volkszugehöriger? Auch der meinen? Oder der Existenz überhaupt? Was bleibt übrig, wenn alle Erfahrungen gemacht, alle Leiden durchlitten und alle materiellen Werte verloren sind? Der liebevolle Umgang mit dem Schönen – die reine Anschauung? Doch war das Leben in der Pflanze wirklich besser aufgehoben als auf der höheren Entwicklungsstufe, im Menschen? Hatte es sich in die falsche Richtung entwickelt? Von Reflexionen verleitet, schlenderte ich durch den Rosenpark, durch ein Meer von duftenden Rosen; schneeweiße, rosenrote, gelbe und gestreifte Rosen, ganze Rosensträucher wie bei Dornröschen boten sich dar, verschwenderisch wie ein Luxus der Natur – erst hier, wo ich die Muße fand, mich betrachtend in die Natur zu vertiefen, ohne von den Wirren der wilden Außenwelt abgelenkt zu sein, entdeckte ich die wahre Rose: die Idee der Rose, von der schon Platon sprach – und hinter ihr die Emanation aus der Idee: die Symbolkraft der Rose.
War es ein Zufall, dass sich die mich immer schon faszinierenden vier Elemente, die ich nie aus dem Bewusstsein verlieren wollte, gerade in der Rose harmonisch vereinten, im alchemistisch mystischen Prozess, wie ihn die Begründer des Rosenkreuzertums empfanden? Neben dem Kreuz wurde die Rose zu einem vielschichtigen Sinnbild, das mich durch die Jahre der Opposition und durch das Leben begleitete, ohne dass ich damals etwas von den naturphilosophischen Schauungen jener Mystiker geahnt hätte. Als Repräsentant der aufgeklärten Zeit und der Naturwissenschaft scheute ich damals jede dunkle Mystik, jede Form der Geheimnistuerei und Geheimbündlerei, selbst das Freimaurertum, weil es noch geheimer war als frei. Im Rosarium erkannte ich vielmehr den schönen Ort, der angenehm und zugleich verschwiegen war. „Sub rosa dictum“ – das galt hier an diesem stillen Ort, wo der eigene Genius regierte und wo manches Gespräch geführt wurde, nur bis zu einem gewissen Grad. Wir waren zwar immer noch belauscht – mit „Ohr und Blick“. Doch unsere Gespräche, die vielleicht konspirativ anmuteten, waren im Grunde weltoffen und konkret sozialkritisch ausgerichtet. Die Pracht des Angenehmen und Nützlichen signalisierte auch Weltoffenheit. Die Rose stand, über die Verschwiegenheit, Keuschheit und Reinheit hinaus, für Licht und Leben, für Optimismus und Aufbruch. Sie war deshalb auch das Symbol einer neuen Zeit; des „wahren Sozialismus“, der eigentlichen Humanität, von welcher auch die Freimaurer träumten.
Die Assoziationen, die Rosen in meinem Gedächtnis wachriefen, je tiefer ich ihrer Symbolik auf den Grund gehen wollte, waren vielfältig und chaotisch wie der Wandel der Sinnbildlichkeit in der Zeit und reichten zurück bis in die Welt frühkindlicher Wahrnehmung, bis in die Bereiche des Unbewussten. Düfte waren ebenso tief verwurzelt wie Farben, viel tiefer als Begriffe.
Als Kind hatte ich einst ein blutrünstiges Spektakel am Bildschirm verfolgt, ein Szenario von erhabener Schönheit und nackter Brutalität in der Serie: „Der Krieg der Rosen.“ Dargestellt wurde dort in bester Theatralik ein authentischer Machtkampf im alten England, ein langwieriger und vernichtender Krieg zwischen den Häusern York und Lancaster im Namen und unter dem Emblem der „Roten Rose“ und der „Weißen Rose“ – mit einer Handlung, von der mir bald nur noch das Bild rollender Köpfe im Gedächtnis haften blieb und ein unendlicher Strom von Blut, dessen rote Farbe ich so deutlich sah wie die Leuchtkraft der Rosen, obwohl das damalige Medium noch keine Farben wiedergeben konnte.


In Memoriam „Weiße Rose“


Und dann … waren da nicht noch ganz andere Köpfe, die rollen mussten?
Im fernen Berlin?
Weil der Führer es befohlen hatte?
Köpfe von Friedfertigen, von reinen Pazifisten, die gegen Krieg und Vernichtung aufstanden und für eine Idee: für die Idee der Freiheit? Und für die Vorstellung von einem „freien, ehrenhaften, würdevollen Deutschland“?
War da nicht eine ganz andere „Weiße Rose“?
Ein Symbol des Kampfes gegen übelste Tyrannis!
Ein Symbol des Widerstands! Des Aufbegehrens des Gewissens, des aufrechten Bürgers gegen maßloses Unrecht!
Ein Sinnbild des Widerstands gegen den mit Abstand größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte, gegen Hitler, und gegen das System des Nationalsozialismus in Deutschland?
Was wusste ich von den Geschwistern Scholl aus Forchtenberg am Kocher? Von Hans und Sophie? Von ihren geistigen Mistreitern Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell. Von ihren zahlreichen Unterstützern aus München?
Es waren junge Leute in meinem Alter, die aufgestanden waren und vom Gewissen getrieben friedlich gegen ihr totalitäres Regime opponierten, nachdem sie dessen verbrecherische Politik und Kriegsführung teilweise aus eigenen Anschauungen an der Front kennengelernt hatten. Der verbrecherische Vernichtungskrieg im Osten hatte sie veranlasst, andere Mitbürger aufzuklären und zum „Widerstand gegen Hitler und seine Handlanger“ aufzurufen. Ihr Schlüsselwort war Freiheit! Sie war ihr moralischer Antrieb und der Motor ihres Gewissens!
Nachdenklich saß ich auf einer Bank und blickte konsterniert in die Zeit … Noch wusste ich nicht viel über den „Widerstand gegen Hitler“. Nur das Wenige, was ich den Nachrichtenmagazinen entnommen hatte. Noch spärlicher waren meine Informationen über die anderen Attentatsversuche auf den zynisch diabolischen Diktator, von Elser bis zu Claus von Stauffenberg; vom Kreisauer Kreis bis hin zu Heros Erwin Rommel und der zwielichtigen Gestalt von Admiral Canaris. Doch war mir bewusst, dass „unzählige andere anständige Deutsche“ mit aufgestanden waren, um auf ihre Weise früher oder später zu handeln; und dass sie als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und gegen die Hitlerdiktatur im Dritten Reich verfolgt, abgeurteilt und ermordet worden waren. Das genügte mir, um an eigene Aktionen zu denken. Nur war ich noch weit davon entfernt, die Tragweite der Handlungen des „Widerstands“ zu erfassen. Damals sah ich die deutsche Widerstandsbewegung im Chor der vielen Freiheitskämpfer aller Zeiten, ohne den besonderen Charakter der Taten zu erkennen. Die Reife der Durchdringung und ein ausdifferenziertes, vertieftes Geschichtsbild fehlten mir noch. Doch die Vorbildfunktion der Widerstandshelden stand fest. Deshalb wollte ich nicht zurückstehen.
Auch wir lebten in einer Diktatur, deren selbstgefälliges Walten so nicht hingenommen werden musste. Die Freiheit war ein Wert, der einem nicht so einfach zufiel wie eine reife Frucht vom Baum. Sie war fern wie ein Edelweiß an steiler Felswand und versteckt hinter spitzen Dornen. Sie zu erlangen erforderte Leidensfähigkeit und Mut – Aktion und Passion. Hatte ich diese Eigenschaften?




Das Kreuz und die Rose

Sachte näherte ich mich einem Rosenstrauch aus Purpur und sah dem Wachstum zu. Es ist erhaben zu sehen, wie etwas wächst, wie erste zarte Blätter ausgeformt werden, nach dem Plan, den die Natur vorgegeben hat; wie sich Knospen bilden und aufbrechen; wie sich die Blüte öffnet und ihr Parfüm verströmt, ihren natürlichen Duft, den kein noch so meisterhafter Parfümeur nachahmen kann. Wachstum hat etwas Erhebendes, in der Pflanze wie im höheren Leben.
Wehmütig bückte ich mich leicht hinab und sog den Duft einer gerade sich öffnenden Knospe ein, lange und tief wie etwas, was man aufnimmt, um es nie wieder preiszugeben. Die Süße drang in mich wie Ambrosia, wie eine Speise der Götter, die Geistiges nährt. Das war etwas, was noch intakt war in einer kaputten Welt.
Ja, die Rose war immer schon etwas ganz Besonderes … Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, sagt Benn. Hier war ich allein. An einem „Locus amoenus“, an einem lieblichen Ort, unter Rosen, um mich der „Genius Loci“. Allein mit meinen Gedanken umgeben von dem karminroten Samt einer Heckenrose mit unzähligen Blüten in allen Entwicklungsstufen. Ich pflückte eine davon, die gerade dabei war, zu vergehen, und zerrieb ihre tiefroten Blütenblätter in den Fingern. Sie verfärbten sich blutig und erinnerten an anderes Blut, das geflossen war, vom Kreuz herab und vielfach unter dem Zeichen des Kreuzes bis hin zum Hakenkreuz.
Wo stand ich?
An der Seite der Kreuzritter?
Oder im Lager der Rosenkreuzer?
Oder allein?
Allein in der Revolte – und bald auch im offenen Widerstand?
Die einen kämpften für die Idee des Christentums gegen Juden und Moslems und gegen die eigenen Glaubensbrüder, um eine bestimmte Vorstellung vom Christentum durchzusetzen; mit Mitteln, die in der Zeit lagen und damals legitim schienen, mit dem Schwert wie schon Karl der Große.
Die anderen kämpften an einer anderen Front, im Verborgenen gegen den starren Geist ihrer Zeit, im Geheimen, den stillen Kampf des Verstandes, dessen Taten nicht gleich offensichtlich wurden. Viele Denker, die ich bewunderte, wurden zu ihnen gerechnet. Francis Bacon, Giordano Bruno, René Descartes, Johannes Kepler und Baruch Spinoza waren nur einige illustre Namen von Hunderten, die sich unter „das Kreuz und die Rose“ scharten, um in diesen Zeichen mit der Kraft des Geistes ihr humanistisches Werk zu vollenden. Es waren allesamt frühe Aufklärer, Reformatoren ihrer Zeit, die die gespaltene Welt am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges zum Positiven hin verändern wollten. Es waren freigeistige, antiklerikale Denker, die der institutionalisierten Kirche und dem Papsttum ebenso kritisch begegneten wie der Reformator Martin Luther.
Antiklerikalismus unterm Kreuz?
Das war kein Widerspruch! Auch mein Protest hatte sich unter das Kreuz geflüchtet. Das fühlte auch ich. Die Wege unterm Kreuz waren so vielfältig wie das Ringen um die Ideale des Kreuzes. Was assoziierten die Rosenkreuzer mit dem goldenen Kreuz und der roten Rose?
Das Kreuz symbolisiert den Menschen, der aufgerufen ist, sich in seiner Wesenheit zu überprüfen und so zu hinterfragen, dass er sich von der niederen, unedlen Stufe zu einem aufrechten, höher stehenden edlen Menschen entwickelt.
Spätere Freimaurer wie Haydn, Mozart, Lessing und universale Geister wie Goethe bis hin zu Thomas Mann haben diesen Weg zum „Humanum“ hin in dieser Tradition gesehen. Die Rose hingegen symbolisiert die Seelenessenz, bei der die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft im Einklang stehen. Ich sah die Dinge nüchterner in intuitiver Ablehnung des Esoterischen und Okkulten und erkannte in den beiden Symbolen lediglich sehr „alte Sinnbilder der Menschheit“, die ihre Geschichte durch die Jahrtausende bestimmt hatten.
In Lenaus Lyrik hatte ich Spuren einer Rosenkreuzerrezeption gefunden, die vermutlich auf den Umgang mit dem Theosophen Franz von Baader zurückzuführen waren und gedanklich zu Rudolf Steiner hinführten, zu Steiner der über das „Kreuz und die Rose“ geschrieben und eine „Philosophie der Freiheit“ verfasst hat. Mir genügte jedoch seinerzeit die allgemein verständliche philosophische Botschaft der beiden Symbole, die mir persönlich in meiner gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine wertvolle Orientierung boten.
Für mich avancierte das Kreuz zum Kampfsymbol im weitesten Sinne, ohne es vollständig vom Religiösen zu lösen, während die Rose den Rückzug in das eigentliche Menschsein, in Schönheit, Liebe und Humanität, darstellte. „Freudig kämpfen und entsagen“ – ein Motto, das die angebetete Geliebte dem liebend leidenden Lenau vorgegeben hatte. Also war auch ich bereit, meinen Kampf zu kämpfen: für die Kunst und die Welt dahinter. Das „Rosarium“ wurde zum Rückzugsort und gleichzeitig zum Ort vielfältiger Gespräche, zum Ort der Muße, der Muse und des Dialogs – und die Rose blieb mein Symbol der Hoffnung.

Leseprobe/ Auszug aus: Carl Gibson: Allein in der Revolte




Heckenrose in voller Blüte
















































Rose im wilden Garten

Nikolaus Lenau

Welke Rose

In einem Buche blätternd, fand
ich eine Rose welk, zerdrückt,
und weiß auch nicht mehr, wessen Hand
sie einst für mich gepflückt.

Ach, mehr und mehr im Abendhauch
verweht Erinnerung; bald zerstiebt
mein Erdenlos, dann weiß ich auch
nicht mehr, wer mich geliebt.


































Zum Thema Rosen und Politik:



Kapitel-Auszug (MS) aus:
Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit:


In Genf – oder: Kann die UNO einen Diktator zur Rechenschaft ziehen?


         Frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht. Präambel der Schweizer Verfassung

An den Bahnhof der Stadt kann ich mich heute nur noch vage erinnern. Als Wanderer zwischen den Welten, als interkultureller Emissair, habe ich in all den Jahren so viele Bahnhöfe erlebt, gewaltige und kleine, historische und profane, architektonisch herausgeputzte und verkommene, freundlich heitere und trostlos trübsinnige, dass mein Gedächtnis sie nicht mehr genau auseinander halten kann. Ein Bahnhof hat oft mehr von Abschied als von Willkommen und ist nicht selten verknüpft mit unfreiwilligen Transporten und Reisen ins Ungewisse, mit Trauer und Melancholie. Aber ein Bahnhof ist auch eine Stätte der Beweglichkeit, ein guter Ort, um dem bunten Treiben zu folgen, um nachzudenken. Menschen strömen auf und ab, und Züge fahren hin und her. Auch auf Bahnhöfen ist alles im Fluss, selbst die Gedanken.
Bevor ich auf den brieflich vereinbarten Treffpunkt zusteuerte, wo mein Gastgeber bestimmt schon meiner harrte, ging ich wie gewöhnlich in den ersten Blumenladen in der Vorhalle, um einen Strauß zu besorgen. Bisher hatte ich es immer so gehalten, wenn ich besuche abstattete und wusste, dass eine Dame das Haus führt. Blumen öffnen das Herz und machen Menschen empfänglich.
„Was darf es sein, mein Herr?“ sprach mich ein junges Fräulein an.
„Rosen“ erwiderte ich wie einer, der weiß, was er will. „Fünf weiße Rosen, bitte!“ Die Frau sah mich etwas erstaunt an, denn weiße Rosen wurden wohl nicht oft verlangt, und brachte mir dann fünf kräftige Rosen, die aber nicht richtig weiß waren, sondern eierschalenweiß mit einer leichten Tendenz ins Grünliche. Als ich sie entgegen nahm, verspürte ich sogleich einen leichten Hauch von dem schwachen, süßlichmilden Duft, den sie verströmten. Ja, diese Rosen dufteten noch. Sie sahen makellos aus und so frisch, als wären sie kaum erst geschnitten worden – und sie dufteten. Noch einmal sog ich mit einem tiefen Zug das zarte Parfüm ein, bezahlte großzügig, bedankte mich und ging dann zum Treffpunkt am Hauptausgang.
Diesmal wurde ich warm empfangen. Der Herr im besten Alter, der mich dort schon nervös entgegenfieberte, war von hagerer Statur, hatte dunkle Haare und einen markant ernsten, doch freundlichen Blick. Halb verunsichert kam er auf mich zu, begrüßte mich dann aber mit einer Herzlichkeit, die nur Menschen zusteht, die man seit langem gut kennt. Die gemeinsame Sache einte uns. Er schien vor Tatendrang zu sprühen und wirkte auf mich wie ein hektischer Enthusiast, der die ganze Welt mit einem Ruck aus den Angeln heben will. Man sah es ihm gleich an, dass er ein geradliniger und pflichtbewusster Charakter war, ein Mensch für den, im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitgenossen, der höhere Zweck mehr zählte als die Bestreitung des trivialen Alltags. Er hieß Ganea. Sein Vorname war Ion. Viele Rumänen führen diesen Vornamen. Wie hätte er denn sonst heißen sollen? Ion entspricht dem deutschen Namen Johann oder kurz Hans, der als Taufnamen bei den Deutschstämmigen im Banat genauso häufig herhalten musste wie Ion bei den Rumänen. Stammte ich nicht selbst aus einer Sippe, die mütterlicherseits seit fünf Generationen diesen Vornamen kultivierte, so als ob keine weiteren Namen auffindbar gewesen wären. Mein Urgroßvater, ein k.u. k. Soldat, der bereits 1922 an den Folgen des Kriegseinsatzes starb, hieß Johann oder populär Hans. Sein Sohn, mein Großvater hieß Hans. Und dessen jüngerer Bruder, streng nach dem Namen des Paten getauft, wurde auch Hans gerufen; ebenso wie sein Sohn Hans hieß. Gott sei Dank, bekam mein Bruder den viel verbreiteten Vornamen Jahre vor mir ab – wie das halbe Dorf - und bewahrte mich davor. Das war die Gnade der späten Geburt, die auch noch andere Vorteile mit sich bringen sollte. Mehr zufällig als gezielt erhielt ich einen königlichen Namen, der mir imponierte, weil er nobel klang und weil er dort selten und damit unverwechselbar war. Später hörte ich selbst noch die Namen Hans Hans und Ion Ion als ultimative Steigerung und Gipfel der nominellen Phantasielosigkeit. Dahinter stand die Macht der Tradition, die so einfach nicht zu durchbrechen war. Durfte ich mich da wundern?
Als 1990, wenige Monate nach der Revolution, in Rumänien erstmals wieder freiere Wahlen abgehalten werden konnten, forderte Ion Ratiu, ein Exilpolitiker, der von London ausgewirkt hatte, den Postkommunisten Ion Iliescu heraus. Und Stelian Diaconescu, ein Dichter von europäischem Format, entschied sich für das Pseudonym Ion Caraion, was genau in meinen Ohren genau so witzig klang wie Ilie Pintilie, ein heute etwas vergessener Revolutionär aus dem Geschichtsbuch. Ion ist ein archaischer Allerweltsname, dessen Ursprünge auf den Evangelisten zurückgehen und in das orthodoxe Griechentum hineinreichen. Wohl deshalb führt die halbe Nation der Rumänen diesen Namen. Die anderen tragen mit Vorliebe die Namen berühmter Urahnen, die teils von bedeutenden Cäsaren abgeleitet sind wie: Traian, Adrian, Claudiu, Tiberiu, Marcu, Marius, Cesar oder aus denen römische Geistergrößen hervorleuchten wie Virgil, Liviu, Ovidiu, Cicerone und andere mehr, um so, nach Ion Luca Caragiale, als waschechte Rumänen zu gelten und auf die antike Herkunft der an sich noch jungen Nation zu verweisen. Dahinter verbirgt sich eine Art historischer Komplex der Spätgeborenen, der die Zeiten überspringen und die spät geformte nationale Identität durch eine edle, über zwei Jahrtausende zurückreichende Herkunft kompensieren will. Nach Decebalus, ihrem geto-dakischen Ahnherrn, oder nach Burebistas, der das Dakerreich vom Pontus bis nach Makedonien ausdehnte, wurde merkwürdigerweise kaum jemand benannt; auch nicht nach Caligula und Nero oder nach dem noch edlen Diktator Sulla Felix, der in Mozarts Oper Sila heißt. Gerade nationalistisch orientierte Rumänen akzentuieren in der Nachfolge ihres historiographischen Übervaters Nicolae Iorga immer wieder ihre romanische Herkunft und ignorieren dabei gern die Tatsache, dass ihre gegenwärtige Hochsprache erst im 19. Jahrhundert auf der Grundlage des Französischen und des Italienischen durch das Einfügen zahlreicher Wörter erweitert und reformiert wurde, ohne dabei etwa ein Drittel des alten Wortschatzes slawischen Ursprungs verleugnen und ausmerzen zu können.
Wie ich bald feststellen sollte, spielten bei Ion Ganea nationalistische Überlegungen keine übergeordnete Rolle. Er war ein politisch denkender, engagierter Emigrant, der sich als Liberaler verstand. Als solcher hatte er seinerzeit in Bukarest gewirkt, bevor die einzige Partei des Landes, die Kommunisten, nach einem erfolgreich durchgeführten Staatsstreich unter der Regie Moskaus das politische Monopol für sich reklamierten, um die Alleingestaltung der Volksrepublik und später der Sozialistischen Republik zu übernehmen. Jetzt kam es ihm darauf an, Mittel und Wege zu finden, um von Genf aus die Respektierung der Menschenrechte in seinem Heimatland durchzusetzen. Die 1975 in der finnischen Hauptsstadt Helsinki abgehaltene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz KSZE, an welcher seinerzeit auch die Ostblockstaaten teilnahmen und sogar gewisse Verpflichtungen eingegangen waren, hatte diese Weichenstellung theoretisch ermöglicht. Die praktische Umsetzung gewisser Liberalisierungsbestrebungen jenseits des Eisernen Vorhangs jedoch war nach wie vor reine Illusion. Trotzdem war Ion nicht davon abzuhalten, für eine gute, ihm und anderen wichtig erscheinende Sache aktiv zu werden. Er war zweifellos ein Idealist alter Schule – und die Rechtfertigung seiner Existenz bestand im konkreten Einstehen und Handeln für einen höheren Wert. Das Eintreten für ein Ideal, für eine ethische Zielsetzung, für Menschenrechte, für die Ideale der Französischen Revolution, die besonders im Ostblock von den politischen Akteuren zynisch verachtet wurden, verband uns intuitiv. Obwohl es nie ausführlichere Wertediskussionen gegeben hatte, verstanden wir uns auf Anhieb. Damals war ich zwar noch recht jung an Jahren, brachte aber eine natürliche Autorität ein, die auf dem Faktischen beruhte und auf meine mehrjährige, sehr intensive Oppositionstätigkeit zurückging, die für sich sprach. Das individuelle Handeln unter Repressionsbedingungen und der Gestus des weiteren antitotalitären Wirkens auch im Westen zählten mehr als die Person dahinter. Mein oppositionelles Agieren im Land wurde allgemein anerkannt; nicht zuletzt von Ion, mit dem ich seit Monaten über die anstehende Aktion, deren geistiger Urheber er war, korrespondierte und häufig telefonierte. Ion bestach mehr durch eine fast naive Geradlinigkeit, die ihm generell Glaubwürdigkeit verlieh, als durch intellektuelle Prägnanz. Wir kannten uns also schon etwas. Sein Geld verdiente der Liberale, wie manch anderer geschickte Kunsthandwerker in der Schweiz, als Uhrmacher in einer traditionellen Werkstatt. Unmittelbar nach meiner Ankunft bestiegen wir seinen Wagen und fuhren in ein nahe gelegenes Wohnviertel, wo er mit seiner Gattin ein kleines Appartement bewohnte. Kinder hatten sie keine.
Während wir die viel befahrenen Hauptalleen der City entlang fuhren, hatte ich genügend Zeit, die ersten Eindrücke dieser an sich recht kleinen, von ihrem Format her aber wahren Weltstadt aufzunehmen und diese auf mich wirken zu lassen. Nach einem doch etwa stürmisch rasanten Aufstieg aus dem unscheinbaren Provinznest Sackelhausen hatte ich zunächst die nahe Universitätsstadt Temeschburg ausgelotet; dann erlebte ich die erste kleine Metropole Europas, die Hauptstadt des Staates, Bukarest; das gigantische London hatte ich bereits gesehen, die Boulevards von Paris, selbst die Prachtstraßen Amsterdams und einige deutsche Großstädte, darunter München und Westberlin – doch Genf war anders, ganz anders. Es erinnerte mich zwar leicht an Paris und Bukarest wie eine zweite Tochter derselben Mutter - doch Genf hatte etwas eigenes, etwas calvinistisch Kühles, das ich nicht greifen konnte und das sich mir entzog. Die Eisigkeit sagte mir, dass ich hier nicht heimisch werden konnte.
Die Dämmerung wich bereits dem Dunkel der Nacht, die sich langsam über der Stadt ausbreitete. Mir bot sich ein gewaltiges Panorama. Glaspaläste, repräsentative Bauten, Brunnen, Fontänen, von Parks umgebene Villen der Superreichen. Alles war in strahlendes Licht getaucht und verlieh dem Ganzen etwas märchenhaft Romantisches. Die scheinbare Irrealität der Illumination beeindruckte mich wie die poetisch entrückte Welt eines Algabal. Plötzlich riss Ion mich etwas unsanft aus den Träumereien, indem er mir signalisierte, in der unmittelbaren Umgebung von Versoix, wohne der abgedankte König Michael von Rumänien und führe hier am See eine fast bürgerliche Existenz. Seit der erzwungenen Abdankung nach dem Zweiten Weltkrieg lebe König Michael aus dem Hause Hohenzollern im Schweizer Exil. Auch er sei an unseren Aktivitäten interessiert; und höchstwahrscheinlich werde er uns alsbald zu einem Gespräch empfangen. Die Hoffnung auf eine Revision der politischen Verhältnisse in Osteuropa und die Institution einer konstitutionellen parlamentarischen Monarchie in seiner Heimat habe er noch nicht ganz aufgegeben. Interessiert folgte ich Ion Ausführungen, war aber doch recht skeptisch, was die hehren Ziele anging, denn Entwicklungen dieser Art erschienen mir im Jahr 1981 doch sehr unrealistisch.
Deutschland, mein altes Vaterland und neue Heimat, wurde damals von der sozial-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt und Vize Hans Dietrich Genscher regiert. Beide setzten in ihrer Außenpolitik, besonders aber im Verhältnis zu Osteuropa und der Sowjetunion, auf Entspannung, auf Verständigung und auf Wandel durch Handel. Die von Bundeskanzler Willy Brandt begründeten Ost-West-Beziehungen waren nach wie vor ein zartes Pflänzchen, das es zu pflegen galt und das nicht durch übereilte Aktionen zertreten werden sollte. Deshalb fand ich unmittelbar nach meiner Einreise in die Bundesrepublik bei den damals politisch Verantwortlichen weder Echo noch Gehör für die Sache der inzwischen unterdrückten Freien Gewerkschaft SLOMR, nicht einmal beim Deutschen Gewerkschaftsbund. In Großbritannien bestimmte die Eiserne Lady die Richtlinien von Downing Street Nr. 10 und im Weißen Haus war der ehemalige Hollywoodschauspieler Ronald Reagan gerade dabei, den Baptistenprediger Jimmy Carter als Präsident der Vereinigten Staaten abzulösen. Amerika litt seinerzeit unter der so genannten Malaise Carters und war außenpolitisch angeschlagen. Trotzdem war Amerika auf dem Gebiet der Menschenrechte immer noch die paradigmatische Leitnation der Freiheit, zu der die Geknechteten aus allen Teilen der Welt aufblickten. Amerika hatte damals noch eine moralische Stellung inne, die es, kaum zwei Jahrzehnte danach durch das alles andere als weitsichtige Wirken eines einzigen Präsidenten und durch die Verabschiedung vom Völkerrecht vielleicht für immer einbüßen sollte. In der Sowjetunion ging die Ära Breschnew ihrem Ende entgegen. Es folgten aus der Reihe der starren Altherrenriege des Kreml Tschernenko, Andropow und schließlich Gorbatschow. In Rumänien hingegen behauptete sich nunmehr seit 1965 eine Person als Staatschef, Nicolae Ceausescu, ohne dass eine potentielle Personalveränderung denkbar erschien. Der Status quo war unverrückbar starr und erschien für alle Zeiten zementiert zu sein. Der konservativ ausgerichtete Westen setzte weitgehend auf Konfrontation und Tot-Rüsten. Der Osten, inklusiv China, das seine kommende Weltmachtrolle schon vorbereitete, setzte auf Selbstbehauptung. In dieser Konstellation war es nicht einfach zu opponieren und auf Veränderungen zu hoffen. Trotzdem musste es sein, denn es gab keine alternative Perspektive. Vielleicht konnte im Kleinen etwas bewegt werden, was irgendwann große Wirkungen haben konnte. Wenn der ehemalige König Michael noch daran glaubte, das Eis könne brechen, dann wollten wir nicht daran zweifeln, sondern weiterhin aktiv vorgehen und durch unser Tun etwas bewirken.
Ion bewohnte mit seiner liebenswerten Ehefrau, die ich gleich kennen lernen durfte, eine gut bürgerliche Wohnung in einem auffällig sauberen, ruhigen Stadtteil von Genf. Auch die Dame des Hauses empfing mich mit natürlicher Freundlichkeit und Warmherzigkeit, die ich auch noch bei anderen Rumänen angetroffen habe. Ich hingegen verhielt mich zunächst etwas verkrampft, nicht zuletzt deshalb, weil ich unbewusst noch in einem einst exzessiv gelebten Deutschtum gefangen war, das tiefer verwurzelt war als der intellektuelle Humanismus. Leicht gehemmt überreichte ich ihr die Blumen.
„Rosen? Weiße Rosen?“ wunderte sie sich und grinste verschmitzt wie wenn ich rote gebracht hätte. Auch weiße Rosen verwiesen auf Leidenschaft, aber auch auf Reinheit, Trauer und Entsagung.
„Ja, Rosen! Madame!“ antwortete ich mit einem Hauch von Ironie. „Rosen sind ganz besondere Blumen, Madame! Ich habe ein spezielles Verhältnis zu diesen Pflanzen! Sie müssen wissen, dass ich unter Rosen aufgewachsen bin und dass sie mich durch mein ganzes Leben begeleitet haben. Viel Ideelles ist in ihnen und viel vom Schönen dieser Welt!“
„Es sind die Blumen der Liebe!“
„Im weitesten Sinne, Madame. Bei uns in Deutschland assoziiert man noch ganz andere Dinge mit Rosen, mit weißen Rosen… Für manche Leute stehen sie für Anstand, für den aufrechten Gang …und seltener selbst für ein reines Gewissen!“
Wir vertieften die Materie nicht. Die Gastgeberin griff routinehaft nach einer Kristallvase, füllte sie mit Leitungswasser, schnitt die Stiele kürzer und stellte sie in das frische Nass. Dann stellte sie die Vase auf eine furnierte Kommode aus Eiche unweit der Tafel, an der wir bald Platz nahmen. Als wir später beim Abendessen zusammen saßen und bei einem Jurakäse und einem Chasselas aus der Region etwas von den kulinarischen Köstlichkeiten genossen, die die Schweiz zu bieten hat, fiel mein Blick auf die mitgebrachten Rosen, aus deren Hintergrund ein lackiertes Holzkreuz hervor strahlte. Das Kreuz und die Rose durchdrangen sich und verschmolzen zu einer symbolischen Einheit, die mir noch in der Nacht zu denken gab und die Erinnerungen wach rief, Erinnerungen, die tief in die Vergangenheit reichten. Mir wurde ein komfortables Gästezimmer zugewiesen, wo ich in den nächsten Tagen auch meine freien Stunden verbringen konnte. Auch mein leibliches Wohl kam nicht zu kurz. Die Dame des Hauses, die selbst keine Kinder hatte, bemühte sich fast mit mütterlicher Umsorgung darum, dass alles stimmte. Sie war vor allem bestrebt, möglichst gepflegt zu kochen, damit wir auch vornehm tafeln konnten. Etwas savoir vivre war stets dabei – als Hinweis auf die kleinen Freuden des Lebens, die es lebenswert machen. Bei späteren Besuchen, die bis zum Abschluss der Klagevorbereitungen noch erforderlich werden sollten, erlebte ich immer wieder die gleiche, natürlich unmittelbare Gastfreundschaft dieser Menschen. Während dieses mehrtägigen Aufenthalts in Genf lernte ich eine Reihe weiterer Personen kennen, die in der Schweiz oder überwiegend in Frankreich lebten und sich in der Regel als Exilpolitiker betätigten. Sie alle hatten eigene Vorstellungen, wie das politische Wirken im Westen zu gestalten und zu koordinieren sei. Partiell verfolgten sie eigene Interessen - und manche von ihnen sahen sich schon als künftige Mitglieder eines Schattenkabinetts, das nach einem politischen Umsturz in Bukarest seine Arbeit unverzüglich aufgenommen hätte. Für unsere Sache waren diese zahlreichen Politakteure weniger wichtig, mit der Ausnahme einiger weniger Persönlichkeiten, die tatsächlich Einfluss hatten und unserer Mission in der Öffentlichkeit dienlich sein konnten. Unter ihnen war eine etwas ältere Dame, die sich als Autorin und Journalistin betätigte und zahlreiche gute Kontakte unterhielt.
„Ich bin Nicolette Franck“, stellte sie sich mir vor. Sie sprach dann noch über ihre Kindheit und Jugend im Großrumänien der Vorkriegszeit. Sie stammte aus dem jüdischen Zentrum Tschernowitz, in der Bukowina, dessen kulturgeschichtlicher Hintergrund erst mit der breit rezipierten Lyrik Paul Celans, der aus der gleichen Gegend stammte, bekannt wurde. Sie hatte ihre aktive Zeit als Journalistin in Jassy verbracht, in einer Stadt an der nordöstlichen Grenze zur Sowjetunion, wo mein noch in Rumänien weilender Mitstreiter Erwin seinen Militärdienst absolviert hatte. Mehr als vierzigtausend Juden hatte das Jassy der Vorkriegszeit eine Heimat geboten, bevor unter Antonescu Pogrome möglich wurden, die vielen von ihnen das Leben kosteten. Nicolette Franck verkehrte regelmäßig im Haus des ehemaligen Königs Michael. Den Umständen seiner Abdankung hatte sie eine historische Abhandlung gewidmet. In dem seinerzeit taufrisch in Paris erschienenen Buch La Roumanie dans l’ Engrenage; dessen mögliche Edition ich in ihrem Auftrag auch Deutschland ausloten sollte, beschrieb sie auf Informationen aus erster Hand gestützt, wie Michael I., König von Rumänien, von inländischen Stalinisten mit vorgehaltener Pistole gezwungen wurde, das Ausscheiden Rumäniens aus der mehr als vier Jahre andauernden Allianz mit Hitler-Deutschland und der Wehrmacht zu unterschreiben; also nach außen hin einen unfreiwilligen königlichen Putsch zu vollziehen, in welchem auch der bald darauf verurteilte und exekutierte Marschall Antonescu entmachtet wurde. In der deutschen Historiographie, mehr noch im Bewusstsein der weniger genau informierten Allgemeinheit, ist dieser Akt der Kapitulation eher als Verrat interpretiert und empfunden worden – nicht zuletzt von den Volksdeutschen aus dem Banat und Siebenbürgen, die die daraus erwachsenden Konsequenzen bis zum Exodus hin auszubaden hatten. Aus dem abrupten Abfall des Bündnispartners erwuchs möglicherweise ein gewisses Ressentiment, aus welchem das spätere Desinteresse Deutschlands an dem politischen Schicksal Rumäniens zu erklären wäre. Es ist mir aus zeitlichen Gründen leider nicht gelungen, diese Diskussion, die mich auch als Historiker faszinierte, weiter zu verfolgen. Gleichzeitig wirkte Nicolette Franck als Genfer Korrespondentin der Brüsseler Tageszeitung La Libre Belgique. In dieser Eigenschaft sorgte sie dann auch dafür, dass unsere ausführlich geplante und gut vorbereitete Aktion, die rumänische Regierung auf internationaler Ebene zur Verantwortung zu ziehen und zu verklagen, angemessen in der Brüsseler Zeitung veröffentlicht wurde. Da ich der einzige Repräsentant der 1979 in Rumänien gegründeten Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger, kurz SLOMR, war, der im Westen lebte, kam mir die Aufgabe zu, als so genannter porte parole, als Sprecher dieser inzwischen unterdrückten Vereinigung, aufzutreten und die Sache in der westlichen Öffentlichkeit zu vertreten. Dazu war ich geistig wie politisch in der Lage, da ich die Protestbewegung – zumindest in Temeschburg – selbst konzipiert und organisiert hatte. Selbst hatte ich mir die mit vielen persönlichen Risiken behaftete Aufgabe, als anklagender Zeitzeuge aufzutreten, die von einem genuinen Rumänen vielleicht besser hätte wahrgenommen werden können, nicht ausgesucht, sondern ich nahm sie aus einer moralischen Verpflichtung heraus an, wie ich gebraucht wurde – und weil es zu meiner person keine Alternative gab. Flankiert werden sollte ich bei der Klageaktion von Menschenrechtsorganisationen, speziell von der rumänischen Liga für Menschrechte aus Paris, und von Exilgruppierungen demokratischer Rumänen vorwiegend aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Auf der Grundlage meiner authentischen Aussagen über den Ablauf der Gewerkschaftsgründung in Banat sollte ein Dossier erarbeitet werden, eine Akte, in welcher die wichtigsten Menschenrechtverletzungen in Rumänien seit der Verabschiedung der gemeinsamen Charta der KSZE-Konferenz von Helsinki festgehalten wurden, unter besonderer Berücksichtung der Gründung einer freien Werktätigengewerkschaft SLOMR in Rumänien, Monate vor den turbulenten Ereignissen in Polen. Die Gründung von Solidarnosc in Polen, die Ausweitung der Bewegung in Millionen-Mitglieder-Dimensionen und die letztendliche Verhängung des Kriegsrechts unter General Jaruzelski, die gerade in der Realität abliefen, bildeten den geistigen wie politischen Hintergrund dazu.

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http://books.google.de/books?id=ykTjXDg8uycC&pg=PA313&lpg=PA313&dq=carl+gibson+rhapsodie&source=bl&ots=uk12-BovDD&sig=fdvi9QpWohkt8VKvssgupZbLSUA&hl=de&ei=jBZqTrOVHonSsgaKntnmBA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CB0Q6AEwAA#v=onepage&q&f=false




















Alle Fotos: Carl Gibson

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