https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Lenau
Carl Gibson, Buchbesprechung:
Roman Rocek, Dämonie des Biedermeier. Nikolaus Lenaus Lebenstragödie.
Erschienen
in der Reihe: Literatur und Leben, Neue Folge, Bd. 65. Böhlau Verlag
Wien- Köln – Weimar, 2005. 398 Seiten mit 60 Abbildungen.
Roman
Roceks jüngst erschienene Lenaudarstellung ist ein Buch, auf das die
teilweise aus weltanschaulichen wie methodischen Gründen
auseinanderdriftende Lenauforschung lange warten musste. Die umfassende
Studie zum Leben und Oeuvre Lenaus ist zwar als Biographie des -
zunehmend in breiter Aufwertung begriffenen - Dichters angelegt und kann
gut als solche gelesen werden. In ihrem Gesamtcharakter jedoch geht sie
weit über die Möglichkeiten einer Lebensdarstellung hinaus. Es ist
nicht nur ein von den Notwendigkeiten der Forschung diktiertes Werk,
sondern, und dies in hohem Maße, auch ein sehr persönliches Buch über
Nikolaus Lenau, das Rocek vorlegt. Fast hundert Jahre lang musste sich
der an Lenau Interessierte mit zum Teil unbefriedigenden
Kurzcharakteristiken zufrieden geben, die teilweise mehr verschleierten,
als sie offen legten. Das ändert sich nunmehr mit Roman Roceks
Lenaudarstellung schlagartig. Rocek, der nach eigener Aussage im Vorwort
mit Lenaus Versen und vorgesungenen Liedern im Ohr groß geworden ist,
nimmt sich die Zeit, um, was die Werkinterpretation betrifft, in die
Tiefe zu gehen. Darüber hinaus ist es ihm ein besonderes Anliegen, die
spezifischen Eigenheiten der historisch wie ideengeschichtlich
hochinteressanten Zeit zwischen 1802 und 1850, die der Lebenszeit des
Dichters entspricht, in ihrer Vielschichtigkeit als Zeit des Umbruchs zu
erfassen. Es ist einerseits noch die viel erforschte Goethezeit, die
Klassik und Romantik im Literarischen, die absolutistische Epoche eines
Napoleon Bonaparte im Historisch-Politischen, aber auch die Zeit der
Freiheitsbewegungen und des Vormärz, die in die Revolution von 1848
mündet. Ein Spiegelbild dieser turbulenten Tage in der
Menschheitsgeschichte stellt Nikolaus Lenaus Lebensgeschichte dar, die
nach Rocek als Lebenstragödie aufgefasst wird. Rocek macht in seinem Werk nicht nur einen pantragischen Zug
aus; er steigert den Zugang noch ins Geistig-Metaphysische, wenn er den
Begriff des Dämonischen wählt und den Lebensweg des großen
österreichischen Lyrikers als Dämonie des Biedermeier überschreibt. Das entspricht einer leichten, das Interesse des potentiellen Lesers stimulierenden Provokation, denn Dämonie und Biedermeier
sind eigentlich antithetische, an sich nicht kompatible Begriffe, die
sich nahezu aufheben. Die Dämonie, ein weitgehend negativ besetztes und
von Irrationalismus geprägtes Phänomen, das unkontrolliert um sich
greift und das – bis ins Ekstatische und Dionysische hinein – seine
Eigenwirkung entfaltet, verträgt sich nur schlecht mit der
beschaulich-geordneten Welt des Biedermeier, die von Lenaus
Freundeskreis aus der Stuttgarter Gegend verkörpert wird, von Lenau aber
in keiner seiner unterschiedlichen Lebensphasen verinnerlicht wurde.
Sieht man von Justinus Kerner ab, der sowohl eine Vorliebe als auch
einen besonderen Zugang zum Dämonischen hatte, dann weiß der Schwäbische
Dichterbund, sprich Gustav Schwab, Ludwig Uhland und die anderen, heut
weniger bekannten Dichter des literarischen Freundeskreises, nicht viel
mit Dämonie anzufangen. Dämonie entzieht sich dem Rationalen und bewegt
sich, wie Lenaus Vita vielfach offen legt, hinein in das Unüberprüfbare
und Mystische. Doch das macht auch Lenaus enigmatischen Reiz aus.
Lenau
gehört zu jenen Dichtern, deren facettenreiches Werk auf dem
Hintergrund eines nicht geordneten, ja turbulenten Lebens entsteht.
Roman Rocek gelingt es in besonderer Weise, das Wechselverhältnis von
Existenz und Dichtung in seiner Komplexität und Tiefe einzufangen, wobei
das Neue, das Innovatorische im Mittelpunkt des Zugangs steht. Wer
Lenau noch überhaupt nicht kennt, wird durch dieses Buch einen guten und
angemessenen Einstieg erhalten. Der Lenaukenner hingegen wird eine
Vielzahl von Neuansätzen vorfinden, die interpretatorisch neue Wege
gehen und neue Perspektiven der Deutung eröffnen. Dem Lenauforscher wird
schnell deutlich, dass der Autor im Bereich der Werkinterpretation auf
das literaturhistorisch weitgehend gesicherte verzichtet und dort
ansetzt, wo individuell und subjektiv Neuland betreten werden kann.
Perlen Lenauscher Lyrik wie die Schilflieder, die Waldlieder, der Sonett-Zyklus Stimmen, die populären und gleichzeitig kunstvollen Gedichte Die drei Zigeuner, Der Postillion, Die Wurmlinger Kapelle, Bitte, Welkes Blatt, Die nächtliche Fahrt, die zahlreichen, originellen Herbstgedichte und Zeugnisse von extremer Vereinsamung und Melancholie wie das Doppelsonett Einsamkeit oder ganz besondere Gedichte wie Blick in den Strom,
um nur einige große Dichtungen heraus zu greifen, werden – weitgehend
als bekannt vorausgesetzt – und als gesicherte Werte praktisch nicht
mehr explizit einbezogen. Stattdessen richtet sich der Fokus des
interpretierenden Biographen auf periphere Gedichte wie Frühlings Tod, Frühling oder Das Blockhaus,
Dichtungen von hoher Prägnanz, in welchen Sublimierungsprozesse offen
gelegt und politische Neuwertungen angestrebt werden. Auf diese Weise
gelingt es Rocek, das bestehende, an sich schon multivalente Lenaubild
in vielen Punkten substanziell zu erweitern und gleichzeitig diskrepante
Dissonanzen zu harmonisieren. Man spürt die intuitive Nähe zu dem
Faszinosum Lenau und die Einfühlsamkeit des Hermeneuten, der über seine
Wege neue Ansätze zu erschließen versucht.
Von allen, die den Sänger lieben,
Die, was ich fühlte, nachempfanden,
Die es besprochen und beschrieben,
Hat keiner mich wie du verstanden,
formulierte es Lenau einst in Zueignung. Etwas von diesem tieferen Verstehen schwingt in der durchweg positiv wertenden Darstellung mit. Neben der individuellen wie originellen Annäherung über einige weniger bekannte Gedichte Lenaus, die allerdings schon ausreichen, um das geistige Format und die poetische Potenz des Lyrikers zu verdeutlichen, bezieht Rocek die großen Dichtungen Lenaus, seinen Faust, dann Savonarola und die freien Albigenser-Dichtungen ansatzweise in seine Interpretationen mit ein, insofern es die Möglichkeiten einer Biographie erlauben. Diese gesamte Welt neuer, vielfach befruchtender Gedanken zum Werk Lenaus ist von Roceks Darstellung fast schon als Zuschlag zu werten, denn die eigentliche Leistung des Buches wird in den gründlich erarbeiteten, sehr überzeugenden biographischen Teil erbracht, die dem vielfach ausgewiesenen und brillanten Essayisten aus der Feder fließt. Diese Lenau-Biographie ist, um es vorweg zu nehmen, nicht nur ein großer Gewinn für die Forschung, sondern auch ein Buch für den anspruchsvollen Leser, das mit Lust gelesen werden kann.
Von allen, die den Sänger lieben,
Die, was ich fühlte, nachempfanden,
Die es besprochen und beschrieben,
Hat keiner mich wie du verstanden,
formulierte es Lenau einst in Zueignung. Etwas von diesem tieferen Verstehen schwingt in der durchweg positiv wertenden Darstellung mit. Neben der individuellen wie originellen Annäherung über einige weniger bekannte Gedichte Lenaus, die allerdings schon ausreichen, um das geistige Format und die poetische Potenz des Lyrikers zu verdeutlichen, bezieht Rocek die großen Dichtungen Lenaus, seinen Faust, dann Savonarola und die freien Albigenser-Dichtungen ansatzweise in seine Interpretationen mit ein, insofern es die Möglichkeiten einer Biographie erlauben. Diese gesamte Welt neuer, vielfach befruchtender Gedanken zum Werk Lenaus ist von Roceks Darstellung fast schon als Zuschlag zu werten, denn die eigentliche Leistung des Buches wird in den gründlich erarbeiteten, sehr überzeugenden biographischen Teil erbracht, die dem vielfach ausgewiesenen und brillanten Essayisten aus der Feder fließt. Diese Lenau-Biographie ist, um es vorweg zu nehmen, nicht nur ein großer Gewinn für die Forschung, sondern auch ein Buch für den anspruchsvollen Leser, das mit Lust gelesen werden kann.
Der
Autor nimmt sich viel Zeit und Raum, um im Rahmen der Schilderung an
sich bekannter Lebensstationen des Dichters, sein individuelles
Lenaubild zu entwickeln. Prägnante Überschriften der acht großen
Kapitel, die jeweils weiter differenzierend unterteilt sind, verweisen
auf die ideengeschichtlichen Prioritäten dieser Biographie, in deren
Mittelpunkt – seinem Wert angemessen- erfreulicherweise neben dem
Dichter nun auch der Denker Lenau steht.
Die Philosophieverbundenheit Lenaus, speziell sein Verhältnis zum Deutschen Idealismus, zu Schelling, vor allem aber zu Hegel, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Studie, immer interessiert, den Gang des Denkens und die künstlerische Rezeption von Ideen zu verfolgen und darzustellen. Die Überschreibungen der Einzelabschnitte wie: Faustisches Verlangen oder der ewige Student, Amerika – Tod und Wiedergeburt, Flucht aus der verlorenen Zeit und Eine Ästhetik des Schreckens markieren die Stoßrichtung. Hinter der Lebensbeschreibung entsteht dabei ein vielschichtiges Lenaubild, das selbst dem profunden Lenaukenner deutlich macht, auf wie vielen Wegen man sich nach wie vor dem Dichter nähern kann, ohne ihn erschöpfend zu erfassen. Die unruhige und wechselvolle Lebensbeschreibung steht für einen proteushaften Lenau, dem immer neue Züge abzugewinnen sind – und dies, obwohl die in jüngster Zeit abgeschlossene historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Lenaus keine nennenswerten Zusatztexte und Materialien erschlossen hat.
Die Philosophieverbundenheit Lenaus, speziell sein Verhältnis zum Deutschen Idealismus, zu Schelling, vor allem aber zu Hegel, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Studie, immer interessiert, den Gang des Denkens und die künstlerische Rezeption von Ideen zu verfolgen und darzustellen. Die Überschreibungen der Einzelabschnitte wie: Faustisches Verlangen oder der ewige Student, Amerika – Tod und Wiedergeburt, Flucht aus der verlorenen Zeit und Eine Ästhetik des Schreckens markieren die Stoßrichtung. Hinter der Lebensbeschreibung entsteht dabei ein vielschichtiges Lenaubild, das selbst dem profunden Lenaukenner deutlich macht, auf wie vielen Wegen man sich nach wie vor dem Dichter nähern kann, ohne ihn erschöpfend zu erfassen. Die unruhige und wechselvolle Lebensbeschreibung steht für einen proteushaften Lenau, dem immer neue Züge abzugewinnen sind – und dies, obwohl die in jüngster Zeit abgeschlossene historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Lenaus keine nennenswerten Zusatztexte und Materialien erschlossen hat.
Alte Lenau-Gedenk-Postkarte aus dem Jahr 1940 - mit Bildern aus "Lenauheim" im Banat.
Im ersten Teil der Lebensbeschreibung Gefährdete Kindheit,
wo Roman Rocek sich weitgehend auf die manchmal selbst stilisierenden
Aussagen der frühen Biographen Lenaus Anton Xaver Schurz, Ludwig August
Frankl, Max von Löwenthal bis hin zu Eduard Castle verlassen muss,
werden wichtige Einzelaspekte konsequent herausgearbeitet; speziell das
Vaterbild, die Mutterbindung, die melancholische Disposition des jungen
Knaben sowie sein weiteres determinierendes familiäres Umfeld mit der
labilen Schwester Magdalena und der überstrengen aristokratischen
Großmutter. Lenaus Vater, als der schöne Niembsch
bekannt, erscheint als herunter gekommener Bohemien, der in den
Bordellen von Temesvar im Banat, wo Lenau das Licht der Welt erblickte,
herumstreunt, sich dem Spiel ergibt, ihm hoffnungslos verfällt,
Spielschulden macht und damit – über seinen Tod hinaus - das künftige
Schicksal der Familie und seines Kindes Nikolaus schwer belastet. Ein
Stich aus der Zeit um 1817, der eine Kapelle mit Leichenkammer
darstellt, ein trauriges Gemäuer, in welchem die völlig veramte Familie
Lenaus überleben musste, veranschaulicht, weshalb die Melancholie des
Knaben gerade in diesem Umfeld zum ersten Mal erwachte.
Rocek geht sehr detailliert auf die besonders intensive Mutterbindung des späteren Dichters ein und sieht darin das Element der Verhinderung, einen Faktor, der jede spätere engere Bindung an Frauen verhindern wird. Er folgt dabei bis zu einem gewissen Grad den psychopathologischen Ansätzen des Freud-Schülers Isidor Sadger, der in einer Studie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Liebesleben Lenaus eine zweifelhafte Pathologisierung des Dichters betrieb, indem er die Melancholie- Genie – Wahnsinn- These weiter strickte. Einen Makroansatz Freuds aufgreifend, nachdem jede Kunst aus Krankheit emaniert, erscheinen Leben und Werk als unfreiwillige Funktion der genetische Disposition, der Melancholie, und später der syphilitischen Infektion, also determiniert durch Krankheit. 1)
Den älteren, oft undifferenziert eingesetzten Melancholiebegriff drängt Rocek etwas zurück und favorisiert dabei das modernere Krankheitsbild des Neurasthenikers. In den interessanten Ausführungen über Lenaus geistige Entwicklung während der Studentenzeit und Zugehörigkeit zu einer Burschenschaft erhalten Lenaus philosophische Lehrer erstmals ein markantes Gesicht, vor allem Vinzenz Weintridt, Lenaus Lehrer der Religionswissenschaft und der Philosophie an der Universität Wien. Weintridt, eine wichtige Bezugsperson Lenaus in jener Zeit, galt als liberaler Mann der Kirche und war – aus der Aufklärung kommend – ein mehr oder weniger deklarierter Anhänger der damals in Wien verfemten Philosophen Kant und Bolzano. Die Nähe zu Bolzano und der sehr liberale, auf direkte Kommunikation ausgerichtete Kontakt zu den Studierenden führten zu seiner Entfernung aus dem Lehrbetrieb. Mit Lenaus Wesen gut vertraut, soll er sehr früh festgestellt haben, der Dichter werde wohl nie glücklich werden. In seiner Darstellung, die in den größeren Strukturen die Forschungsergebnisse einer immerhin mehr als hundertfünfzigjährigen Lenauforschung anerkennt, im Detail aber zahlreiche Korrekturen vornimmt und mit neuen Spiegelungen andere Akzente setzt, zieht sich der Autor immer wieder in prätentiöse Exkurse zu zeitgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Themen zurück, die er unmerklich galant in die Beschreibung einstreut. Es sind Notwendigkeiten, die viel über die Zeithintergründe aussagen, das Biographische ergänzen – und über die reine Textimmanenz hinausgehend – große Interpretationshilfen geben. Gründlich und mit viel Liebe zum Detail, das nur jener kennt, der in der Kaiserresidenz, im Wiener Umland und in der österreichischen Landschaft aufgewachsen und daheim ist, der – auf Lenaus Spuren – die Welt in Stockerau, Ischl oder Grinzing sinnend erwandert hat, bringt Roman Rocek viel Licht in manche dunkle Stelle aus der Vergangenheit des faszinierenden Lyrikers, die vielfach poetisch in die Zukunft weist und einiges davon antizipiert hat. Das Schubert-Umfeld im Silbernen Kaffeehaus, das Lenau täglich mehrfach beehrte, um dort seine tief gelebte Einsamkeit in der Geselligkeit der Künstlerfreunde aufzulösen, ist ein solches Thema; ebenso wie das erste amouröse Abenteuer der platonischen Art mit Nanette Wolf aus Gmunden, der Freundin Franz Schuberts. Das persönliche Verhältnis zwischen dem lange bewunderten, dann zugunsten Beethovens wieder abgelehnten Komponisten und Lenau, die sich wahrscheinlich gekannt haben, bleibt mangels neuer Quellen weiterhin enigmatisch verdunkelt. In solch einem Kontext erscheint dann immer wieder ein Leitmotiv der Biographie: Lenaus Verhältnis zur Musik, das als unendliches Thema mit Variationen stets wiederkehrt. Die sich anbahnende Freundschaft zu den Repräsentanten der Schwäbischen Dichterschule wird hingegen etwas zurückhaltender behandelt, wobei auf das Verhältnis zu einzelnen Dichtern wie Ludwig Uhland und – neben den Schwaben – auch Denkern wie Franz von Baader oder Virtuosen wie Liszt überhaupt nicht näher eingegangen wird. Die Prioritäten in dieser Monographie liegen nicht in der genauen Auslotung aller Querverbindungen, sondern ganz woanders:
Lenau in Amerika steht im Mittelpunkt dieser Monographie – als Herzstück des Ganzen und, könnte man meinen, als Buch im Buch.
Rocek geht sehr detailliert auf die besonders intensive Mutterbindung des späteren Dichters ein und sieht darin das Element der Verhinderung, einen Faktor, der jede spätere engere Bindung an Frauen verhindern wird. Er folgt dabei bis zu einem gewissen Grad den psychopathologischen Ansätzen des Freud-Schülers Isidor Sadger, der in einer Studie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Liebesleben Lenaus eine zweifelhafte Pathologisierung des Dichters betrieb, indem er die Melancholie- Genie – Wahnsinn- These weiter strickte. Einen Makroansatz Freuds aufgreifend, nachdem jede Kunst aus Krankheit emaniert, erscheinen Leben und Werk als unfreiwillige Funktion der genetische Disposition, der Melancholie, und später der syphilitischen Infektion, also determiniert durch Krankheit. 1)
Den älteren, oft undifferenziert eingesetzten Melancholiebegriff drängt Rocek etwas zurück und favorisiert dabei das modernere Krankheitsbild des Neurasthenikers. In den interessanten Ausführungen über Lenaus geistige Entwicklung während der Studentenzeit und Zugehörigkeit zu einer Burschenschaft erhalten Lenaus philosophische Lehrer erstmals ein markantes Gesicht, vor allem Vinzenz Weintridt, Lenaus Lehrer der Religionswissenschaft und der Philosophie an der Universität Wien. Weintridt, eine wichtige Bezugsperson Lenaus in jener Zeit, galt als liberaler Mann der Kirche und war – aus der Aufklärung kommend – ein mehr oder weniger deklarierter Anhänger der damals in Wien verfemten Philosophen Kant und Bolzano. Die Nähe zu Bolzano und der sehr liberale, auf direkte Kommunikation ausgerichtete Kontakt zu den Studierenden führten zu seiner Entfernung aus dem Lehrbetrieb. Mit Lenaus Wesen gut vertraut, soll er sehr früh festgestellt haben, der Dichter werde wohl nie glücklich werden. In seiner Darstellung, die in den größeren Strukturen die Forschungsergebnisse einer immerhin mehr als hundertfünfzigjährigen Lenauforschung anerkennt, im Detail aber zahlreiche Korrekturen vornimmt und mit neuen Spiegelungen andere Akzente setzt, zieht sich der Autor immer wieder in prätentiöse Exkurse zu zeitgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Themen zurück, die er unmerklich galant in die Beschreibung einstreut. Es sind Notwendigkeiten, die viel über die Zeithintergründe aussagen, das Biographische ergänzen – und über die reine Textimmanenz hinausgehend – große Interpretationshilfen geben. Gründlich und mit viel Liebe zum Detail, das nur jener kennt, der in der Kaiserresidenz, im Wiener Umland und in der österreichischen Landschaft aufgewachsen und daheim ist, der – auf Lenaus Spuren – die Welt in Stockerau, Ischl oder Grinzing sinnend erwandert hat, bringt Roman Rocek viel Licht in manche dunkle Stelle aus der Vergangenheit des faszinierenden Lyrikers, die vielfach poetisch in die Zukunft weist und einiges davon antizipiert hat. Das Schubert-Umfeld im Silbernen Kaffeehaus, das Lenau täglich mehrfach beehrte, um dort seine tief gelebte Einsamkeit in der Geselligkeit der Künstlerfreunde aufzulösen, ist ein solches Thema; ebenso wie das erste amouröse Abenteuer der platonischen Art mit Nanette Wolf aus Gmunden, der Freundin Franz Schuberts. Das persönliche Verhältnis zwischen dem lange bewunderten, dann zugunsten Beethovens wieder abgelehnten Komponisten und Lenau, die sich wahrscheinlich gekannt haben, bleibt mangels neuer Quellen weiterhin enigmatisch verdunkelt. In solch einem Kontext erscheint dann immer wieder ein Leitmotiv der Biographie: Lenaus Verhältnis zur Musik, das als unendliches Thema mit Variationen stets wiederkehrt. Die sich anbahnende Freundschaft zu den Repräsentanten der Schwäbischen Dichterschule wird hingegen etwas zurückhaltender behandelt, wobei auf das Verhältnis zu einzelnen Dichtern wie Ludwig Uhland und – neben den Schwaben – auch Denkern wie Franz von Baader oder Virtuosen wie Liszt überhaupt nicht näher eingegangen wird. Die Prioritäten in dieser Monographie liegen nicht in der genauen Auslotung aller Querverbindungen, sondern ganz woanders:
Lenau in Amerika steht im Mittelpunkt dieser Monographie – als Herzstück des Ganzen und, könnte man meinen, als Buch im Buch.
Allein
in diesem Kapitel, dass mehr als hundert Seiten umfasst, offenbart sich
ein Lenau jenseits der Klischees des Unsteten und Zerrissenen, der in
eine Welt eintaucht, die sich ganz anders ist als in den oft
vereinfachenden Zusammenfassungen früherer Forschung. Lenaus Reise nach
Amerika und zurück – das ist eine ganz spannende Art, fesselnde und
zugleich kritische Zeitgeschichte zu erleben. Ausgehend von Heidelberg,
wo Lenau sich nach Roceks fester Überzeugung erstmals mit der Syphilis
angesteckt hat, ein Grund, der den angehenden Mediziner Lenau abgehalten
haben soll, nähere Bindungen mit Frauen anzustreben, reist Lenau im
Gefolge einer Auswanderungsgesellschaft in die Vereinigten Staaten. Dort
erlebt er als aufmerksamer und zeitkritischer Beobachter die
Konstitution einer Demokratie unter Präsident Jackson, die mit seinen
Vorstellungen von Freiheit nichts mehr zu tun hat. Vielleicht deutlicher
als andere Amerika-Reisende, deren Zeugnisse Rocek mit einfließen
lässt, unter anderen Beschreibungen von Alexis de Tocqueville, Vicomte
de Chateaubriand und deutschen Aristokraten wie Berthold, Herzog von
Sachsen-Weimar, erlebt Lenau die Durchsetzung eines unethischen,
materialistischen Pseudoliberalismus, der nicht dem utilitaristischen
Streben verpflichtet ist, dem Glück der größtmöglichen Zahl, sondern
lediglich der Geldgier weniger Oligarchen, die selbst bestimmen, was
Freiheit ist – nämlich die Freiheit, die anderen totzuschlagen. Eine der
Amerika-Zwischenüberschriften steht deshalb unter dem Begriff Genozid. Er
bezieht sich auf die diskriminierten, verfolgten und schließlich fast
vollständig ausgerotteten Ureinwohner Nordamerikas, auf die von Lenau
vielfach besungenen Indianer. Kontrastierend dazu führt Rocek, gestützt
auf zahlreiche Vorarbeiten anderer Autoren 2) den Leser in die
Wertegemeinschaft der Harmonisten ein, einer christlich-pietistischen
Sekte aus Württemberg, in deren Siedlung Nikolaus Lenau mindestens zwei
Monate als Gast des Gemeindegründers Rapp gelebt hat. Die wahrhaftige
und innige Gottsuche dieser Menschen, die in dem als Indianerschlächter
bekannten Präsidenten nicht weniger sehen als den Widersacher, und ihrer
von Besitzlosigkeit und Zölibat geprägten Lebenshaltung werden – wie
Rocek mehrfach hervorhebt – Lenau tief beeindrucken und auf die
Gestaltung des bald entstehenden Savonarola und der Albigenser
maßgebend einwirken. Das gesamte Amerika-Erlebnis, dessen politische
Tragweite nicht zu unterschätzen ist, wird in Falle Lenaus zu einer
reinigenden Katharsis existentieller Art führen, aus der dann auch eine
neue Poesie erwächst. Wie seine gute, alte Guarnerius-Geige sich in den
hundert Jahren ihres Bestehens selbst reinigt und alles Unnütze
ausscheidet, um einen einmaligen Ton heraus zu bringen, wird die
Läuterung in der Einsamkeit der amerikanischen Wüste zu einem
dichterischen Neuansatz führen. Rocek richtet seinen Blick dabei auf den
Zyklus Atlantica als unmittelbarem Ausdruck von Lenaus neuer Poesie,
in welche im gleichen Atemzug eine Fülle politisch brisanter Gedanken
in sublimierter Form eingearbeitet wurden. Große Aufmerksamkeit widmet
der Autor darüber hinaus Lenaus sehr spät in der Harmonistenkolonie
entdeckten Gedicht An die Ultraliberalen in Deutschland,
in welchem sich der Dichter mit dem falsch verstanden Liberalismus,
sprich mit der ad absurdum geführten Idee der Freiheit in Europa und
Übersee, kritisch auseinandersetzt. Lenaus Liebesziehungen zu dem Wiener
Vorstadtmädel Berta Hauer, zur gefeierten Primadonna Karoline Unger
sowie zu der als unwiderstehlich apostrophierten Sophie von Löwenthal
werden eingehend analisiert, wobei einige Aspekte neu ausgeleuchtet
werden. Materialien des Verfalls in collagenhafter Zusammenstellung ohne
Kommentar lassen die Studie ausklingen, ohne dass dabei Lenaus spätes Don Juan-Fragment noch angesprochen werden kann.
Lenau,
dessen gesamter Lebensverlauf ein unsteter, rastloser, spontaner und
unkonventioneller war, beginnend mit der melancholischen Kindheit, über
wechselvolle Jahre des Heranreifens bis in den tragischen Verfall
hinein, war stets ein Geist, der polarisierte, eben weil er in kein
Raster passte. Doch er war nicht primär ein bewunderter und in manchen
Kreisen sogar vergötterter Exot, ein schwarz gefiederter Paradiesvogel
der Romantik umgeben von einer Aura des Dämonischen. Lenau war in erster
Linie eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die kraft ihrer in
poetische Formen gepresster Gedanken wirken wollte und wirkte. Diesem
philosophisch Ambitionierten, der schon seine Zeitgenossen zu
provozieren wusste und damit nicht nur Zustimmung auslöste, räumt Rocek
in seiner Lenaumonographie weiten Raum ein. Dabei stellt er den Dichter
in eine philosophische Tradition, in der er die in der Forschung
zunehmend Anklang findende geistige Linie von Lenau zu Nietzsche und in
die Existentphilosophie gelten lässt. 3) Interpretationen Lenauscher
Texte vor dem Hintergrund einer langjährigen Hegel-Rezeption dominieren
die Diskussion, fordernde Passagen, die nicht selten ein Eingelesensein
voraussetzen, während eine Beeinflussung Lenaus durch die Schriften des
Systemphilosophen Herbart oder durch Gotthilf Schuberts
psychologisch-mystisches Schrifttum nicht näher verfolgt wird.
In
seinem sehr einfühlsam geschriebenen, angenehm lesbaren Buch, das in
weiten Passagen dem wissenschaftlichen Essay verpflichtet ist, rezipiert
Roman Rocek beachtlich viel Sekundärliteratur, ohne natürlich alles
berücksichtigen zu können, was an neuesten Veröffentlichungen über
Lenaus Werk vorgelegt wurde.4) Dieser sehr wissenschaftsnahe Aspekt
unterscheidet in substanziell von der der vorletzten Lenaubiographie Zeit des Herbstes von Ritter, in welcher die einzelnen Ausführungen und Argumentationsketten ungleich schwerer überprüft werden können.5)
Roceks Lenaubiographie ist – ganz im Geist des Dichters, der als Ausstrahlungsphänomen den Impressionismus und noch eindeutiger den Expressionismus befruchten wird – in manchem Sinne freiheitlich geschrieben, ohne jedoch die Basis strenger Wissenschaftlichkeit zu verlassen. Nicht selten findet sich ein gängiges Briefzitat in einem unerwarteten Kontext. Das schafft neue Sichtweisen und spornt an, den Dichter immer wieder mit veränderten Augen zu sehen.
Roceks Lenaubiographie ist – ganz im Geist des Dichters, der als Ausstrahlungsphänomen den Impressionismus und noch eindeutiger den Expressionismus befruchten wird – in manchem Sinne freiheitlich geschrieben, ohne jedoch die Basis strenger Wissenschaftlichkeit zu verlassen. Nicht selten findet sich ein gängiges Briefzitat in einem unerwarteten Kontext. Das schafft neue Sichtweisen und spornt an, den Dichter immer wieder mit veränderten Augen zu sehen.
Neid,
Missgunst und künstlerische Rivalitäten gehässiger Landsleute wie Franz
Grillparzer, dem bei offensichtlicher Anerkennung des gefeierten
Dichters kein Lob Lenaus zu entlocken war, oder einzelner Jungdeutscher
und Linkshegelianer, deren Polemik über die Argumentation hinausging,
haben dazu geführt, dass einzelne pejorative Wertungen auch in die
Forschung einflossen. Noch vor Jahrzehnten war es nicht unüblich, Lenau
zurechtzustutzen, seinen Wert zu schmälern, und ihn eher ab- als
aufzuwerten. Diese halbmasochistische Selbstkasteiung scheint inzwischen
weitgehend überwunden – vor allem dank der Studien wie der
vorliegenden. Roman Rocek malt auf ruhige Weise ein sehr konstantes
Lenaubild, indem er den Dichter gefühlvoll, doch mit wachem Auge durch
das Leben begleitet. So entsteht das Porträt einer faszinierenden
Gestalt der Zeitgeschichte und gleichzeitig eines stets neu
mobilisierenden Dichters, eines Lyriker ersten Ranges, der nun auch
einen großen Biographen gefunden hat. Bei Lenau – und das fühlten Hugo
von Hofmannsthal, Rilke und Stefan Zweig – fällt es nicht schwer es
auszusprechen: ecce poeta.
Carl Gibson
Fußnoten:
1.) Sadger, Isidor: Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus, In: Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 6, Wien,1909.
2.) Zahlreiche
Beiträge zu den Amerika-Erfahrungen des Dichters erschienen in den
Publikationen der Internationalen Lenau-Gesellschaft, Wien, speziell im
Lenau-Forum und im Lenau-Almanach in Verlauf der letzten Jahrzehnte.
3.) Unerwähnt
bleiben auch engagierte Werke der Lenauforschung wie die geistige
Charakteristik in der Form eines literarisch-wissenschaftlichen Essays:
Hammer, Jean-Pierre: Lenau. Poète rebelle et libertaire, Paris, 1988, in
der deutschen Fassung: Lenau. Rebell und Dichter, Schwaz 1993, Studien,
in welchen die auch von Rocek verfochtene Apologie der Verfolgten, der
Indianer, Zigeuner und Juden, mit viel Überzeugung vertreten wird.
4.) Vgl.
dazu: Gibson, Carl: Nietzsches Lenau-Rezeption, in: Sprachkunst, 2.
Halbband, Wien 1986, S. 188-204. bzw. das Kapitel: Die dionysische
Weltanschauung, in: Gibson, Carl: Lenau. Leben – Werk – Wirkung.
Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Dritte Folge, Band 100,
Heidelberg, 1989, S. 206ff.
Büste des österreichischen Lyrikers von Weltrang in dem nach ihm benannten
"Nikolaus Lenau"- Lyzeum in Temeschburg (Timisoara), im Banat.
Mehr über
Nikolaus Lenau
unter
Interpretationen zur Dichtung Lenaus in meinem Werk:
Carl Gibson, Lenau. Leben - Werk - Wirkung.
Heidelberg 1989, 321 Seiten.
Dieses viel zitierte Standardwerk der Lenau-Forschung ist -
laut World Cat Identities und neben einer Studie des Freud Schülers Isidor Sadger über das Liebesleben Nikolaus Lenaus -
das weltweit am meisten verbreitete Werk über den Spätromantiker und Klassiker der Weltliteratur Nikolaus Lenau .
Der leider viel zu früh verstorbene Germanist und Nietzsche-Forscher Prof. Dr. Theo Meyer erkannte in diesem Werk
"einen Markstein der Lenau-Forschung.
Es
ist überhaupt die prägnanteste Lenau-Monographie. es dürfte zum Besten
gehören, was über Lenau überhaupt geschrieben worden ist."
Das Werk, das mir, dem Autor bisher noch kein Einkommen generiert hat, wurde in acht Teilauflagen gedruckt.
Die Leinen-Ausgabe ist seit vielen Jahren vergriffen.
Ein Restbestand der kartonierten Ausgabe liegt - ungeachtet anderer Meldungen im Internetbuchhandel - noch vor und kann beim Winter Verlag, Heidelberg bezogen werden.
Trotzdem ist eine grundlegend überarbeitete Neu-Edition dieser Monographie angesagt,
da die Werke und Briefe Lenaus inzwischen in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegen.
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