Das Kreuz und die Rose - Unter Rosen - In Memoriam "Weiße Rose" -
Leseproben, Auszüge aus Carl Gibsons
"Allein in der Revolte",2013 bzw. aus "Symphonie der Freiheit, 2008.
Unter Rosen
Manchmal
machte ich im Rosarium Station, in jenem beschaulichen Rosengarten
mitten in der Stadt, wo alte Menschen die letzten Sonnenstrahlen
genossen und wo junge Verliebte eng umschlungen ihren Gefühlen freien
Lauf ließen. Der Rosengarten war der rechte Ort, um Einkehr zu halten,
um die Stille zu genießen, um durchzuatmen und dem Gang der Gedanken
folgen; auch um zu lesen oder um nur allein zu sein und um
selbstvergessen vor sich hin sinnend manche kontemplative Stunde zu
verbringen. Das Rosarium, ein gartenähnlicher Park mit unzähligen Rosen,
das man auch aus anderen Rosenstädten kennt, aus Eltville am Rhein, aus
Weltbädern wie Baden-Baden, Bad Kissingen oder Bad Mergentheim, war
bereits in der Vorkriegszeit angelegt worden – mit mehr als tausend
Rosenarten. Etwas von der früheren Pracht war immer noch da und
erinnerte an rosigere Zeiten.
Eigentlich
war ich unter Rosen aufgewachsen, wenn auch nicht auf Rosen gebettet.
Wir hatten viele daheim im Vorgarten, wilde Feldrosen ebenso wie edelste
Hybride aus England. Sie waren immer schon da und wurden gehegt und
gepflegt – purpurne und samtrote, mehrfarbige und weiße Rosen, auch
Strauchrosen und Heckenrosen, die im Konkurrenzkampf mit den ebenfalls
sich hinauf schlingenden Reben, bis zum Dach emporkletterten und einen
Teil des Hauses in ihrem grün-roten Teppich verhüllten. Die Rosen waren
ein natürlicher Teil unseres Lebens und wurden, wie jeder zur
Selbstverständlichkeit gewordene Wert, gerade von uns jungen Menschen
nicht angemessen gewürdigt. Nie hatte ich daheim über Rosen nachgedacht
und übersah sie, wie ich vieles andere von Wert auch übersehen hatte.
Rosen sollten nicht nur wahrgenommen werden. Es gilt vielmehr, sie zu
entdecken. Sie in ihrer Wesenheit im Bewusstsein aufzunehmen, in ihrer
ästhetischen Vollkommenheit mit ihrem Duft, der ihr Wesen mit bestimmt.
Erst im Rosengarten fand ich die Zeit und Muße, diese besonderen
Pflanzen zu betrachten, ihr Bild zu erfassen und ihr Sinnbild. Die Rosen
vor meinen Augen waren schön; sie verströmten ein mildes Parfüm – und
sie waren zart und zerbrechlich wie alle Rosen.
Rosen
blühten auf und welkten schnell dahin. Am gleichen Strauch sprossen sie
und starben. Sie verglühten im Strahl der Sonne. Wie wir. Wie wir am
Leben zerbrachen, ohne es voll ausgekostet zu haben. Rosen sind das
Sinnbild unseres Lebens! Welcher Dichter hatte sie nicht besungen?
Welcher Denker hatte nicht über sie nachgedacht? Welche Kultur hatte
sich der Rose verschlossen? Könige hatten sich ihrer erfreut und Kaiser!
Zu allen Zeiten wurden üppige Rosengärten angelegt. Rosen prägten das
Bild der Städte und den Hof auf dem Land. Wie die Reben standen sie für
Kultur. Auch im Banat. Ob es auch Orte gab, wo keine Rosen blühten?
Orte, wo ihr Duft noch unbekannt war und der Reiz ihrer milden Feinheit?
Lieder kündeten von ihr auch als Symbol, selbst als Symbol der Heimat.
Gelegentlich hatte ich Vater dabei beobachtet, wie er, der Gärtner aus
Leidenschaft, mit den zarten Pflanzen umging, mit den Schönheiten, die
auch Dornen hatten. Dann merkte ich, mit wie viel Liebe er diese Blumen
umhegte, die ihm mehr zu bedeuten schienen als manche Menschen. Er
kultivierte seinen Rosengarten wie Candide, nachdem er seine
existenziellen Erfahrungen gemacht hatte, in stiller Kontemplation wie
ein Mönch seinen Kräutergarten.
War
dies die Quintessenz seiner Existenz, nach den Erfahrungen der
fünfjährigen Deportation als deutscher Volkszugehöriger? Auch der
meinen? Oder der Existenz überhaupt? Was bleibt übrig, wenn alle
Erfahrungen gemacht, alle Leiden durchlitten und alle materiellen Werte
verloren sind? Der liebevolle Umgang mit dem Schönen – die reine
Anschauung? Doch war das Leben in der Pflanze wirklich besser aufgehoben
als auf der höheren Entwicklungsstufe, im Menschen? Hatte es sich in
die falsche Richtung entwickelt? Von Reflexionen verleitet, schlenderte
ich durch den Rosenpark, durch ein Meer von duftenden Rosen;
schneeweiße, rosenrote, gelbe und gestreifte Rosen, ganze Rosensträucher
wie bei Dornröschen boten sich dar, verschwenderisch wie ein Luxus der
Natur – erst hier, wo ich die Muße fand, mich betrachtend in die Natur
zu vertiefen, ohne von den Wirren der wilden Außenwelt abgelenkt zu
sein, entdeckte ich die wahre Rose: die Idee der Rose, von der schon
Platon sprach – und hinter ihr die Emanation aus der Idee: die
Symbolkraft der Rose.
War
es ein Zufall, dass sich die mich immer schon faszinierenden vier
Elemente, die ich nie aus dem Bewusstsein verlieren wollte, gerade in
der Rose harmonisch vereinten, im alchemistisch mystischen Prozess, wie
ihn die Begründer des Rosenkreuzertums empfanden? Neben dem Kreuz wurde
die Rose zu einem vielschichtigen Sinnbild, das mich durch die Jahre der
Opposition und durch das Leben begleitete, ohne dass ich damals etwas
von den naturphilosophischen Schauungen jener Mystiker geahnt hätte. Als
Repräsentant der aufgeklärten Zeit und der Naturwissenschaft scheute
ich damals jede dunkle Mystik, jede Form der Geheimnistuerei und
Geheimbündlerei, selbst das Freimaurertum, weil es noch geheimer war als frei. Im Rosarium erkannte ich vielmehr den schönen Ort, der angenehm und zugleich verschwiegen war. „Sub rosa dictum“
– das galt hier an diesem stillen Ort, wo der eigene Genius regierte
und wo manches Gespräch geführt wurde, nur bis zu einem gewissen Grad.
Wir waren zwar immer noch belauscht – mit „Ohr und Blick“. Doch unsere
Gespräche, die vielleicht konspirativ anmuteten, waren im Grunde
weltoffen und konkret sozialkritisch ausgerichtet. Die Pracht des
Angenehmen und Nützlichen signalisierte auch Weltoffenheit. Die Rose
stand, über die Verschwiegenheit, Keuschheit und Reinheit hinaus, für
Licht und Leben, für Optimismus und Aufbruch. Sie war deshalb auch das
Symbol einer neuen Zeit; des „wahren Sozialismus“, der eigentlichen Humanität, von welcher auch die Freimaurer träumten.
Die
Assoziationen, die Rosen in meinem Gedächtnis wachriefen, je tiefer ich
ihrer Symbolik auf den Grund gehen wollte, waren vielfältig und
chaotisch wie der Wandel der Sinnbildlichkeit in der Zeit und reichten
zurück bis in die Welt frühkindlicher Wahrnehmung, bis in die Bereiche
des Unbewussten. Düfte waren ebenso tief verwurzelt wie Farben, viel
tiefer als Begriffe.
Als
Kind hatte ich einst ein blutrünstiges Spektakel am Bildschirm
verfolgt, ein Szenario von erhabener Schönheit und nackter Brutalität in
der Serie: „Der Krieg der Rosen.“
Dargestellt wurde dort in bester Theatralik ein authentischer
Machtkampf im alten England, ein langwieriger und vernichtender Krieg
zwischen den Häusern York und Lancaster im Namen und unter dem Emblem
der „Roten Rose“ und der „Weißen Rose“ – mit einer Handlung, von der mir
bald nur noch das Bild rollender Köpfe im Gedächtnis haften blieb und
ein unendlicher Strom von Blut, dessen rote Farbe ich so deutlich sah
wie die Leuchtkraft der Rosen, obwohl das damalige Medium noch keine
Farben wiedergeben konnte.
Und dann … waren da nicht noch ganz andere Köpfe, die rollen mussten?
Im fernen Berlin?
Weil der Führer es befohlen hatte?
Köpfe von Friedfertigen, von reinen Pazifisten, die gegen Krieg und Vernichtung aufstanden und für eine Idee: für die Idee der Freiheit? Und für die Vorstellung von einem „freien, ehrenhaften, würdevollen Deutschland“?
War da nicht eine ganz andere „Weiße Rose“?
Ein Symbol des Kampfes gegen übelste Tyrannis!
Ein Symbol des Widerstands! Des Aufbegehrens des Gewissens, des aufrechten Bürgers gegen maßloses Unrecht!
Ein
Sinnbild des Widerstands gegen den mit Abstand größten Verbrecher der
Menschheitsgeschichte, gegen Hitler, und gegen das System des
Nationalsozialismus in Deutschland?
Was
wusste ich von den Geschwistern Scholl aus Forchtenberg am Kocher? Von
Hans und Sophie? Von ihren geistigen Mistreitern Christoph Probst, Willi
Graf und Alexander Schmorell. Von ihren zahlreichen Unterstützern aus
München?
Es
waren junge Leute in meinem Alter, die aufgestanden waren und vom
Gewissen getrieben friedlich gegen ihr totalitäres Regime opponierten,
nachdem sie dessen verbrecherische Politik und Kriegsführung teilweise
aus eigenen Anschauungen an der Front kennengelernt hatten. Der
verbrecherische Vernichtungskrieg im Osten hatte sie veranlasst, andere
Mitbürger aufzuklären und zum „Widerstand gegen Hitler und seine Handlanger“ aufzurufen. Ihr Schlüsselwort war Freiheit! Sie war ihr moralischer Antrieb und der Motor ihres Gewissens!
Nachdenklich saß ich auf einer Bank und blickte konsterniert in die Zeit … Noch wusste ich nicht viel über den „Widerstand gegen Hitler“.
Nur das Wenige, was ich den Nachrichtenmagazinen entnommen hatte. Noch
spärlicher waren meine Informationen über die anderen Attentatsversuche
auf den zynisch diabolischen Diktator, von Elser bis zu Claus von
Stauffenberg; vom Kreisauer Kreis bis hin zu Heros Erwin Rommel und der
zwielichtigen Gestalt von Admiral Canaris. Doch war mir bewusst, dass
„unzählige andere anständige Deutsche“ mit aufgestanden waren, um auf
ihre Weise früher oder später zu handeln; und dass sie als
Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und gegen die
Hitlerdiktatur im Dritten Reich verfolgt, abgeurteilt und ermordet
worden waren. Das genügte mir, um an eigene Aktionen zu denken. Nur war ich noch weit davon entfernt, die Tragweite der Handlungen des „Widerstands“
zu erfassen. Damals sah ich die deutsche Widerstandsbewegung im Chor
der vielen Freiheitskämpfer aller Zeiten, ohne den besonderen Charakter
der Taten zu erkennen. Die
Reife der Durchdringung und ein ausdifferenziertes, vertieftes
Geschichtsbild fehlten mir noch. Doch die Vorbildfunktion der
Widerstandshelden stand fest. Deshalb wollte ich nicht zurückstehen.
Auch wir lebten in einer Diktatur, deren selbstgefälliges Walten so nicht hingenommen werden musste. Die Freiheit
war ein Wert, der einem nicht so einfach zufiel wie eine reife Frucht
vom Baum. Sie war fern wie ein Edelweiß an steiler Felswand und
versteckt hinter spitzen Dornen. Sie zu erlangen erforderte
Leidensfähigkeit und Mut – Aktion und Passion. Hatte ich diese Eigenschaften?
Das Kreuz und die Rose
Sachte
näherte ich mich einem Rosenstrauch aus Purpur und sah dem Wachstum zu.
Es ist erhaben zu sehen, wie etwas wächst, wie erste zarte Blätter
ausgeformt werden, nach dem Plan, den die Natur vorgegeben hat; wie sich
Knospen bilden und aufbrechen; wie sich die Blüte öffnet und ihr Parfüm
verströmt, ihren natürlichen Duft, den kein noch so meisterhafter
Parfümeur nachahmen kann. Wachstum hat etwas Erhebendes, in der Pflanze
wie im höheren Leben.
Wehmütig
bückte ich mich leicht hinab und sog den Duft einer gerade sich
öffnenden Knospe ein, lange und tief wie etwas, was man aufnimmt, um es
nie wieder preiszugeben. Die Süße drang in mich wie Ambrosia, wie eine
Speise der Götter, die Geistiges nährt. Das war etwas, was noch intakt
war in einer kaputten Welt.
Ja,
die Rose war immer schon etwas ganz Besonderes … Wer allein ist, ist
auch im Geheimnis, sagt Benn. Hier war ich allein. An einem „Locus amoenus“, an einem lieblichen Ort, unter Rosen, um mich der „Genius Loci“.
Allein mit meinen Gedanken umgeben von dem karminroten Samt einer
Heckenrose mit unzähligen Blüten in allen Entwicklungsstufen. Ich
pflückte eine davon, die gerade dabei war, zu vergehen, und zerrieb ihre
tiefroten Blütenblätter in den Fingern. Sie verfärbten sich blutig und
erinnerten an anderes Blut, das geflossen war, vom Kreuz herab und
vielfach unter dem Zeichen des Kreuzes bis hin zum Hakenkreuz.
Wo stand ich?
An der Seite der Kreuzritter?
Oder im Lager der Rosenkreuzer?
Oder allein?
Allein in der Revolte – und bald auch im offenen Widerstand?
Die
einen kämpften für die Idee des Christentums gegen Juden und Moslems
und gegen die eigenen Glaubensbrüder, um eine bestimmte Vorstellung vom
Christentum durchzusetzen; mit Mitteln, die in der Zeit lagen und damals
legitim schienen, mit dem Schwert wie schon Karl der Große.
Die
anderen kämpften an einer anderen Front, im Verborgenen gegen den
starren Geist ihrer Zeit, im Geheimen, den stillen Kampf des Verstandes,
dessen Taten nicht gleich offensichtlich wurden. Viele Denker, die ich
bewunderte, wurden zu ihnen gerechnet. Francis Bacon, Giordano Bruno,
René Descartes, Johannes Kepler und Baruch Spinoza waren nur einige
illustre Namen von Hunderten, die sich unter „das Kreuz und die Rose“
scharten, um in diesen Zeichen mit der Kraft des Geistes ihr
humanistisches Werk zu vollenden. Es waren allesamt frühe Aufklärer,
Reformatoren ihrer Zeit, die die gespaltene Welt am Vorabend des
Dreißigjährigen Krieges zum Positiven hin verändern wollten. Es waren
freigeistige, antiklerikale Denker, die der institutionalisierten Kirche
und dem Papsttum ebenso kritisch begegneten wie der Reformator Martin
Luther.
Antiklerikalismus unterm Kreuz?
Das
war kein Widerspruch! Auch mein Protest hatte sich unter das Kreuz
geflüchtet. Das fühlte auch ich. Die Wege unterm Kreuz waren so
vielfältig wie das Ringen um die Ideale des Kreuzes. Was assoziierten
die Rosenkreuzer mit dem goldenen Kreuz und der roten Rose?
Das
Kreuz symbolisiert den Menschen, der aufgerufen ist, sich in seiner
Wesenheit zu überprüfen und so zu hinterfragen, dass er sich von der
niederen, unedlen Stufe zu einem aufrechten, höher stehenden edlen
Menschen entwickelt.
Spätere Freimaurer wie Haydn, Mozart, Lessing und universale Geister wie Goethe bis hin zu Thomas Mann haben diesen Weg zum „Humanum“
hin in dieser Tradition gesehen. Die Rose hingegen symbolisiert die
Seelenessenz, bei der die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft im
Einklang stehen. Ich sah die Dinge nüchterner in intuitiver Ablehnung
des Esoterischen und Okkulten und erkannte in den beiden Symbolen
lediglich sehr „alte Sinnbilder der Menschheit“, die ihre Geschichte
durch die Jahrtausende bestimmt hatten.
In
Lenaus Lyrik hatte ich Spuren einer Rosenkreuzerrezeption gefunden, die
vermutlich auf den Umgang mit dem Theosophen Franz von Baader
zurückzuführen waren und gedanklich zu Rudolf Steiner hinführten, zu
Steiner der über das „Kreuz und die Rose“ geschrieben und eine „Philosophie der Freiheit“
verfasst hat. Mir genügte jedoch seinerzeit die allgemein verständliche
philosophische Botschaft der beiden Symbole, die mir persönlich in
meiner gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine wertvolle Orientierung
boten.
Für mich avancierte das Kreuz
zum Kampfsymbol im weitesten Sinne, ohne es vollständig vom Religiösen
zu lösen, während die Rose den Rückzug in das eigentliche Menschsein, in
Schönheit, Liebe und Humanität, darstellte. „Freudig kämpfen und entsagen“
– ein Motto, das die angebetete Geliebte dem liebend leidenden Lenau
vorgegeben hatte. Also war auch ich bereit, meinen Kampf zu kämpfen: für
die Kunst und die Welt dahinter. Das „Rosarium“ wurde zum Rückzugsort
und gleichzeitig zum Ort vielfältiger Gespräche, zum Ort der Muße, der
Muse und des Dialogs – und die Rose blieb mein Symbol der Hoffnung.
Leseprobe/ Auszug aus: Carl Gibson: Allein in der Revolte
Mehr unter: http://carlgibsongermany.wordpress.com/
Heckenrose in voller Blüte
Rose im wilden Garten
Nikolaus Lenau
Welke Rose
In einem Buche blätternd, fand
ich eine Rose welk, zerdrückt,
und weiß auch nicht mehr, wessen Hand
sie einst für mich gepflückt.
ich eine Rose welk, zerdrückt,
und weiß auch nicht mehr, wessen Hand
sie einst für mich gepflückt.
Ach, mehr und mehr im Abendhauch
verweht Erinnerung; bald zerstiebt
mein Erdenlos, dann weiß ich auch
nicht mehr, wer mich geliebt.
verweht Erinnerung; bald zerstiebt
mein Erdenlos, dann weiß ich auch
nicht mehr, wer mich geliebt.
Zum Thema Rosen und Politik:
Kapitel-Auszug (MS) aus:
Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit:
In Genf – oder: Kann die UNO einen Diktator zur Rechenschaft ziehen?
Frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht. Präambel der Schweizer Verfassung
An
den Bahnhof der Stadt kann ich mich heute nur noch vage erinnern. Als
Wanderer zwischen den Welten, als interkultureller Emissair, habe ich in
all den Jahren so viele Bahnhöfe erlebt, gewaltige und kleine,
historische und profane, architektonisch herausgeputzte und verkommene,
freundlich heitere und trostlos trübsinnige, dass mein Gedächtnis sie
nicht mehr genau auseinander halten kann. Ein Bahnhof hat oft mehr von
Abschied als von Willkommen und ist nicht selten verknüpft mit
unfreiwilligen Transporten und Reisen ins Ungewisse, mit Trauer und
Melancholie. Aber ein Bahnhof ist auch eine Stätte der Beweglichkeit,
ein guter Ort, um dem bunten Treiben zu folgen, um nachzudenken.
Menschen strömen auf und ab, und Züge fahren hin und her. Auch auf
Bahnhöfen ist alles im Fluss, selbst die Gedanken.
Bevor
ich auf den brieflich vereinbarten Treffpunkt zusteuerte, wo mein
Gastgeber bestimmt schon meiner harrte, ging ich wie gewöhnlich in den
ersten Blumenladen in der Vorhalle, um einen Strauß zu besorgen. Bisher
hatte ich es immer so gehalten, wenn ich besuche abstattete und wusste,
dass eine Dame das Haus führt. Blumen öffnen das Herz und machen
Menschen empfänglich.
„Was darf es sein, mein Herr?“ sprach mich ein junges Fräulein an.
„Rosen“
erwiderte ich wie einer, der weiß, was er will. „Fünf weiße Rosen,
bitte!“ Die Frau sah mich etwas erstaunt an, denn weiße Rosen wurden
wohl nicht oft verlangt, und brachte mir dann fünf kräftige Rosen, die
aber nicht richtig weiß waren, sondern eierschalenweiß mit einer
leichten Tendenz ins Grünliche. Als ich sie entgegen nahm, verspürte ich
sogleich einen leichten Hauch von dem schwachen, süßlichmilden Duft,
den sie verströmten. Ja, diese Rosen dufteten noch. Sie sahen makellos
aus und so frisch, als wären sie kaum erst geschnitten worden – und sie
dufteten. Noch einmal sog ich mit einem tiefen Zug das zarte Parfüm ein,
bezahlte großzügig, bedankte mich und ging dann zum Treffpunkt am
Hauptausgang.
Diesmal
wurde ich warm empfangen. Der Herr im besten Alter, der mich dort schon
nervös entgegenfieberte, war von hagerer Statur, hatte dunkle Haare und
einen markant ernsten, doch freundlichen Blick. Halb verunsichert kam
er auf mich zu, begrüßte mich dann aber mit einer Herzlichkeit, die nur
Menschen zusteht, die man seit langem gut kennt. Die gemeinsame Sache
einte uns. Er schien vor Tatendrang zu sprühen und wirkte auf mich wie
ein hektischer Enthusiast, der die ganze Welt mit einem Ruck aus den
Angeln heben will. Man sah es ihm gleich an, dass er ein geradliniger
und pflichtbewusster Charakter war, ein Mensch für den, im Gegensatz zu
den meisten anderen Zeitgenossen, der höhere Zweck mehr zählte als die
Bestreitung des trivialen Alltags. Er hieß Ganea. Sein Vorname war Ion.
Viele Rumänen führen diesen Vornamen. Wie hätte er denn sonst heißen
sollen? Ion entspricht dem deutschen Namen Johann oder kurz Hans, der
als Taufnamen bei den Deutschstämmigen im Banat genauso häufig herhalten
musste wie Ion bei den Rumänen. Stammte ich nicht selbst aus einer
Sippe, die mütterlicherseits seit fünf Generationen diesen Vornamen
kultivierte, so als ob keine weiteren Namen auffindbar gewesen wären.
Mein Urgroßvater, ein k.u. k. Soldat, der bereits 1922 an den Folgen des
Kriegseinsatzes starb, hieß Johann oder populär Hans. Sein Sohn, mein
Großvater hieß Hans. Und dessen jüngerer Bruder, streng nach dem Namen
des Paten getauft, wurde auch Hans gerufen; ebenso wie sein Sohn Hans
hieß. Gott sei Dank, bekam mein Bruder den viel verbreiteten Vornamen
Jahre vor mir ab – wie das halbe Dorf - und bewahrte mich davor. Das war
die Gnade der späten Geburt, die auch noch andere Vorteile mit sich
bringen sollte. Mehr zufällig als gezielt erhielt ich einen königlichen
Namen, der mir imponierte, weil er nobel klang und weil er dort selten
und damit unverwechselbar war. Später hörte ich selbst noch die Namen
Hans Hans und Ion Ion als ultimative Steigerung und Gipfel der
nominellen Phantasielosigkeit. Dahinter stand die Macht der Tradition,
die so einfach nicht zu durchbrechen war. Durfte ich mich da wundern?
Als
1990, wenige Monate nach der Revolution, in Rumänien erstmals wieder
freiere Wahlen abgehalten werden konnten, forderte Ion Ratiu, ein
Exilpolitiker, der von London ausgewirkt hatte, den Postkommunisten Ion
Iliescu heraus. Und Stelian Diaconescu, ein Dichter von europäischem
Format, entschied sich für das Pseudonym Ion Caraion, was genau in
meinen Ohren genau so witzig klang wie Ilie Pintilie, ein heute etwas
vergessener Revolutionär aus dem Geschichtsbuch. Ion ist ein archaischer
Allerweltsname, dessen Ursprünge auf den Evangelisten zurückgehen und
in das orthodoxe Griechentum hineinreichen. Wohl deshalb führt die halbe
Nation der Rumänen diesen Namen. Die anderen tragen mit Vorliebe die
Namen berühmter Urahnen, die teils von bedeutenden Cäsaren abgeleitet
sind wie: Traian, Adrian, Claudiu, Tiberiu, Marcu, Marius, Cesar oder
aus denen römische Geistergrößen hervorleuchten wie Virgil, Liviu,
Ovidiu, Cicerone und andere mehr, um so, nach Ion Luca Caragiale, als waschechte Rumänen
zu gelten und auf die antike Herkunft der an sich noch jungen Nation zu
verweisen. Dahinter verbirgt sich eine Art historischer Komplex der
Spätgeborenen, der die Zeiten überspringen und die spät geformte
nationale Identität durch eine edle, über zwei Jahrtausende
zurückreichende Herkunft kompensieren will. Nach Decebalus, ihrem geto-dakischen Ahnherrn, oder nach Burebistas, der
das Dakerreich vom Pontus bis nach Makedonien ausdehnte, wurde
merkwürdigerweise kaum jemand benannt; auch nicht nach Caligula und Nero
oder nach dem noch edlen Diktator Sulla Felix, der in Mozarts Oper Sila heißt.
Gerade nationalistisch orientierte Rumänen akzentuieren in der
Nachfolge ihres historiographischen Übervaters Nicolae Iorga immer
wieder ihre romanische Herkunft und ignorieren dabei gern die Tatsache,
dass ihre gegenwärtige Hochsprache erst im 19. Jahrhundert auf der
Grundlage des Französischen und des Italienischen durch das Einfügen
zahlreicher Wörter erweitert und reformiert wurde, ohne dabei etwa ein
Drittel des alten Wortschatzes slawischen Ursprungs verleugnen und
ausmerzen zu können.
Wie
ich bald feststellen sollte, spielten bei Ion Ganea nationalistische
Überlegungen keine übergeordnete Rolle. Er war ein politisch denkender,
engagierter Emigrant, der sich als Liberaler verstand. Als solcher hatte
er seinerzeit in Bukarest gewirkt, bevor die einzige Partei des Landes,
die Kommunisten, nach einem erfolgreich durchgeführten Staatsstreich
unter der Regie Moskaus das politische Monopol für sich reklamierten, um
die Alleingestaltung der Volksrepublik und später der Sozialistischen
Republik zu übernehmen. Jetzt kam es ihm darauf an, Mittel und Wege zu
finden, um von Genf aus die Respektierung der Menschenrechte in seinem
Heimatland durchzusetzen. Die 1975 in der finnischen Hauptsstadt
Helsinki abgehaltene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, kurz KSZE, an welcher seinerzeit auch die Ostblockstaaten
teilnahmen und sogar gewisse Verpflichtungen eingegangen waren, hatte
diese Weichenstellung theoretisch ermöglicht. Die praktische Umsetzung
gewisser Liberalisierungsbestrebungen jenseits des Eisernen Vorhangs
jedoch war nach wie vor reine Illusion. Trotzdem war Ion nicht davon
abzuhalten, für eine gute, ihm und anderen wichtig erscheinende Sache
aktiv zu werden. Er war zweifellos ein Idealist alter Schule – und die
Rechtfertigung seiner Existenz bestand im konkreten Einstehen und
Handeln für einen höheren Wert. Das Eintreten für ein Ideal, für eine
ethische Zielsetzung, für Menschenrechte, für die Ideale der
Französischen Revolution, die besonders im Ostblock von den politischen
Akteuren zynisch verachtet wurden, verband uns intuitiv. Obwohl es nie
ausführlichere Wertediskussionen gegeben hatte, verstanden wir uns auf
Anhieb. Damals war ich zwar noch recht jung an Jahren, brachte aber eine
natürliche Autorität ein, die auf dem Faktischen beruhte und auf meine
mehrjährige, sehr intensive Oppositionstätigkeit zurückging, die für
sich sprach. Das individuelle Handeln unter Repressionsbedingungen und
der Gestus des weiteren antitotalitären Wirkens auch im Westen zählten
mehr als die Person dahinter. Mein oppositionelles Agieren im Land wurde
allgemein anerkannt; nicht zuletzt von Ion, mit dem ich seit Monaten
über die anstehende Aktion, deren geistiger Urheber er war,
korrespondierte und häufig telefonierte. Ion bestach mehr durch eine
fast naive Geradlinigkeit, die ihm generell Glaubwürdigkeit verlieh, als
durch intellektuelle Prägnanz. Wir kannten uns also schon etwas. Sein
Geld verdiente der Liberale, wie manch anderer geschickte
Kunsthandwerker in der Schweiz, als Uhrmacher in einer traditionellen
Werkstatt. Unmittelbar nach meiner Ankunft bestiegen wir seinen Wagen
und fuhren in ein nahe gelegenes Wohnviertel, wo er mit seiner Gattin
ein kleines Appartement bewohnte. Kinder hatten sie keine.
Während
wir die viel befahrenen Hauptalleen der City entlang fuhren, hatte ich
genügend Zeit, die ersten Eindrücke dieser an sich recht kleinen, von
ihrem Format her aber wahren Weltstadt aufzunehmen und diese auf mich
wirken zu lassen. Nach einem doch etwa stürmisch rasanten Aufstieg aus
dem unscheinbaren Provinznest Sackelhausen hatte ich zunächst die nahe
Universitätsstadt Temeschburg ausgelotet; dann erlebte ich die erste
kleine Metropole Europas, die Hauptstadt des Staates, Bukarest; das
gigantische London hatte ich bereits gesehen, die Boulevards von Paris,
selbst die Prachtstraßen Amsterdams und einige deutsche Großstädte,
darunter München und Westberlin – doch Genf war anders, ganz anders. Es
erinnerte mich zwar leicht an Paris und Bukarest wie eine zweite Tochter
derselben Mutter - doch Genf hatte etwas eigenes, etwas calvinistisch
Kühles, das ich nicht greifen konnte und das sich mir entzog. Die
Eisigkeit sagte mir, dass ich hier nicht heimisch werden konnte.
Die
Dämmerung wich bereits dem Dunkel der Nacht, die sich langsam über der
Stadt ausbreitete. Mir bot sich ein gewaltiges Panorama. Glaspaläste,
repräsentative Bauten, Brunnen, Fontänen, von Parks umgebene Villen der
Superreichen. Alles war in strahlendes Licht getaucht und verlieh dem
Ganzen etwas märchenhaft Romantisches. Die scheinbare Irrealität der
Illumination beeindruckte mich wie die poetisch entrückte Welt eines
Algabal. Plötzlich riss Ion mich etwas unsanft aus den Träumereien,
indem er mir signalisierte, in der unmittelbaren Umgebung von Versoix,
wohne der abgedankte König Michael von Rumänien und führe hier am See
eine fast bürgerliche Existenz. Seit der erzwungenen Abdankung nach dem
Zweiten Weltkrieg lebe König Michael aus dem Hause Hohenzollern im
Schweizer Exil. Auch er sei an unseren Aktivitäten interessiert; und
höchstwahrscheinlich werde er uns alsbald zu einem Gespräch empfangen.
Die Hoffnung auf eine Revision der politischen Verhältnisse in Osteuropa
und die Institution einer konstitutionellen parlamentarischen Monarchie
in seiner Heimat habe er noch nicht ganz aufgegeben. Interessiert
folgte ich Ion Ausführungen, war aber doch recht skeptisch, was die
hehren Ziele anging, denn Entwicklungen dieser Art erschienen mir im
Jahr 1981 doch sehr unrealistisch.
Deutschland,
mein altes Vaterland und neue Heimat, wurde damals von der
sozial-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt und Vize Hans
Dietrich Genscher regiert. Beide setzten in ihrer Außenpolitik,
besonders aber im Verhältnis zu Osteuropa und der Sowjetunion, auf
Entspannung, auf Verständigung und auf Wandel durch Handel. Die von
Bundeskanzler Willy Brandt begründeten Ost-West-Beziehungen waren nach
wie vor ein zartes Pflänzchen, das es zu pflegen galt und das nicht
durch übereilte Aktionen zertreten werden sollte. Deshalb fand ich
unmittelbar nach meiner Einreise in die Bundesrepublik bei den damals
politisch Verantwortlichen weder Echo noch Gehör für die Sache der
inzwischen unterdrückten Freien Gewerkschaft SLOMR, nicht einmal beim
Deutschen Gewerkschaftsbund. In Großbritannien bestimmte die Eiserne
Lady die Richtlinien von Downing Street Nr. 10 und im Weißen Haus war
der ehemalige Hollywoodschauspieler Ronald Reagan gerade dabei, den
Baptistenprediger Jimmy Carter als Präsident der Vereinigten Staaten
abzulösen. Amerika litt seinerzeit unter der so genannten Malaise
Carters und war außenpolitisch angeschlagen. Trotzdem war Amerika auf
dem Gebiet der Menschenrechte immer noch die paradigmatische Leitnation
der Freiheit,
zu der die Geknechteten aus allen Teilen der Welt aufblickten. Amerika
hatte damals noch eine moralische Stellung inne, die es, kaum zwei
Jahrzehnte danach durch das alles andere als weitsichtige Wirken eines
einzigen Präsidenten und durch die Verabschiedung vom Völkerrecht
vielleicht für immer einbüßen sollte. In der Sowjetunion ging die Ära
Breschnew ihrem Ende entgegen. Es folgten aus der Reihe der starren
Altherrenriege des Kreml Tschernenko, Andropow und schließlich
Gorbatschow. In Rumänien hingegen behauptete sich nunmehr seit 1965 eine
Person als Staatschef, Nicolae Ceausescu, ohne dass eine potentielle
Personalveränderung denkbar erschien. Der Status quo war unverrückbar
starr und erschien für alle Zeiten zementiert zu sein. Der konservativ
ausgerichtete Westen setzte weitgehend auf Konfrontation und Tot-Rüsten.
Der Osten, inklusiv China, das seine kommende Weltmachtrolle schon
vorbereitete, setzte auf Selbstbehauptung. In dieser Konstellation war
es nicht einfach zu opponieren und auf Veränderungen zu hoffen. Trotzdem
musste es sein, denn es gab keine alternative Perspektive. Vielleicht
konnte im Kleinen etwas bewegt werden, was irgendwann große Wirkungen
haben konnte. Wenn der ehemalige König Michael noch daran glaubte, das
Eis könne brechen, dann wollten wir nicht daran zweifeln, sondern
weiterhin aktiv vorgehen und durch unser Tun etwas bewirken.
Ion
bewohnte mit seiner liebenswerten Ehefrau, die ich gleich kennen lernen
durfte, eine gut bürgerliche Wohnung in einem auffällig sauberen,
ruhigen Stadtteil von Genf. Auch die Dame des Hauses empfing mich mit
natürlicher Freundlichkeit und Warmherzigkeit, die ich auch noch bei
anderen Rumänen angetroffen habe. Ich hingegen verhielt mich zunächst
etwas verkrampft, nicht zuletzt deshalb, weil ich unbewusst noch in
einem einst exzessiv gelebten Deutschtum gefangen war, das tiefer
verwurzelt war als der intellektuelle Humanismus. Leicht gehemmt
überreichte ich ihr die Blumen.
„Rosen?
Weiße Rosen?“ wunderte sie sich und grinste verschmitzt wie wenn ich
rote gebracht hätte. Auch weiße Rosen verwiesen auf Leidenschaft, aber
auch auf Reinheit, Trauer und Entsagung.
„Ja,
Rosen! Madame!“ antwortete ich mit einem Hauch von Ironie. „Rosen sind
ganz besondere Blumen, Madame! Ich habe ein spezielles Verhältnis zu
diesen Pflanzen! Sie müssen wissen, dass ich unter Rosen aufgewachsen
bin und dass sie mich durch mein ganzes Leben begeleitet haben. Viel
Ideelles ist in ihnen und viel vom Schönen dieser Welt!“
„Es sind die Blumen der Liebe!“
„Im
weitesten Sinne, Madame. Bei uns in Deutschland assoziiert man noch
ganz andere Dinge mit Rosen, mit weißen Rosen… Für manche Leute stehen
sie für Anstand, für den aufrechten Gang …und seltener selbst für ein
reines Gewissen!“
Wir
vertieften die Materie nicht. Die Gastgeberin griff routinehaft nach
einer Kristallvase, füllte sie mit Leitungswasser, schnitt die Stiele
kürzer und stellte sie in das frische Nass. Dann stellte sie die Vase
auf eine furnierte Kommode aus Eiche unweit der Tafel, an der wir bald
Platz nahmen. Als wir später beim Abendessen zusammen saßen und bei
einem Jurakäse und einem Chasselas aus der Region etwas von den
kulinarischen Köstlichkeiten genossen, die die Schweiz zu bieten hat,
fiel mein Blick auf die mitgebrachten Rosen, aus deren Hintergrund ein
lackiertes Holzkreuz hervor strahlte. Das Kreuz und die Rose
durchdrangen sich und verschmolzen zu einer symbolischen Einheit, die
mir noch in der Nacht zu denken gab und die Erinnerungen wach rief,
Erinnerungen, die tief in die Vergangenheit reichten. Mir wurde ein
komfortables Gästezimmer zugewiesen, wo ich in den nächsten Tagen auch
meine freien Stunden verbringen konnte. Auch mein leibliches Wohl kam
nicht zu kurz. Die Dame des Hauses, die selbst keine Kinder hatte,
bemühte sich fast mit mütterlicher Umsorgung darum, dass alles stimmte.
Sie war vor allem bestrebt, möglichst gepflegt zu kochen, damit wir auch
vornehm tafeln konnten. Etwas savoir vivre war stets dabei – als
Hinweis auf die kleinen Freuden des Lebens, die es lebenswert machen.
Bei späteren Besuchen, die bis zum Abschluss der Klagevorbereitungen
noch erforderlich werden sollten, erlebte ich immer wieder die gleiche,
natürlich unmittelbare Gastfreundschaft dieser Menschen. Während dieses
mehrtägigen Aufenthalts in Genf lernte ich eine Reihe weiterer Personen
kennen, die in der Schweiz oder überwiegend in Frankreich lebten und
sich in der Regel als Exilpolitiker betätigten. Sie alle hatten eigene
Vorstellungen, wie das politische Wirken im Westen zu gestalten und zu
koordinieren sei. Partiell verfolgten sie eigene Interessen - und manche
von ihnen sahen sich schon als künftige Mitglieder eines
Schattenkabinetts, das nach einem politischen Umsturz in Bukarest seine
Arbeit unverzüglich aufgenommen hätte. Für unsere Sache waren diese
zahlreichen Politakteure weniger wichtig, mit der Ausnahme einiger
weniger Persönlichkeiten, die tatsächlich Einfluss hatten und unserer
Mission in der Öffentlichkeit dienlich sein konnten. Unter ihnen war
eine etwas ältere Dame, die sich als Autorin und Journalistin betätigte
und zahlreiche gute Kontakte unterhielt.
„Ich
bin Nicolette Franck“, stellte sie sich mir vor. Sie sprach dann noch
über ihre Kindheit und Jugend im Großrumänien der Vorkriegszeit. Sie
stammte aus dem jüdischen Zentrum Tschernowitz, in der Bukowina, dessen
kulturgeschichtlicher Hintergrund erst mit der breit rezipierten Lyrik
Paul Celans, der aus der gleichen Gegend stammte, bekannt wurde. Sie
hatte ihre aktive Zeit als Journalistin in Jassy verbracht, in einer
Stadt an der nordöstlichen Grenze zur Sowjetunion, wo mein noch in
Rumänien weilender Mitstreiter Erwin seinen Militärdienst absolviert
hatte. Mehr als vierzigtausend Juden hatte das Jassy der Vorkriegszeit
eine Heimat geboten, bevor unter Antonescu Pogrome möglich wurden, die
vielen von ihnen das Leben kosteten. Nicolette Franck verkehrte
regelmäßig im Haus des ehemaligen Königs Michael. Den Umständen seiner
Abdankung hatte sie eine historische Abhandlung gewidmet. In dem
seinerzeit taufrisch in Paris erschienenen Buch La Roumanie dans l’ Engrenage;
dessen mögliche Edition ich in ihrem Auftrag auch Deutschland ausloten
sollte, beschrieb sie auf Informationen aus erster Hand gestützt, wie
Michael I., König von Rumänien, von inländischen Stalinisten mit
vorgehaltener Pistole gezwungen wurde, das Ausscheiden Rumäniens aus der
mehr als vier Jahre andauernden Allianz mit Hitler-Deutschland und der
Wehrmacht zu unterschreiben; also nach außen hin einen unfreiwilligen
königlichen Putsch zu vollziehen, in welchem auch der bald darauf
verurteilte und exekutierte Marschall Antonescu entmachtet wurde. In der
deutschen Historiographie, mehr noch im Bewusstsein der weniger genau
informierten Allgemeinheit, ist dieser Akt der Kapitulation eher als
Verrat interpretiert und empfunden worden – nicht zuletzt von den
Volksdeutschen aus dem Banat und Siebenbürgen, die die daraus
erwachsenden Konsequenzen bis zum Exodus hin auszubaden hatten. Aus dem
abrupten Abfall des Bündnispartners erwuchs möglicherweise ein gewisses
Ressentiment, aus welchem das spätere Desinteresse Deutschlands an dem
politischen Schicksal Rumäniens zu erklären wäre. Es ist mir aus
zeitlichen Gründen leider nicht gelungen, diese Diskussion, die mich
auch als Historiker faszinierte, weiter zu verfolgen. Gleichzeitig
wirkte Nicolette Franck als Genfer Korrespondentin der Brüsseler
Tageszeitung La Libre Belgique.
In dieser Eigenschaft sorgte sie dann auch dafür, dass unsere
ausführlich geplante und gut vorbereitete Aktion, die rumänische
Regierung auf internationaler Ebene zur Verantwortung zu ziehen und zu
verklagen, angemessen in der Brüsseler Zeitung veröffentlicht wurde. Da
ich der einzige Repräsentant der 1979 in Rumänien gegründeten Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger, kurz SLOMR, war, der im Westen lebte, kam mir die Aufgabe zu, als so genannter porte parole, als Sprecher dieser
inzwischen unterdrückten Vereinigung, aufzutreten und die Sache in der
westlichen Öffentlichkeit zu vertreten. Dazu war ich geistig wie
politisch in der Lage, da ich die Protestbewegung – zumindest in
Temeschburg – selbst konzipiert und organisiert hatte. Selbst hatte ich
mir die mit vielen persönlichen Risiken behaftete Aufgabe, als
anklagender Zeitzeuge aufzutreten, die von einem genuinen Rumänen
vielleicht besser hätte wahrgenommen werden können, nicht ausgesucht,
sondern ich nahm sie aus einer moralischen Verpflichtung heraus an, wie
ich gebraucht wurde – und weil es zu meiner person keine Alternative
gab. Flankiert werden sollte ich bei der Klageaktion von
Menschenrechtsorganisationen, speziell von der rumänischen Liga für
Menschrechte aus Paris, und von Exilgruppierungen demokratischer Rumänen
vorwiegend aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Auf der
Grundlage meiner authentischen Aussagen über den Ablauf der
Gewerkschaftsgründung in Banat sollte ein Dossier erarbeitet werden,
eine Akte, in welcher die wichtigsten Menschenrechtverletzungen in
Rumänien seit der Verabschiedung der gemeinsamen Charta der
KSZE-Konferenz von Helsinki festgehalten wurden, unter besonderer
Berücksichtung der Gründung einer freien Werktätigengewerkschaft SLOMR in Rumänien, Monate vor den turbulenten Ereignissen in Polen. Die Gründung von Solidarnosc
in Polen, die Ausweitung der Bewegung in
Millionen-Mitglieder-Dimensionen und die letztendliche Verhängung des
Kriegsrechts unter General Jaruzelski, die gerade in der Realität
abliefen, bildeten den geistigen wie politischen Hintergrund dazu.
Mehr zur Thematik auch unter:
http://books.google.de/books?id=ykTjXDg8uycC&pg=PA313&lpg=PA313&dq=carl+gibson+rhapsodie&source=bl&ots=uk12-BovDD&sig=fdvi9QpWohkt8VKvssgupZbLSUA&hl=de&ei=jBZqTrOVHonSsgaKntnmBA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CB0Q6AEwAA#v=onepage&q&f=false
Mehr zur Thematik auch unter:
http://books.google.de/books?id=ykTjXDg8uycC&pg=PA313&lpg=PA313&dq=carl+gibson+rhapsodie&source=bl&ots=uk12-BovDD&sig=fdvi9QpWohkt8VKvssgupZbLSUA&hl=de&ei=jBZqTrOVHonSsgaKntnmBA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CB0Q6AEwAA#v=onepage&q&f=false
Alle Fotos: Carl Gibson
Copyright: Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen