Sonntag, 26. April 2020

Seneca,: Lebe zurückgezogen - „solitudine“, „in otio“ - Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche



Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.



4. Lucius Annäus Seneca - Lebe zurückgezogen - „solitudine“ und „in otio“.



Senecas Aussagen zur Einsamkeit bis hin zu relativ genauen und differenzierten Phänomen-Beschreibungen gehen weit über das hinaus, was Cicero zu dem Thema zu sagen hat und was sich später bei Mark Aurel, dem Philosophen im Kaisergewand oder bei Epiktet findet. Philosoph und Politiker Seneca, der mit seinen grundlegenden Ausführungen zur Einsamkeit eine geistige Linie festigt, die einerseits im Epikureismus und andererseits im frühen Stoizismus eines Chrysipp oder Zenon wurzelt, die – später von Petrarca sowie Montaigne fortgeführt – bis hin zu Schopenhauer und Nietzsche reicht, stützt seine Erkenntnisse zum Leben in und mit der Einsamkeit auf eigene Erfahrungen, die er unfreiwillig während seiner mehrjährigen Verbannung auf Korsika machen konnte. Darüber hinaus besinnt auch er sich auf frühere Ansätze antiken Denkens, dabei vor allem auf stoisches, epikureisches, ja selbst vorsokratisches Gedankengut zurückgreifend. Vieles von dem, was Seneca, der zugleich Tragödiendichter ist, über Einsamkeit als Abgeschiedenheit schreibt, ist also im Wesentlichen exegetische Einsamkeit-Rezeption antiker Vorstellungen, die aus dem Mythos selbst sprechen oder aus mythisch inspirierter Literatur stammen. Träger des Phänomens – das sind besonders die von Gottheiten bestraften, dem Alleinsein und der Vereinsamung preisgegebenen Helden Bellerophon und Prometheus[1], etwa in der breit rezipierten Darstellung des Aischylos, ferner Tantalus oder Sisyphus.

Seneca bemüht sich in seinen Abhandlungen jedoch nicht primär darum, genau zu sagen, was Einsamkeit ist; auch will er das Sein in Einsamkeit nicht begrifflich definieren. Das - eigentlich nur selten vorkommende - Wort „solitudine“ dient ihm vielmehr dazu, das Leben in Einsamkeit kurz, prägnant, also verdichtet zu exponieren: Das Existieren „in otio“ macht das eigentliche Sein des geistig-künstlerisch Schaffenden aus – es ist ein Leben in Muße und Kontemplation – jedoch nicht nur an sich, sondern vielmehr die Voraussetzung einer vernünftigen Lebensführung überhaupt, die als ideales Existenzmodell vieler ethisch ausgerichteter Epikureer und Stoiker gelten kann. Für den philosophischen Schriftsteller Seneca wird das „Lebe zurückgezogen“ Epikurs zum großen Thema schlechthin, zu einem symphonischen Hymnus der in unendlichen Variationen seine Ausgestaltung findet.


4. 1. „exsilium“, Senecas Verbannung auf Korsika – Unfreiwillige, äußere Einsamkeit und innere Freiheit, dargestellt im „Epigramm“



Große Geister der Antike, unter ihnen hervorstechende Charaktere wie Aristoteles[2], Ovid, und auch Cicero hatten die willkürliche Verbannung an Leib und Seele erdulden und über sich ergehen lassen müssen, bevor sie dann – wie Ovids Zeugnisse vom Pontus eindrucksvoll belegen, tiefgründig darüber berichteten. Das Exil oder „exsilium“, wie es bei Seneca heißt, das eine besondere Form erlebter Einsamkeit verkörpert, bedeutete immer schon Heimatlosigkeit, Exponiertheit, Stigma, Schmerz, Leiden und letztendlich Verzweiflung, alles Phänomene, die das vereinsamte Individuum bestimmen und die Einsamkeit als Zustand des Leides erscheinen lassen. Vor den Menschen, vor der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, mussten schon Götter ins Exil, die gefallenen Gottheiten des Griechentums ebenso wie die gefallenen Engel der Bibel, bevor sie an entlegenen Orten, auf der unvollkommenen Erde, im Kaukasus oder gar in der Hölle Zuflucht und eine Möglichkeit zum Weiterleben fanden – und das immer, weil ein übermächtiger Despot es so wollte, im Himmel wie auf Erden. Wie schnell ein Engel fallen und ein Held der römischen Gesellschaft ins Nichts stürzen kann, wurde auch Seneca bewusst, nachdem er, der Staatsmann und Mentor Neros, als offensichtliches Opfer einer politischen Intrige, mitten aus dem gesellschaftlichen Leben gerissen und auf die entlegene Insel Korsika verbannt[3] worden war. Der gegen ihn erhobene Vorwurf – und es blieb bei dem Vorwurf – er hätte sich in fremden Schlafzimmern herumgetrieben und die Ehe gebrochen, war natürlich genauso absurd wie die aus der Luft gegriffene Anschuldigung, Ovid hätte mit seiner gut gemeinten Verführungskunst die Sitten Roms gefährdet. Wen interessierte schon die Wahrheit, wenn es darum ging, einen lästigen Rivalen loszuwerden? Der wohlhabende und somit auch einflussreiche Senator Seneca musste die Ewige Stadt verlassen und seinen großzügigen Palast gegen ein kleineres Häuschen auf Korsika eintauschen, um dort, weitgehend unter Nichtrömern, ganze acht Jahre seines Lebens zu verbringen. Innerhalb jener Kulisse von äußerer Einsamkeit entstanden - neben kleinen literarischen Produktionen im epigrammatischen Stil - mehrere philosophische Abhandlungen[4].

Es sind „Trostschriften“, in welchen der Stoiker Seneca, der weniger ein strenger Philosoph[5], dafür aber ein begnadeter Schriftsteller und Tragödiendichter war, zunächst sich selbst tröstet, indem er andere tröstet. In einem „Epigramm“ aus diesen Tagen des Kummers und der Sorgen fängt der zwangsisolierte Seneca sein Lebensumfeld auf Korsika ein:

„Fremdes Corsisches Land, von jähen Felsen umschlossen,

Schauerlich, menschenleer, starrt dein ödes Gebiet;

Nicht bringt Früchte dein Herbst, nicht ziehet Ernten dein Sommer;

Und dein Winter voll Reif kennt nicht Pallas Geschenk;

Nicht ein erfreulicher Lenz streut hier erquickende Schatten,

In dem unseligen Land wächst nicht ein Gräschen empor;

Nicht die Gabe des Brot’s und des Quells, nicht die letzte des Feuers,

Zwei, die Verbannung nur, und der Verbannte sind hier.“


Melancholische Landschaft auch da. Die inhaltliche Nähe zu Ovid ist geradezu frappierend. Die Anklänge, doch vor allem die Art, wie das Sujet angegangen wird, erinnert stark an die Schilderungen Ovids in den „Lieder(n) der Trauer“, Tristia und in den Briefen vom Schwarzen Meer, Epistulae ex Ponto. Das gleiche unselige „waste land“, die Wüste, eine lebensfeindliche Natur, die weder Früchte hervorbringt, noch ästhetischen Trost spendet, das fehlende Lebenselixier Quellwasser, dessen besondere Bedeutung für ein gesundes Leben bereits Hippokrates hervorhebt, kaum Nahrung und Wärme, stattdessen aber winterlicher Frost und menschliche Verlassenheit. Seneca greift auf die drastische Symbolik der Melancholie-Gestaltung zurück, um die Negativauswirkungen des „Unortes“ hervorzuheben, jenes „Locus terribilis“, der einer irdischen Hölle gleichkommt und – wie einst im Mythos - „Strafe“ bedeutet, eine, nicht von Göttern, aber von gottgleichen „bösen“ Menschen auferlegte Bestrafung für etwas, was man nicht verbrochen hat.

Wenn Ovid etwas übertrieben haben sollte, als er sein natürliches wie menschliches Umfeld am Schwarzen Meer in höchster Negativität skizzierte, wehklagend und jammernd, ohne müde zu werden, dem übermenschlichen Erleiden der Qualen immer neue Aspekte hinzufügend, dann übertreibt sicher auch Seneca. Schließlich ist auch er – wie viele Dichter vor Goethe - darum bemüht, zu sagen, was er erleidet, besonders in dem – in die Ewigkeit zielenden - Epigramm. Dort aber, wo der stets fromme Dichter Ovid selbst im entrüsteten Aufbegehren noch mild elegisch bleibt, verfällt der mehr selbstgefällige als bescheidene Machtmensch Seneca, der neben Ruhm und Ehre auch die tatsächliche politische Macht ausgeübt und ausgekostet hat, einem bitteren Sarkasmus am Rande des Zynismus: „Zwei, die Verbannung nur, und der Verbannte sind hier!“

Indem der Exilierte das forcierte „Alleinsein“ ironisiert und verhöhnt, erhebt er sich darüber, im Amor fati sein Los hinnehmend. Da es ihm darauf ankommt, eine Situation, ganz egal wie verfahren sie ist, philosophisch meistern zu müssen, besinnt sich Seneca auf die Vorgaben Ciceros in den Tuskulanen, in welchen der selbstbewusste Römer in reifem Alter seinem Volk griechische Philosophie in lateinischer Verdolmetschung serviert und ganz nebenbei auch noch die – bereits betonte - Verniedlichung der Verbannung betreibt.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Seneca jene fünf Bücher seines berühmten römischen Vorgängers recht genau kannte, ja dass er vielleicht sogar fern im korsischen Exil in diesen Werken der Zurückgezogenheit las. Innerhalb von acht Jahren in Acht und Bann hatte Seneca dann auch ausreichend Zeit, Gelegenheit und Muße, um über den Zustand seiner unter Zwang herbei geführten Exilierung nachzudenken. Seine Lösungsansätze sind vielfach überliefert.

Als guter Stoiker ist Seneca davon überzeugt, das Gefühl der Heimatlosigkeit und das Fremdsein in der Fremde lasse sich dadurch überwinden, indem der Verbannte den Verbannungsort in die Gesamtwelt einfügt und ihn somit als Stätte des Leidens aufhebt. Wenn einer ins Exil gehen muss, nimmt er auf seinem Weg in die Verbannung sich selber mit, verkündet Seneca in seinem Trostbrief an die Mutter. Sein extensiver Weltbegriff und die sokratische Auffassung, jeder Mensch sei eigentlich ein Kosmopolit, ein Weltbürger, ermöglichen es ihm, die Heimatlosigkeit als solche aufzulösen und das erzwungene Exil als bloßen, profanen „Ortswechsel“ zu deklarieren. Nach Senecas Überzeugung, dürfe dieser Umstand keinen weiteren Einfluss auf die seelische Befindlichkeit des Individuums ausüben.

Psychologisch geschickt bedient sich Seneca der Vernunftargumente in der Art, wie sie Epikur, ältere Stoiker und auch Cicero vorexerziert hatten. Rhetorisch versiert werden im Namen der Vernunft die Übel so uminterpretiert, dass aus dem gefürchteten Exil eine Selbstrettung wird: Der Psychologisierende biegt und lügt sich so die Welt hin, wie er sie benötigt. In der „Trostschrift für Mutter Helvia“ heißt es unmissverständlich in klarstem Latein: „Daß du der Heimat fern bist, ist nicht schlimm. Du hast dich so mit Philosophie vertraut gemacht, daß du wissen müsstest: Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“[6] Die Kunst des Philosophierens – und der bewusste Rückzug auf diese – bilden das Instrumentarium, die Methode und das Heilmittel zur Überwindung von Trostlosigkeit und Verzweiflung. Es kommt darauf an, die Extrem-Situation zu meistern, indem sie ertragen wird - und zwar in Rückbesinnung auf die eigentlichen Qualitäten des Menschen, vor allem auf die alle Sphären des Menschseins durchziehende Vernunft. Die Ratio, das Licht der Stoiker und Epikureer, wird zum bestimmenden Faktor: „Der Geist ist’s. Er geht mit ins Exil, und in den unwirtlichsten Wüsteneien ist er selbst, wenn er soviel fand, wie zur Erhaltung des Leibes genügt, überreich an seinen Gütern und freut sich daran.“[7]


4. 2. Existenzbewältigung über Poesie bei Ovid und ethisches Philosophieren bei Seneca


 


Das sind schöne Worte des Trostes, die vielleicht eine partielle Bewältigung der Verbannungssituation ermöglichen. Wo ihre Grenzen liegen, bezeugen nicht zuletzt die Trauergesänge des Ovid, die elegischen Tristia oder die bisweilen verzweifelten Lamentationen der Epistulae ex Ponto, die als bittere Zeugnisse tief erlebter Einsamkeit gelten können. Ruhe und Stille, die sich fernab von der Hektik des Gesellschaftslebens, in welchem der Einzelmensch oft nur ein Gehetzter und Fremdbestimmter ist, in der Einsamkeit einstellen, ermöglichen die Meditation im religiösen und die Reflexion im philosophischen Bereich. Ovid, einst ein lebensfroher Mensch der römischen Gesellschaft am Nabel der Welt, bejaht diese Bedingungen weniger stark als Seneca, obwohl er auch aus der Einsamkeit heraus Kunst produziert. Der fühlende empathische Dichter spricht stärker aus ihm als der rational orientierte Philosoph. Ovid malt die nicht selbst gewollte, von anderen herbei geführte Situation als subjektive Darstellung des Erleidens von Einsamkeit in poetischen Worten, während der Philosoph Seneca als konsequenter Stoiker aus der vergleichbaren Situation eine Philosophie konstruiert.

Für den Denker kommt es primär nicht darauf an zu sagen, was er gerade fühlt, sondern er weist auf ein ethisches Imperativ hin, auf das, was sein soll, was aus der Lage erwachsen kann. Er appelliert an den Vernunftmenschen, ein Ethos zu entwickeln und dementsprechend zu handeln, zu leben und zu überleben. Bei Ovid, dem Dichter, bleibt die Klage Klage – bei Seneca, dem Lebensweisen, wird die Klage nicht mehr als solche vorgetragen, sondern gleich zum ethischen Aufruf erhoben. Als Stoiker erhebt er den Blick zum Himmel und flüchtet in den Trost einer Weltanschauung, die ihn mit dem Göttlichen verbindet – und somit Religion wird. Während ein Stoiker im Übergreifenden aufgehen kann und sich damit geistig mystischen Positionen nähert, an die christliche Denker später mühelos anknüpfen können, bleibt Ovid – ohne das eigene Negativlos zu akzeptieren - bestenfalls die Besinnung auf die Göttlichkeit der Kunst.


4. 3. Ruhe der Einsamkeit - Apathie, Ataraxie, Eudämonie, „constantia“


 


Die Ruhe der Einsamkeit, für Seneca ein Wert an sich, vor allem wenn noch die Apathie, also das Freisein von körperlichen und seelischen Schmerzen hinzukommt, ist die Bedingung für die von den Stoikern und Epikureern erstrebte Ataraxie, die wiederum eine Vorbedingung der höchsten Seinsform, der Eudämonie ist. Der Gleichmut der Seele führt letztendlich zur wahren Glückseligkeit, wobei Epikur deutlicher als die Stoiker das Glück im Irdischen erstrebt, die bereits kosmisch-transzendent orientierten Stoiker hingegen mehr von universeller Harmonie erfüllt sind. Seneca appelliert eben an das Bewusstsein des autarken Stoikers, die Kraft aufbringen, unbeeindruckt vom Walten der Affekte eine strenge Lebensphilosophie durchzuhalten. Der Geist soll Psyche und Soma beherrschen, ja den Geboten von Vernunft und Notwendigkeit unterwerfen. Eine kühne Forderung an den souveränen Geist, an den Starken, an den ethisch Gefestigten! Doch im tatsächlichen Leben, das vom Auf und Ab, von Hochs und Tiefs, bestimmt wird, ist es schwer, die aufwallenden Emotionen und Gestimmtheiten durch eine stoische Gleichmäßigkeit, durch eine „constantia“ der Seele, aufrecht zu erhalten. Das Fleisch ist schwach – und die Seele anfällig, wankelmütig, den Launen und Stimmungen unterworfen. Gerade in Tomis, dem Verbannungsort Ovids, der heute – mehr oder weniger zufällig „Constanta“ heißt - wurde dieser Beweis vielfach erbracht: In der Verbannung, im exsilium, ist das Leben, über dessen Kürze Seneca virtuos reflektiert, eben nicht kurz, sondern unendlich lang – wie jedes Leiden dem Betroffenen lang erscheint – und voller Schwankungen bis in die Untiefen der Melancholie und Verzweiflung hinein. Von der Situation aus betrachtet ist das von anderen forcierte Exil beider Geister bis auf einige graduelle Unterschiede im Wesentlichen vergleichbar. Die große Differenz in der Exilauffassung – und damit der Bewertung des Lebens in Einsamkeit – besteht in der geradezu gegensätzlichen Haltung. Während Ovid, der einst lebensfrohe Dichter und gelegentliche Sarkast, seine eigene Lage reflektiert und in unzähligen Variationen vehement dramatisiert, klagt und anklagt, appelliert der schriftstellernde Philosoph Seneca an das Ausharren, an das Durchhalten in der Situation, wobei Klage und Anklage zwar nicht ganz ausbleiben, aber nicht im Mittelpunkt der Bewältigung stehen.


4. 4. „De constantia sapientis“ – Die „Unerschütterlichkeit des Weisen“


 


Es ist symptomatisch für den Philosophen Seneca, wenn er, auf dem öden Fels sitzend - wie später der deutsche Minnesänger sinnend auf einem Stein, nicht das subjektive Los reflektiert, analysiert und in ein Gedicht oder in eine Tragödie fließen lässt, sondern dass er eine ganze Schrift verfasst, einen Traktat, dessen Erkenntnisse essenziell über das rein Individuelle hinaus reichen. In den Tagen seines Exils auf Korsika konzipiert und erarbeitet Seneca die Abhandlung „De constantia sapientis“, eine philosophische Schrift über die „Unerschütterlichkeit des Weisen“, in welcher er das Ideal stoischer Tugendlehre, die Autarkie des echten Philosophen, in den Mittelpunkt stellt, indem er darlegt, dass ein wahrhaftiger Philosoph selbst dann nicht erschüttert werden kann, wenn ihm Unrecht geschieht, da er sich selbst schon über dieses erhoben hat. Mit diesem Bewusstsein wird – wie einst Sokrates - später auch Seneca, von seinem Schüler Nero zum Freitod gezwungen, in die Ewigkeit hinüber schreiten.

In der lange hinaus gezögerten Trostschrift an die Mutter wird er, neben anderen tragischen Schicksalen, auch auf das eigene Los zu sprechen kommen. Doch Seneca wird sein Los nicht bitter beklagen wie der vereinsamte Dichter Ovid am Pontus in seinen schwermütigen Elegien, sondern – ausgehend von anderen Fällen der Verbannung hoch stehender Persönlichkeiten aus der römischen Geschichte – wird Seneca sein Fatum in einen historischen Kontext stellen. Als antiker Lebensphilosoph stoischer Prägung, wird er die negativen Aspekte seines Daseins vor allem philosophisch konsequent zu bewältigen suchen, indem er die grausame Exilsituation als solche euphemistisch entschärft und verharmlost, sie psychologisierend neutralisiert, ja sogar trivialisiert, um schließlich alles, eingebunden in einen kosmischen Gesamtzusammenhang gemäß stoischer Weltsicht aufzulösen. Während Ovid, dessen nach Rom übermittelten Elegien Seneca wahrscheinlich kannte, permanent damit beschäftigt ist, sich im Kreis um das eigene Ich zu drehen, eine nahezu hypochondrisch anmutende „Selbstschau“ zu betreiben und die barbarische Außenwelt zu beschimpfen, lenkt Seneca die - ebenfalls von derben Schicksalsschlägen heimgesuchte - Mutter von den Leiden ab, um ihr auf diese Weise zusätzlichen Kummer und Sorgen zu ersparen.

Auf diese Weise manifestiert sich die praktizierte Empathie eines Philosophen, der, fast zwei Jahrtausende vor der Etablierung der Psychologie als Wissenschaft, bereits ein großer Psychologe[8] war. Aus diesem Grund betreibt Seneca dann auch kein - auf Mitleid-Erregung abzielendes, andere belastendes – Selbstbeklagen, sondern er schreitet, wenn er denn klagt, zur direkten Anklage, in deren Mittelpunkt nicht nur ein einzelner Gewaltherrscher wie Caligula, sondern die gesamte römische Gesellschaft seiner Zeit stehen wird. Seneca, der – aus der Einsamkeit der Verbannung heraus - somit bewusste Gesellschaftskritik betreibt, richtet seinen Blick auf den Geist der Zeit, der in vielen Bereichen ein dekadenter, ein Ungeist ist – namentlich wird er den sich anbahnenden Niedergang der römischen Gesellschaft vehement anprangern und jene Dekadenz-Phänomene geißeln, die letztendlich zum Untergang des fast tausendjährigen Weltreiches führen werden.

Doch noch bevor er zum verbalen Schlag gegen eine Gesellschaft ausholt, die er wesentlich mitgeprägt hat, relativiert der Lebensphilosoph zwei zentrale Begriffe, einschneidende Formulierungen und Schlüsselwörter, die dem verstoßenen Ovid fern am Pontus viel Verdruss bereiteten: gemeint ist die – im Epigramm verspottete - „Verbannung“ selbst und die von Ovid stets hochgehaltene, eminent wichtige Wertekategorie „Heimat“.


4. 5. „Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“[9] – Oder: „Patria est, ubicumque est bene“[10]


 


Was bedeutet Verbannung überhaupt, fragt Seneca: „videamus, quid sit exsilium“[11]. Provozierend stellt er dann die weit verbreitete These in den Raum: Carere patria intolerabile est“[12]Der Verlust des Vaterlandes sei unerträglich, nicht hinnehmbar. Stimmt das wirklich? Seneca muss rhetorisch so vorgehen, um unmittelbar widersprechen zu können. Noch bevor Seneca weit ausholend auf den natürlichen Lauf der Dinge und das kosmisch bestimmte Werden und Vergehen verweist, kommt er - das individuelle Schicksal der eigenen Verbannung und das Los der betroffenen Mutter einbeziehend - in seiner Gegenargumentation auf die zahlreichen Migranten zu sprechen, auf die ökonomisch motivierten Flüchtlingsströme der Antike, die seit der Jahrtausendwende aus allen Teilen des Römischen Weltreichs nach Rom strebten, um dort ihr Glück zu machen. Sie alle gaben ihr Vaterland, ihre angestammte Heimat freiwillig auf, um am Wohlstand der Ewigen Stadt teilzuhaben, ganz nach dem - auch heute noch gültigen - Motto der Zeit: Ubi bene ibi patria! („Patria est, ubicumque est bene“): „Wohlan, sieh Dir genau die Menschenmenge an, für die kaum der ungeheuren Hauptstadt Häuser reichen: Der größte Teil dieser Menge ist heimatlos. Aus ihren Kleinstädten und Siedlungen, ja aus der ganzen Welt sind sie zusammengeströmt.“[13]

Das Mekka der - nach Freiheit und einem menschenwürdigen Auskommen gierenden - Menschen aus den römischen Provinzen rund um das Mittelmeer hieß damals Rom. Wie bei den europäischen Auswanderern nach Amerika auch, die den alten Kontinent aus Not verließen, war der emotionale Wert Heimat bereits in der Antike etwas, was gern gegen existenzielle Sicherheit aufgegeben werden konnte. Das Römische Reich von Cäsar bis Trajan und Hadrian war der Vielvölkerstaat überhaupt, während Rom einen Schmelztiegel darstellte, der jeden Untertan zum Römer – und somit zum tolerant-humanen Weltbürger formte. Seneca, der Politiker, sah die Dinge klar und pragmatisch. „Nempe loci commutatio.“[14] Was ist Exil mehr als Ortswechsel?

Seneca, der die Negativ-Auswirkungen der Verbannung nicht aus den Augen verliert, steigert sein verharmlosendes Zurechtbiegen der Exil-Situation trotzdem noch weiter, indem er sarkastisch hinzufügt, es gäbe keinen Verbannungsort, an welchem sich nicht auch Menschen aus Neigung aufhielten. Man könne, wie er auf Korsika, auch den kahlsten Fels, das unfruchtbarste Land und das schlechteste Klima gut finden: „Trotzdem halten sich da mehr Fremde als Einheimische auf. Derart leicht ist also der Ortswechsel an sich zu ertragen, daß sogar ein solcher Ort bestimmte Leute aus ihrer Heimat fortgelockt hat.“[15] Das klingt wenig überzeugend. Wer freiwillig seine Wurzeln aufgibt und in die Welt zieht, auch auf die Gefahr hin, in der ungewissen Fremde zu stranden, alles zu verlieren, selbst das nackte Leben, der kann sich vielleicht zu einer ähnlichen Sichtweise durchringen. Wer aber unter Zwang gehen muss, wer seine Identität einbüßt, nur weil er sie unter anderen Bedingungen nicht mehr aufrecht erhalten kann, der wird ganz entgegengesetzt argumentieren – wie der ans Schwarze Meer verbannte Ovid.

Ovid hätte da auf keinen Fall zugestimmt, weil für ihn der Begriff „patria“, Vaterland, gleichbedeutend war mit der Summe aller positiven Assoziationen, mit römischer Kultur und Zivilisation, mit Werten wie Geborgenheit, Sprache, Kultur, Recht, Gesetz, Sitte und Kunst. Doch Seneca, all dies ignorierend, stellt nur fest, dass diese positive Kategorie für unendlich viele Menschen überhaupt nicht existiert; nicht nur für den, über den Dingen stehenden, kosmisch verankerten, stoischen Philosophen, der von der Überzeugung ausgeht, jeder Mensch trage den göttlichen Samen in sich, jeder Mensch sei an sich göttlich und diese Göttlichkeit könne er überall hin mitnehmen, wohin auch immer ihn das Schicksal verschlage, sondern das Gleiche gelte auch für ganze Völker, die seit Jahrhunderten durch Europa wandern, der Vermischung und der Assimilation unterworfen waren; ebenso für viele Einzelmenschen und große Individuen aus der römischen Geschichte, die fern der Heimat als Exilierte in eigentlicher Selbstbesinnung glücklich werden konnten, ohne etwas Substanzielles zu vermissen. „Und all diese Völkerwanderungen – was sind sie anderes als massenweises Exil?“[16]

Heimatlose, Vertriebene gibt es überall auf der Welt – selbst Rom, der Mittelpunkt der Welt, wurde von einem Vertriebenen gegründet, von Äneas, der, nachdem Troja gefallen war, mit seinem Volk den Exodus wählen und nach Italien ziehen musste. Nach Senecas Ausführungen, kann der Einzelmensch überall auf der Welt das Bewusstsein seiner Freiheit erlangen, indem er, ganz egal in welchem Land er auch sein sollte, den Blick zum Firmament, zu den Sternen erhebt: „Das Weltall hier, die größte und herrlichste Schöpfung der Natur, und der Geist, der das All betrachtet und bewundert als sein großartigster Teil, sind unser beständiges Eigentum und werden solange für uns da sein, wie wir selbst sind. Froh und mutig wollen wir deshalb, wohin auch immer das Geschick uns führt, mit festen Schritten eilen. Ziehen wir durch alle möglichen Länder: Kein Ort für die Verbannung ist zu finden, denn nichts, was in der Welt ist, ist dem Menschen fremd. Von überall erhebt er gleichermaßen den Blick zum Himmel; stets gleich weit ist alles Göttliche von allem Irdischen entfernt.“[17]

Der deutsche Aufklärer und Metaphysiker Immanuel Kant wird später diesen schönen Gedanken, der aus einer psychischen Notwendigkeit entspringt, aber auch in die Selbsttäuschung führen kann, aufgreifen. Seneca verweist auf die kosmopolitische Weltsicht, die eigentlich für jeden Humanisten gültig sein sollte: „Daß Du der Heimat fern bist, ist nicht schlimm. Du hast dich so mit Philosophie vertraut gemacht, daß du wissen müsstest: Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“[18]

Diese, dem edlen Marcellus entlehnten, an die Mutter gerichteten Trost-Worte, die ein Ovid, vom Fühlen bestimmt, sicher ablehnen würde, bezieht Seneca auf seine eigene, physisch noch erträgliche Situation auf der warmen Mittelmer-Insel Korsika, während Ovid am Ende der Zivilisation - unter Geten und Sarmaten - im Eis erstarrte. Eine Verurteilung zur Verbannung zieht zwar oft den Verlust des Bürgerrechts und des Vermögens nach sich und führt – selbst bei der milderen Form der „relegatio“, die Ovid traf, in die Armut. Doch kein Verbannungsort ist karg genug, um nicht das Wenige abzuwerfen, was der Mensch zur Erhaltung seiner Existenz benötigt. Keine Insel, selbst der wasserlose und dornenreiche Felsblock Korsika nicht, und keine Wüste kann öd genug sein, um den Menschen abzuhalten, neu Wurzeln zu schlagen; denn, da er, wenn er stoisch denkt, all seine Vorzüge bei sich hat, kann er auch die anfänglichen Unannehmlichkeiten des Exils überwinden und sich seines Dasein erfreuen. Schließlich kann der Verbannte, der sich selbst entwirft, nie seiner inneren Freiheit beraubt werden. „Deswegen kann er auch niemals heimatlos sein, da er frei und den Göttern verwandt und mit der ganzen Welt, der ganzen Ewigkeit verbunden ist. Denn seine Gedanken kreisen um den ganzen Himmel und machen sich jede Vergangenheit und Zukunft eigen.“[19]

Der Stoiker erhebt sich leibverachtend über die körperliche Hülle und konzentriert sich auf Geist und Seele: „Animus est, qui divites facit.“[20] – „Der Geist ist’s, der reich macht.“ Ergänzend heißt es: „Er geht mit ins Exil und in den unwirtlichsten Wüsteneien (solitudinibus) ist er selbst, wenn er soviel fand, wie zur Erhaltung des Leibes genügt“.

Während Ovid, schon zur Hypochondrie neigend, den kranken Körper streng beobachtet, ohne sich den psychosomatischen Auswirkungen entziehen zu können, verkündet Seneca – obwohl auch er körperliche Leiden kannte – zumindest theoretisch die befreiende Selbsterhebung des Subjekts: „Der arme Leib da, das Gefängnis und die Fessel der Seele, wird dahin und dorthin gestoßen. Er muß Martern, er muss Überfälle, er muss Krankheiten erleiden. Die Seele selber freilich ist gottgeweiht und ewig und von der Art, daß man nicht Hand an sie legen kann.“[21] Plotin, der sich angeblich schämte, in einem Leib wohnen zu müssen, Gnostiker und fromme Christen werden ihm in diesen Anschauungen folgen.

Senecas Ausführungen zur Exilsituation stehen in der Tradition jahrhundertealter Problematisierungen der Thematik in der griechischen Literatur und Philosophie. Als einer seiner unmittelbaren Vorgänger hatte bereits Cicero die Exilfrage in seinen „Gesprächen in Tusculum“ angeschnitten und dabei im fünften Gespräch die Verbannung als ein großes Übel ausgemacht. Was hat jener zu fürchten, der Geld und Ehre verachtet? „Exilium, credo, quod in maxumis malis ducitur“ – „Ich denke, die Verbannung, die man zu den größten Unglücken rechnet.“[22] In diesen Gesprächen, die Ovid, dem poeta doctus, bekannt sein konnten, neigt Cicero allerdings auch schon zur Bagatellisierung der Exilsituation, indem er in der Verbannung nur eine ausgedehnte Reise oder eine Reise ohne Rückkehr sieht. Der statische Ortswechsel Senecas erfährt eine dynamische Ausweitung, die ins Unendliche strebt. Deshalb greift Cicero – stellvertretend für den Weisen überhaupt, der kraft seiner Rückbesinnung auf die Philosophie jedes Übel zu bewältigen weiß – ein Wort des Sokrates auf, in welchem sich dieser als Bewohner des Kosmos bezeichnet – als Weltbürger par excellence. Ein Kosmopolit ist überall zu Hause – frei nach der Überzeugung des Griechen Teukros: „Patria est, ubicumque est bene“[23] – das Vaterland ist dort, wo es einem gut geht – also dort, wo eine freie Geistesentfaltung möglich ist, ganz egal ob diese als Philosoph oder Dichter erfolgt. Dabei kann eine adäquate Versklavung daheim sogar einem freiwilligen Exil vorgezogen werden.

Cicero erwähnt eine ganze Reihe illustrer Griechen, unter ihnen Aristoteles, Theophrast[24], Kleanthes und Chrysipp, die allesamt ihr halbes Leben auf Reisen durch die Fremde verbrachten, um das Ausgesetztsein außerhalb der Heimat zu entschärfen. Ovid wird viele subjektive Argumente finden, um in seinem Oeuvre vom Schwarzen Meer aus massiv zu widersprechen. Ihm sind das existenziell Erlebte, der Schmerz, die Traurigkeit und die echte Melancholie, näher als der synthetische, oft nur daher gesagte Moral-Entwurf. Doch Seneca wird, das Ideal stoischer Ethik voll im Visier, Cicero folgen. Dort, wo das Vorbild sich noch vornehm zurückhält, wird Seneca mutig seinem Umfeld den Spiegel vorhalten und die bereits dahinsiechende, römische Gesellschaft kritisch angehen.


4. 6. Senecas Klage als Anklage – Gesellschaftskritik und Dekadenz-Kritik aus der Einsamkeit des Exils heraus in der Auseinandersetzung mit den Tyrannen Caligula und Nero



„Wer kritische Fragen stellt, dem wird es immer an einem geeigneten Staat fehlen. Ich möchte gern wissen, für welchen Staat sich ein Weiser einsetzen wird. Für den der Athener, in dem man Sokrates verurteilt, in dem Aristoteles, um nicht verurteilt zu werden, in die Verbannung gehen muss, in dem Neid über Tüchtigkeit triumphiert?“[25]

Das Leben in der Einsamkeit birgt auch Chancen, Chancen der tieferen Erkenntnis, der zukünftigen Lebensplanung und Gestaltung. Da er viel Zeit zur Verfügung hat, um über die gesellschaftlichen Gegebenheiten oder politische Entwicklungen gründlich nachzudenken, wird der Verbannte manche Phänomene klarer sehen. Er wird seine Schlüsse ziehen und Lösungen herbeiführen, zu denen er im hektischen Alltagsleben der Großstadt-Gesellschaft nie gelangt wäre. Die Existenz in Abgeschiedenheit, ganz egal ob unfreiwillig oder freiwillig dorthin gelangt, löst den Zwangsexilierten auch von den falschen Werten seines gerade aufgegebenen Umfelds, von der Welt, die er hinter sich lassen musste; oft, wie im alten Rom, von einer schwer entarteten Welt, von der Dekadenz und eröffnet ihm – über das reine Philosophieren und Meditieren hinaus – die schöpferische Welt des Denkens und der Künste.

Wie die bewunderten Vorbilder Marcellus und Brutus in der Abgeschiedenheit der Verbannung sich gerade zur Wissenschaft und Kunst hingezogen fühlten, weitaus deutlicher als je zuvor im Leben, so nimmt auch Seneca den Drang wahr, schöpferisch tätig zu sein. Philosophieren und schriftstellerische Tätigkeit gehen nunmehr Hand in Hand und verbinden sich bei Seneca zum einem Kunstprodukt, zu einem so genannten Dialog, der in Wirklichkeit keiner ist, sondern eine dialektisch konzipierte Abhandlung, eine Art „Essay“[26], also eine eigene literarische Form, in welcher philosophische und gesellschaftskritische Inhalte sich gegenseitig natürlich durchdringen. Dort, wo aus Musenanbetung und Gottesdienst Kunst entsteht, situations- und existenzbewältigende Kunst, begegnen sich Ovid und Seneca wieder. Ovid wird am Pontus fortfahren, in seinen Trauerliedern und Episteln elegisch zu jammern, auch wenn gelegentlich eine Bitterkeit nicht mehr zu überhören sein wird, die Fehler im eigenen Versagen und nicht in der Willkür-Herrschaft des Despoten Augustus suchend. Bei Seneca hingegen wird die Schärfe direkter Gesellschaftskritik zunehmen und sich sogar bis zur gnadenlosen Beschimpfung hin steigern. Selbst der Unzucht mit einer Nichte des Kaisers bezichtigt, dafür von der Macht entfernt und exiliert, wird er die „Heuchelei“, die ihn zu vernichten droht und letztendlich auch vernichten wird, gnadenlos brandmarken.

„Vomunt, ut edant, edunt ut vomant“[27]Sie speien, um zu fressen, sie fressen, um zu speien“, ohne sich die Zeit zu nehmen, die aufgenommenen Delikatessen aus fernen Ländern oder aus den Untiefen der Weltmeere auch zu verdauen. Eine unverblümte Charakterisierung seiner Zeit und ihres Zeitgeistes! Der Sittenverfall jener ethosfernen Epoche aufziehender Dekadenz wird gnadenlos im Schrifttum angeprangert. Petronius, der mit Seneca auf Neros Geheiß in den Tod gehen musste, allerdings nicht ohne dem psychisch geschädigten Kaiser ein letztes Mal literarisch die Leviten zu lesen, hat diese sittliche Welt seiner Zeit in seinem „Satyricon“ beschrieben – Und selbst Heine hat in seinem Wintermärchen noch darüber gelacht. Doch Seneca, dem der anfangs noch mild gestimmte Artifex die Verwaltung der Staatsgeschäfte eines Weltreichs in die Hände gegeben hatte, meinte es ernst. Sein Hass auf die morbide Gesellschaft, deren Teil er selbst lange war, entzündet sich an Caligula, dem Terroristen der antiken Welt, den, nach Seneca, die Natur nur hervorgebracht zu haben schien, um die Lasterhaftigkeit der Welt in einer Person zu vereinen. Caligula, neben Nero der zweite große Psychopath und Gewaltherrscher römischer Antike, verspeiste an einem Abend nicht nur den Tribut von drei römischen Provinzen und führte die - gerade Seneca vorgeworfene - Unzucht zu einsamen Höhen; Caligula, verkörperte, durch nahezu alles, was er an Schandtaten, Morden und anderen Verbrechen unternahm, den Prototypen des Bösen.


4. 7. „De otio“ – Von der „Zurückgezogenheit“; Zwischen stiller Muße (otio) und hektischer Geschäftigkeit (negotio)


 


Nach seinem langjährigen Exil und sensibilisiert durch die gemachten Erfahrungen auf der damals noch öden Insel Korsika, verstärkt sich Senecas Interesse am Leben in Abgeschiedenheit weiter. Der Philosoph und Schriftsteller wird der Phänomenbeschreibung der Einsamkeit, die sich weiter in vielen Nuancen durch sein Werk zieht, eine eigenständige Schrift widmen: De otio – in deutscher Übersetzung: „Die Zurückgezogenheit“, in welcher er seine Vorstellungen von kontemplativer Existenz präzisiert. Des Weiteren wird Seneca die Einsamkeit mit allen ihren Implikationen in anderen Abhandlungen beschreiben, speziell in den Ausführungen seiner berühmten Schrift „Über die Kürze des Lebens“, namentlich in dem Traktat „Über die Seelenruhe“ sowie in der - hier bereits vielfach erwähnten – „Trostschrift an Mutter Helvia“ – Werke, in welchen der römische Philosoph noch weit über die in „De otio“ exponierte Reflexion erlittener Einsamkeit hinausgehen wird.


4. 8. In „secreto“ – „Menschen (…) leisten in der Einsamkeit Größtes“[28]- Ethische Haltung und Charakterbildung entstehen in der Stille der „Zurückgezogenheit“. Die Funktionen des einsamen Lebens und der Nutzen für die Gesellschaft



Die ethische Formung des Menschen vollzieht sich in dieser bewussten Zurückgezogenheit. Auf den Punkt gebracht heißt es in Senecas – wohl nicht ganz vollständig überlieferter – Schrift „De otio“: „meliores erimus singuli“ - „Nur wenn wir allein sind, werden wir bessere Menschen“[29].

Das ethische Verhalten ist also eine Frucht des Lebens in Einsamkeit. Im Alleinsein sündigen wir nicht!

Rückzug bedeutet für den reflektierten Römer gleichzeitig die bewusste Hinwendung zu hervorragenden Geistern der Vergangenheit, zu den vorausgegangenen „viri optimi“ der Geschichte, denen eine klare Vorbildfunktion zukommt. Das eigene Handeln ist an ihren Erkenntnissen auszurichten: Die Suche nach Wahrheit und die moralische Formung des Menschen vollziehen sich in „secreto“ – in der Stille. Die Tugend formt sich also – anknüpfend an Cicero und richtungweisend für Petrarca, Montaigne und Rousseau - in der Zurückgezogenheit.

Der gezielte Rückzug dient der Selbstvervollkommnung des Individuums, das dann seine ganze Kraft dem Gemeinwohl und der Gesellschaft zukommen lässt, ganz egal ob im Amt oder als Philosoph. Das Leben in Einsamkeit ist für Seneca, aus dem stets der verantwortungsvolle Bürger und Staatsmann spricht, ungeachtet aller Selbstfindung nie Selbstzweck, kein egoistischer Akt, sondern genau das Gegenteil davon: Die den Menschen erhöhende Zurückgezogenheit ist altruistischer Natur und immer Mittel, um der Allgemeinheit besser dienen zu können. Einsamkeit an sich ist oft nur ein temporärer Ankerplatz, der Sicherheit bietet, nicht immer der „ruhige Hafen“ Ciceros, der endgültigen Schutz vor den brausenden Stürmen des Lebens bietet: „Demnach kann aber auch jemand, der sich noch auf nichts eingelassen hat, ehe er irgendwelche Schicksalsschläge hinnehmen musste, einen sicheren Rastplatz suchen, sich gleich wissenschaftlich betätigen und seine Zeit in ungeschmälerter Muße verbringen als ein Verehrer des Guten und Schönen, womit man sich auch in größter Zurückgezogenheit befassen kann. Allerdings darf man von einem Menschen verlangen, daß er Menschen nützt – womöglich vielen, oder wenigstens einigen, oder wenigstens seinen nächsten Angehörigen, oder wenigstens sich selbst. Denn wer sich den anderen als nützlich erweist, dient dem allgemeinen Wohl.“[30] Aus dem individuellen Selbst, das ethisches Handeln für den Nächsten, für die Gesellschaft impliziert, erwächst das eigene Glück – und dieses persönliche Glück des Einzelnen führt, wenn sich auch andere daran halten, zum Glück der größtmöglichen Zahl. Epikureer und Stoiker dachten eudämonistisch und eben auch „utilitaristisch“, erteilten aber jedem Solipsismus eine eindeutige Absage. Die Philosophie war somit kein Selbstzweck, sondern immer eine Dienerin der Menschheit.

Cicero sah dies ähnlich: Sollten die politischen Verhältnisse in einem Staat so sein, dass einem Weisen das konkrete Wirken versagt bleibt, dann stellt der bewusste Rückzug in ein Leben in Einsamkeit immer noch die adäquateste Existenzform eines geistigen Menschen dar. Damit wird die innere Emigration eines Geistes definiert, dem das direkte Einwirken auf die Gesellschaft, in der er lebt, versagt bleibt. Als Philosoph wirkt der Einzelne schließlich über den Tag hinaus: „Doch in welcher Einstellung zieht sich der Weise aus der Welt zurück? In der Gewissheit, dass er auch dann noch zum Nutzen der Nachwelt tätig sein wird.“[31]

Wenn es um die Frage geht, ob der verantwortungsvolle Bürger überhaupt politisch tätig werden und ein öffentliches Amt anstreben soll, dann entscheidet sich Seneca - wie früher schon Cicero - für die pragmatische Lösung, also für ein konkretes Agieren und stellt sich damit sowohl gegen Epikur, der genau das Gegenteil fordert und gegen die beiden Stoiker Zenon und Chrysipp, die selbst keine öffentliche Funktion anstrebten.

Zurückgezogenheit bedeutet für Seneca also primär Zurückgezogenheit aus der Politik, aus dem öffentlichen Wirken in das Privatleben, wie dies in seiner eigenen Familie von einem Bruder und einer Tante vorgelebt wurde. Er fordert jedoch nicht zum Nichtstun auf, sondern ist überzeugt davon, dass ein wertvoller Mensch, der sich dem relativen Alleinsein verschrieben hat, kraft seiner Persönlichkeit, seines Gestus und sogar seines Nichtagierens auf die Gesellschaft wirkt.

Den musischen Rückzug in die kontemplative Welt der Wissenschaft und Kunst kann jeder anstreben, während sich der Philosoph in der Einsamkeit voll und ganz der „Wahrheitsfindung“ widmet und auch auf diese Weise der Allgemeinheit dient: „Wenn du dich zur Philosophie zurückziehst, meidest du jeden Lebensüberdruss; du wirst nicht wünschen, dass es Nacht wird, weil dir der Tag verhasst ist, noch wirst du dir auf die Nerven gehen noch anderen überflüssig vorkommen. Viele wirst du in deinen Freundeskreis ziehen, und zuströmen werden dir gerade die Besten. Denn nie, auch nicht im Schatten, bleibt ein wertvoller Mensch unerkannt; er sendet seine Signale aus, und jeder, der es verdient, wird ihn an seinen Spuren erkennen“[32], heißt es in „De tanquillitate animi“, (Die Ruhe der Seele).

Die Wertung des Lebens in bewusster Einsamkeit, in Zurückgezogenheit oder – wie Epikur es definierte – im Verborgenen, ist für Epikureer, Stoiker und Eklektiker wie Cicero gleichermaßen positiv und reicht bis zur Absolut-Setzung der kontemplativen Lebensform[33].

Seneca lässt Athenodor, aus dem ein Epikureer spricht, die Sichtweise eines ehrlichen Mannes reflektieren, der sich nach schlechten Erfahrungen vom Forum und aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Dabei legt er ihm die vielsagenden Worte in den Mund: „Doch gibt es auch in der Zurückgezogenheit reiche Entfaltungsmöglichkeiten für einen großen Geist; zwar wird die Energie von Löwen und anderen Tieren im Käfig gehemmt, nicht aber die der Menschen; sie leisten in der Einsamkeit Größtes. Allerdings soll der Mensch in der Weise verborgen leben, daß er, wo er auch sein ruhiges Dasein den Blicken anderer entzieht, einzelnen und der Allgemeinheit zu nützen bereit ist durch sein Talent, sein Wort, seinen Rat.“[34]

Radikales Eremitentum, das nur noch eine Aussprache mit Gott zulässt, wie es von frühchristlichen Anachoreten betrieben wurde, ist bei verantwortungsbewussten Römern nicht gefragt. Auch wenn in Einsamkeit Größtes vollbracht werden kann, darf der gesellschaftliche Dialog nicht abreißen. Selbst der kreative Einsame darf sich nicht abkapseln, sondern muss - aus ethischen Antrieben heraus - den Kontakt zur Außenwelt wahren. Das ist der pflichtethische Appell und zugleich ein Impetus, den Seneca immer wach ruft und aufrechterhalten wird.


4. 9. Selbsterkenntnis und die Idee des Selbstseins erwachsen dem Alleinsein - Das Existieren in der Eigentlichkeit. Psychologische und soziologische Aspekte erfahrener Einsamkeit



Das Einsamkeit-Motiv zieht sich als großes Thema mit Variationen durch zahlreiche Abhandlungen Senecas, wobei stets neue Nuancen und Erweiterungen formuliert werden. Zu den staatstheoretisch-soziologischen und allgemeinphilosophischen Fragestellungen gesellen sich immer wieder auch psychologische, die, den Komplex ins Seelische ausweitend, bereits die Melancholie-Problematik tangieren. In den „Briefen an Lucilius“ beantwortet Seneca die Frage, wie man ohne seelischen Schaden „mit sich allein sein“ kann, mit einem entschiedenen: „So ist es. Ich ändere meine Meinung nicht: fliehe die Menge, fliehe die Wenigen, fliehe selbst einen. Ich habe keinen, mit dem ich dich in Gemeinschaft gesetzt wünschte.“[35]

Diese Aufforderung zur Flucht[36] aus dem gesellschaftlichen Miteinander klingt, isoliert betrachtet, hart und unversöhnlich. Appelliert wird an den bereits gefestigten, ja autarken Charakter und somit an eine existenzielle Haltung der Selbstbehauptung und Stärke, die nicht von jedermann eingenommen und auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Weiter unten im gleichen Text folgt darauf Senecas wichtiger Zusatz: „Ich finde keinen, mit dem ich dich lieber zusammen sehen möchte, als mit dir selbst.“[37] Die Selbsterkenntnis und die Idee des Selbstseins, die bereits im „Erkenne dich selbst“ - Diktum des Thales von Milet antizipiert wurde, ist für die gesamte hellenistische Epoche kennzeichnend. Selbstsein bedeutet dann auch bei Seneca, der diese Zeit rezipiert, immer eigentliches Sein, dem Wesen entsprechendes Sein, naturgemäßes Sein: Wer bei sich „selbst“ ist, wer im Einklang mit dem eigenen Wesen lebt, lebt zugleich vernunftgemäßin Harmonie mit der Natur und mit Gott. Mark Aurel, der Kaiser und Philosoph, wird Seneca in dieser Auffassung folgen und viel später wird es auch Michel de Montaigne. 

Die moderne, von Martin Heidegger gebrauchte Formel für diese Haltung ist das Existieren in der Eigentlichkeit[38]. Durch die strenge, unmittelbare Verknüpfung des Seins in Einsamkeit mit Selbstfindung und Selbst-Sein erhält die Einsamkeit eine exponierte und äußerst positive Wertung. Die Einsamkeit wird also zur Bedingung der Selbstfindung und für die daraus resultierende Freiheit. Damit ist eine Grundidee heraus gearbeitet, die weitere zweitausend Jahre - bis hin zu Nietzsche und noch über diesen hinaus - Bestand haben wird.


4. 10. Die Gefahren des Alleinseins – Einsamkeit als Last



Da Seneca vor allem während der Verbannung auf Korsika, ähnlich Ovid und Cicero, die äußere und innere Einsamkeit existenziell erfährt, kennt er auch die aus diesen Situationen erwachsenden Gefahren. Es ist dem Philosophen sehr bewusst, dass nur existenziell gestärkte, geprüfte und seelisch konstante Charaktere in der Lage sind, Einsamkeit produktiv umsetzen, um gerade durch sie zur Gemütsruhe und Freiheit zu finden. Dagegen wird dem Oberflächlichen, dem Unruhigen und Unsteten, jenem, der, modern gesprochen, in der Uneigentlichkeit lebt, die Einsamkeit zur Last. Ein labiler, von Launen und wechselnden Stimmungen bewegter Mensch kann „die Einsamkeit in seinen vier Wänden nicht ertragen“. Auch bei dem „Trauernden und sich Fürchtenden“ gilt es zu wachen, „damit er die Einsamkeit nicht missbrauche.“

Damit ist die Suizidgefahr des Depressiven angesprochen. In die Einsamkeit soll sich nur jener zurückziehen, der das Refugium als Chance zur Selbstverwirklichung begreift. Der Rückzug aus dem Öffentlichen Leben in das Privatleben – „ad otium convertor“[39]- bedeutet Rückbesinnung auf Muße und eigene Freiheit: „Es gefällt mir, meinen Lebenskreis wieder auf vier Wände zu beschränken; niemand soll mir auch nur einen Tag stehlen, wenn er mir dafür nichts bieten kann, das ein solches Opfer wert ist. Ich will ganz mir selbst gehören, an mir arbeiten, nichts Unangemessenes tun, nichts, was nach fremden Urteil schielt, ich will, von öffentlichen und privaten Sorgen frei, die Ruhe lieben.“[40] Damit ist ein Credo formuliert, welches viele Nachfahren aus der schriftstellernden Philosophen-Kaste beherzigen und nahezu unverändert nachbeten werden.


4. 11. Das Alleinsein in den eigenen vier Wänden – Chance und Risiko. Freiwilliger Rückzug in die Einsamkeit, statt Weltflucht aus Enttäuschung und Überdruss



Michel de Montaigne, nach seinem langen Rückzug im Turm über Jahre wieder als Bürgermeister von Bordeaux öffentlich in der Pflicht und Staatstheoretiker Jean-Jacques Rousseau, der keine öffentlichen Ämter innehatte, werden diesem Ansatz auch im tatsächlichen Leben folgen. Sie werden „otio“, „solitudine“ und „tranquillitas“, also Muße, Stille, Einsamkeit und Seelenruhe verinnerlichen, um dann im selbst gewählten Asyl erneut hinter Mauern zu verschwinden, geleitet von der Furcht (des Rousseau), jemand könne kommen und sie der wertvollen Schaffenszeit[41] berauben.

Doch muss dieser Rückzug von der Welt in die Selbst-Isolation aus eigenem Antrieb heraus erfolgen, aus innerer Überzeugung – nicht aber aus einem erlittenen Missgeschick heraus oder aus allgemeiner Enttäuschung oder Welt-Ekel. Negative Beweggründe zum Rückzug würden nicht in eine Selbstfindung münden, sondern vielmehr den das Selbst zerstörenden Überdruss bewirken. Während der Ausgeglichene weiß, was auf ihn zukommt und was er in der Einsamkeit vorfindet, auch an Herausforderungen seelischer Art, kann ungefestigtes Alleinsein, nicht gewollte Einsamkeit, für den charakterlich Schwankenden und Unsteten zur gefährlichen Sackgasse werden, zu einer Einbahnstraße, aus der er nicht mehr heil heraus findet. An ihrem dunklen Ende lauert die Verzweiflung.




4. 12. Typen und Charaktere – introvertiert oder extrovertiert? Senecas Beschreibung der Melancholie-Symptomatik



Ob es einen in die Einsamkeit zieht, in die Wahrheitssuche und in die Selbstfindung, ist nach Seneca, ohne dass er dies explizit aussprechen würde, auch eine Frage des Temperaments und der genetischen Bedingtheit: Auf der einen Seite gibt es den von Natur aus extrovertierten Typus, den gesellschaftlichen Menschen, den Geschäftigen und immerfort Agierenden, jenen Charakter, der sich nur in Gesellschaft wohl fühlt, der immer Menschen um sich braucht, die ihn fordern oder ihn irgendwie ablenken; Auf der anderen Seite hingegen steht der Introvertierte, der stets in sich gekehrte, kontemplative Charakter, der, einmal gefestigt und gestählt, auch in Stunden der Gefahr unerschüttert und souverän dasteht, da sein Mittelpunkt konstant ist und sein Wesen im eigenen Selbst ruht.

Unstete Charaktere können in der Einsamkeit nicht glücklich werden, weil diese existenzielle Haltung ihrem Wesen überhaupt nicht entspricht, ganz im Gegenteil: Wer nicht für ein Sein in der Einsamkeit geschaffen ist, der wird im Alleinsein-Müssen unglücklich. Ihm drohen die endgültige Vereinsamung und das Versinken in düstere Melancholie:

Das alles wir noch schlimmer, sobald sie sich, fruchtloser Plage müde, in die Muße flüchten und in einsame Studien, wozu ein Mensch nicht taugt, den es in die Politik drängt, der sich betätigen will und von Natur ruhelos ist, weil er zu wenig in sich trägt, was ihn trösten könnte. Fehlt ihm nun die Unterhaltung, die gerade ihre vielen Abhaltungen geschäftigen Menschen verschaffen, findet er sein Haus, das Alleinsein, die eigenen vier Wände unerträglich. Widerwillig sieht er, daß er sich selber überlassen ist. Daher kommt jene Unlust und Unzufriedenheit mit sich selbst und die Unbeständigkeit einer Seele, die nirgends Ruhe findet, und die mürrische und verdrießliche Hinnahme der Muße, die einem gewährt ist, - besonders, wenn man sich scheut, die Gründe zuzugeben und aus Scham seine Qual in sich hineinfrisst: Dann sind Triebwünsche in ein enges Gefängnis ohne Ausgang gesperrt und strangulieren sich gegenseitig.“[42]

Diese Analyse, vor zweitausend Jahren luzid formuliert und niedergeschrieben, hat auch heute noch nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Auch in unseren Tagen ist das Unstete als Hektik und Stress immer noch das gleiche Phänomen. Als Seneca diesen für das Erleben wahrer Einsamkeit äußerst ungeeigneten Typus beschrieb, den Petrarca nahezu identisch wieder als den „Stadtmenschen“ im verhassten Avignon aufleben lassen wird, dürfte sich der Römer an seinem berühmten Landsmann Titus Lucretius Carus orientiert haben, dessen unruhiges Leben er wohl kannte und den er auch darauf kurz zitiert. Lukrez, der Vorzeigeepikureer und Verfasser des Lehrgedichts „De rerum natura“, wird - was während der Renaissance-Epoche noch den Kopf der florentinischen Akademie Marsilio Ficino beschäftigt - aus Unruhe und übermäßiger Sexualpraxis zum Melancholiker mutieren, ohne den philosophischen Trost in der Einsamkeit finden zu können.

In seiner sich unmittelbar anschließenden Begründung kommt Seneca sehr nahe an die moderne Phänomenbeschreibung der Melancholie als des Manisch-Depressiven heran, wenn er, aus der genauen Beobachtung seiner betroffenen Zeitgenossen sowie des politischen wie künstlerischen Milieus ausführt: „Daher kommen Trauer und Trägheit und tausend Erschütterungen eines verstörten Gemüts, das hochgestimmt ist, wenn es Hoffnung schöpft, und verbittert, wenn es davon lassen muss, daher auch die leidenschaftliche Erregung derer, die ihre Muße verwünschen und sich beklagen, daß sie nichts zu tun hätten und bei Erfolgen anderer der bitterböse Neid – denn die Mißgunst wächst durch Rückschläge und Untätigkeit, und derartige Menschen möchten alle zugrunde richten, da sie sich selbst nicht nach oben bringen können. Weil sie nun fremdes Glück empört und sie am eigenen verzweifeln, hadern sie im Herzen mit dem Geschick, schimpfen über die böse Welt, ziehen sich ins Abseits zurück, hängen ihrem Jammer nach und empfinden dabei tiefsten Abscheu vor sich selbst.[43]

Die Melancholie und ihre beiden Seiten, das Manische, das „himmelhochjauchzend“ Euphorische, ein Zustand besonderer Exaltiertheit und Schaffenslust, in welchem der Einzelne glaubt, die ganze Welt aus den Angeln heben zu können, dann, bei Rückschlägen, die schlimme Niedergeschlagenheit, die Schwermut, die Depression, gepaart mit Verbitterung, Hader, Selbstekel, Überdruss und Verzweiflung: Ohne sie beim Wort zu nennen, hat Seneca – die damals wie heute gültige – Melancholie-Symptomatik eingefangen und so das vielschichtige, komplexe, psychische Phänomen indirekt definiert.

Auch der späte Ovid, der in besseren Tagen noch gesellschaftlich bestens eingebettete Dichter Roms, kommt in seiner Jammer-Lyrik diesem Typus verdächtig nahe, stellt sich aber, seines Wertes als Mensch und Dichter voll bewusst, deshalb selbst nie in Frage. Doch im Gegensatz zu anderen, die nie ein Werk schufen, wurde er, der Poeta laureatus, in das Abseits der Verbannung versetzt, in eine Situation des Leidens, die der selbst gewählten Einsamkeit geradezu entgegengesetzt ist – und dies, ohne sich überhaupt wehren zu können. Ovid widersetzte sich der drohenden Verzweiflung im konkreten Handeln - mit einzigartigen Kunstwerken, die er, über Senecas Forderung hinausgehend, auch zu seinem Nachruhm schuf.

Aus diesen Unterscheidungen wird deutlich, dass die - durch äußere Einwirkungen herbeigeführte - Isolation und Deprivation, vor allem bei weniger autarken Individuen, zur existenziellen Krise führen und gar einen Freitod nach sich ziehen können.

Indirekt ist damit schon bei Seneca angedeutet, dass die Einsamkeit kein natürlicher Zustand des Menschen, speziell des Durchschnittsmenschen, ist, ein Sein, von dem sich nur wenige Weise abheben. Es entspricht zwar seiner Natur, ein zurückgezogenes, auf sich selbst gestelltes und mit der Weltvernunft in Einklang stehendes Leben anzustreben. Doch ist es nicht aller Los, ein Leben in absoluter Abgeschiedenheit auch führen zu können: Der evolutionsgeschichtlich aus der Gruppe kommende Mensch, jenes „Zoon politikon“ des Aristoteles, braucht als Gemeinschaftswesen eben den Mitmenschen, die Ansprache und den Austausch, um seelisch gesund überleben zu können.

Nicht jeder ist dem unfreiwilligen Versetzt-Sein in die Einsamkeit gewachsen. Nicht jedermann kann sich gegen eine drohende Vereinsamung erfolgreich zur Wehr setzen. Das Faktum hatte vor zweitausend Jahren genauso Bestand wie heute. Ergo ist Vereinsamung ein Zustand, der - im Sprachduktus Nietzsches formuliert - überwunden werden muss, bevor eine Schädigung der Individualität eintritt. Die Antike wurde seinerzeit mit den gleichen Symptomen negativer Erscheinungen konfrontiert wie die moderne Gesellschaft heute. Ein nicht adäquates Ausharren in der Situation ist gefährlich und birgt zahlreiche Risiken in sich.


4. 13. Geselligkeit – Senecas Plädoyer für ein ausgewogenes Wechselverhältnis zwischen freiwilligem Sein in Einsamkeit und sozialem Austausch



Das Gegenteil eines beschaulichen Lebens in bewusster Zurückgezogenheit ist das gesellschaftsbezogene Leben – die Geselligkeit, die kommunikative Existenz. Im Gegensatz zu späteren Apologeten der Einsamkeit, die zu einer Verabsolutierung des Phänomens neigen, plädiert bereits Seneca deshalb auch für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Sein in Einsamkeit und dem sozialen Austausch, der Geselligkeit: „Multum et in se recedendum est“–„Häufig sollte man sich auch in sich selbst zurückziehen: Der Umgang mit nicht gleichgestimmten Menschen stört die Harmonie und weckt die Leidenschaften aufs Neue“[44]. Dann folgt die gewichtige Ergänzung: „Doch muß man dabei auf die rechte Mischung und auf Abwechslung zwischen Einsamkeit und Trubel achten. Jene lässt uns Verlangen nach Menschen, dieser nach uns selbst verspüren und eines hilft gegen das andere: – Den Abscheu vor dem Trubel heilt die Einsamkeit, den Widerwillen gegen Einsamkeit der Trubel.“[45]

Wer im Mittelpunkt der Welt lebte, zu Epikurs und Zenons Zeit in Athen, zu Lukrez’, Ovids und Senecas Zeit in Rom, konnte nicht anders argumentieren. Auch heute bedingen sich Einsamkeit und Geselligkeit. Der Einsame von heute wird, wenn er lange genug passiv in seiner Stube hockt, von der Sehnsucht nach Menschen erfüllt, in die Gesellschaft streben und wird das soziale Leben als Heilmittel gegen Isolation empfinden, während der Hass auf das Weltgewühl ihm die vertraute Einsamkeit näher bringen wird.

4. 14. Schöpferische Einsamkeit - Medium des Kreativen


 


Seneca besinnt sich immer wieder auf die befruchtende Positivität der Einsamkeit und akzentuiert sie mit besonderer Intensität. Wie später bei Petrarca, der, auf Cicero gestützt, das Schöpferische geradezu verabsolutieren wird, kehrt Seneca den kreativen Charakter der Befindlichkeit hervor. Einsamkeit ist keine selbstgefällige Haltung, in der das Individuum um sich selbst kreist, sondern ein Medium des Kreativen: sie ist eine produktive Einsamkeit, aus der heraus Werke der Wissenschaft und Kunst entstehen und die den geistigen Austausch im Gespräch mit einschließen.

Seneca schreibt: „Ziehst du dich zu den Studien zurück, so wirst du jedem Überdruss am Leben entgehen (...) Freilich, wenn wir allen Umgang aufheben, dem Menschengeschlecht entsagen und nur in uns selbst hineingekehrt leben, so wird dieser alles Strebens baren Einsamkeit die Gelegenheit zur Tätigkeit fehlen.“[46] Einsamkeit wird eindeutig funktional gesehen. Aus ihr muss ein schöpferischer Akt hervorgehen. Wer die Einsamkeit zum Endzweck erhebt, das erkennt Seneca recht deutlich, riskiert die Vereinsamung und die Selbstzerstörung.

Gerade in seiner Abhandlung „De tranquillitate animi“, Über die Ruhe der Seele, die von besonderer Einfühlung, seelischem Tiefgang und rationalistischer Deutungsgabe zeugt, streift Seneca vielfach auch den Vereinsamungsprozess des Menschen und die damit zusammenhängenden Erscheinungen von Trübsinn, Melancholie und Verzweiflung. Als Stoiker erkennt er ihre existenzielle Brisanz und sieht die Notwendigkeit einer vernunftgemäßen Bewältigung durch die Rückbesinnung auf die Leistungsfähigkeit des Denkens und der Philosophie. Ein gewisser Schwachpunkt Senecas – und das war bereits seinen gegnerischen Zeitgenossen bewusst – besteht in der existenziellen Überprüfbarkeit seiner Aussagen. Zwischen Verkündung und Einlösung besteht bei ihm oft eine allzu krasse Diskrepanz. Während ein Epikur, dem das konkrete Erleben und Erleiden seiner philosophischen Botschaften noch wichtig war, aus einer inneren Konsequenz heraus in Alter und Krankheit auch die Schmerzen ertrug und somit die Autarkie des geistigen Vorbilds verkörperte, zeigte sich Seneca im tatsächlichen Leben eher inkonsequent und schwach. Kurzweiliger Geselligkeit mehr zugeneigt als dem asketischen Philosophieren im kleinen Kreis oder in einsamer Stube, war der Politiker Seneca nebenbei auch damit beschäftigt, ein großes Vermögen anzuhäufen, das er eigentlich nicht brauchte. Auch versäumte er es nicht, als Erzieher Neros und darüber hinaus am Kaiserhof stets den Umgang der Mächtigen zu suchen und seinen politischen Einfluss auszukosten. Diese manchmal auch opportunistische Haltung machte, streng betrachtet, aus seinen philosophischen Ansätzen, die im Wesentlichen eine originelle Synthese epikureischer und stoischer Denkansätze darstellen, eine Art Schönwetterphilosophie, eine Philosophie des Scheins, die dann versagte, wenn sie im wirklichen Leben gebraucht wurde.

Schopenhauer wurde später gelegentlich vorgeworfen, selbst von seinem gelehrigen Schüler Nietzsche, er würde zu Resignation und Entsagen aufrufen, eine Philosophie des Pessimismus lehren, um dann nach Tisch die Flöte zu spielen, also optimistisch zu leben – Bei Seneca traf der gleiche Vorwurf. Auch er räsonierte zum Teil über Dinge, die er nur aus der Theorie kannte und bot manchmal Lösungen an, die an der existenziellen Dimension des Problems vorbeigingen.


4. 15. Die Apotheose des einsam-kontemplativen Lebens in der Schrift „De brevitate vitae“, „Die Kürze des Lebens“.



Mit der Verklärung des einsamen Lebens hat Seneca ein Thema gefunden, das sich leitmotivisch durch die Dialoge zieht und in immer neuen Variationen entwickelt wird. In der Schrift „De brevitate vitae“ – (Über) „Die Kürze des Lebens“, geschieht dies am prägnantesten und klarsten.

Es ist vielleicht auch jene Schrift unter Senecas Büchern, die den Bedürfnissen des Menschen im 21. Jahrhundert am nächsten kommt, weil in ihr Phänomene angesprochen werden, die das Leben des neuzeitlichen Individuums in der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nach wie vor bestimmen.

Was hat uns Seneca heute noch zu sagen? Eine ganze Menge - und mehr als andere Philosophen der antiken Zeit.

Seneca, der Existenz-Philosoph und Psychologe, philosophiert nahe am Leben, an einem Leben, das sich, klammert man die technologischen Errungenschaften einmal aus, nicht wesentlich verändert hat. Er wirft die Frage nach dem eigentlichen Sein auf, nach dem Existieren in der Eigentlichkeit und fragt in vielen Formen: Ist der Einzelmensch der Herr seiner Zeit – oder ist er ein Fremdbestimmter, ein von falschen Motiven und Werten verleiteter Getriebener?

Ist der Mensch frei oder unfrei? Seneca konfrontiert dabei zwei konträre Positionen miteinander. Die Haltung des Lebensweisen, der als alleiniger Herr seiner Zeit in der Zurückgezogenheit lebt einerseits und das Getriebensein des Fremdbestimmten andererseits: „Soli omnium otiosi sunt, qui sapientiae vacant, soli vivunt“ – „Ganz allein die haben Muße, die ihre Zeit der Philosophie widmen. Sie allein leben.“[47] Seneca verwendet seine ganze rhetorische Energie darauf, diesen nach seiner Auffassung adäquat existierenden Einsamen in Absetzung von seinem negativen Gegenstück, dem „homo occupatus“, dem allezeit Beschäftigten zu definieren und näher zu bestimmen.

Bei der Entscheidung für ein Leben in Abgeschiedenheit kommt es auf den rechtzeitigen Rückzug an, der möglichst früh erfolgen soll, nicht erst am Ende der beruflichen Laufbahn, denn dann ist es meistens zu spät, um noch Herr seiner Zeit zu sein und wirklich zu leben. Prominente Figuren der Zeit sollen das veranschaulichen, etwa der göttergleiche Imperator Augustus, der ohne jede Skrupel einen genialen Ovid in die Einsamkeit gestürzt hatte. Selbst ein Alleinherrscher sehnte sich nach einem Leben in Muße und Kontemplation, ohne dass ihm dies vergönnt sein sollte: „Er, der sah, daß alles von ihm allein abhing, der über das Schicksal von Menschen und Völkern entschied, dachte in höchster Freude an jenen Tag, an dem er sich seiner Größe entkleiden würde.“[48]

Der hohe Wert des Rückzugs in das eigentliche Sein, in die Freiheit, die selbst dem Kaiser versagt bleiben sollte, wurde nach Senecas Einschätzung auch von Cicero nicht erreicht – wohl deshalb, weil dieser sich zu spät und zu halbherzig nach Tusculum zurückzog. Zu lange Zeit verkörperte auch er – übrigens wie Seneca auch – den Typus des Vielbeschäftigten, der gefragten Kapazität, des gestressten Managers, des „Workaholic“, der nur Pflichten und Arbeit kennt und diese so lange nicht loslässt, bis er zum „Karoshi-Fall“ wird und tot zusammenbricht. Erst ein Infarkt, eine Kapitulation des Körpers wird diese Arbeitswütigen stoppen oder das totale Versagen der Seele im „Burnout“ (Erschöpfung), ja im möglichen Freitod aus Verzweiflung.


4. 16. Im „Jetzt“ leben, nicht erst morgen und am Leben vorbei! Hic et nunc und Memento mori!



Seneca geht selbst mit Cicero ins Gericht, indem er eine Briefpassage des in Tusculum verschanzten Politikers nach dessen Rückzug aus dem Öffentlichen Leben zitiert und kommentiert, wo es heißt:

Was ich hier treibe, fragst du mich?“ schrieb er, „Ich sitze in meinem Gut bei Tusculum, nur noch halb frei.“ Anderes fügt er noch hinzu, wobei er sein bisheriges Leben bedauert, über das gegenwärtige jammert und an seiner Zukunft verzweifelt. „Halb frei“ nannte sich Cicero. Aber, bei Gott, ein Weiser wird sich nie zu einer so verzagten Äußerung hinreißen lassen, wird nie „halb frei“ sein, sondern stets in voller, unantastbarer Freiheit, unabhängig, selbständig und über alle anderen erhaben. Was kann nämlich über dem stehen, der über dem Schicksal steht?“[49]

Damit spricht Seneca Cicero es ab, überhaupt in der wahren Zurückgezogenheit angekommen zu sein. Cicero lebt zwar in räumlicher Abgeschiedenheit, weg vom geschäftigen Rom auf seinem ruhigen Landsitz, innerlich aber ist er nach wie vor der Halbfreie, der gestresste Großstadtmensch, nach dem man auf dem Forum verlangt, ein unruhiger, noch nicht endgültig zur Ruhe Gekommener, im Dissens mit dem Schicksal existierender „homo occupatus“.

Nur: „Alle Welt ist sich ja darin einig, daß ein Mensch nichts vernünftig ausüben kann, wenn er gestreßt ist, nicht die Kunst der Rede, nicht die anerkannten Fachwissenschaften, da er bei seiner Zerfahrenheit nichts tiefer in sich aufnehmen kann, sondern alles, als hätte man es ihm eingetrichtert, wieder von sich gibt. Nichts versteht ein gestreßter Mensch weniger als zu leben, nichts ist schwerer zu erlernen.“[50]

Seneca fordert, im Jetzt zu leben, nicht erst in der ungewissen Zukunft, wobei alle Erkenntnisse der gesamten Menschheitsgeschichte genutzt werden können. Gleichzeitig kommt es darauf an, sich auf das Sterben vorzubereiten nach dem Motto: Lebe so, dass du ruhig und von allem befreit jederzeit sterben kannst.

Auf das Loslassen-Können kommt es an – bei Gütern und bei Pflichten.

Für den Geschäftigen und Fremdbestimmten, der von schnöder Profitgier gelenkt wird, der sich um anderer Leute Dinge kümmert, obwohl sie ihn eigentlich nicht betreffen, was aber dazu führt, dass er am eigenen Leben vorbeilebt, bietet selbst der gelegentliche Rückzug keine Erholung: „Bei manchen Leuten ist auch die Freizeit von Geschäftigkeit erfüllt. Auf ihrem Landgut oder gar im Bett, in tiefster Einsamkeit, lassen sie, obwohl sie sich von allem zurückgezogen haben, sich selbst keine Ruhe. Ihr Leben kann man nicht „müßig“ nennen, sondern nur „müßige Betriebsamkeit“.“[51]

Die Zahl derer, die nicht geruhsam leben können, weil sie ihre Ruhe nicht empfinden, die schon tot sind, ohne dies bemerkt zu haben, ist enorm und umfasst all jene Individuen, die, statt Einkehr zu halten, „in media solitudine“[52], ihre Zeit auf jede nur denkbare Weise totschlagen; ganz egal ob sie am Spieltisch sitzen, als Zuschauer auf dem Sportplatz weilen, in der Arena, im Kolosseum, ob sie in der Sonne schmoren, stundenlang beim Frisör warten, die falschen Künste betreiben oder in den Wissenschaften unnützen Fragestellungen nachgehen. Der vernachlässigten Philosophie sollten sie sich zuwenden, nicht dem billigen Vergnügen.

Auch für die „Narren, die von Verpflichtung zu Verpflichtung hetzen“, wird es irgendwann ein böses Erwachen geben, wenn sie, spät einsichtig geworden, feststellen, dass sie in ihrer abgelenkten Geschäftigkeit am Leben vorbei lebten, ohne sich um die wahren Werte bemüht und zu haben, die nur im Studium der Philosophie zu finden sind: „Dagegen ist deren Leben äußerst kurz und unruhig, die Vergangenes vergessen, sich um die Gegenwart nicht kümmern und vor der Zukunft fürchten. Wenn ihr letztes Stündchen kommt, erkennen die Bedauernswerten zu spät, daß sie so lange, ohne etwas zu tun, geschäftig waren.“[53] Wer hingegen geschichtsorientiert lebt und das Umfeld der Zeit realistisch erfasst, wird auch die Zukunft nicht fürchten. Zu diesem bewussten, vernünftigen Leben verhilft der tiefere Umgang mit Philosophie.


4. 17. Der ruhige Hafen als Endziel - Individuelles Leben oder Massen-Existenz?



Die Verwandten, stellt Seneca fest, könne man sich nicht aussuchen. Doch die geistige Familie kann selbst bestimmt werden. Wer sich aus freiem Willen täglich mit Zenon beschäftige, mit Pythagoras, mit Demokrit, mit Aristoteles und Theophrast, werde reich beschenkt werden. Er wird selbst zufriedener werden und glücklicher; er wird nicht am Leben vorüberhaschen und aufschrecken, wenn es nach so kurzer Zeit vorbei ist, sondern er wird lange leben, weil er bewusst lebt. Mit diesen Erkenntnissen erhebt Seneca das einsame Leben zu einem Wert an sich, der die Voraussetzung für eine gelungene Existenzbewältigung darstellt. Wahre Einsamkeit bedeutet also nicht leiden, sondern maximale Freiheit. Sie ist die große Chance zur Selbstentfaltung und zum dauerhaften Sein in der Eigentlichkeit.

Die Anzahl derer, die Senecas Einsichten in ihrer existenziellen Haltung folgen werden, ist lang. Es sind hauptsächlich Philosophen und Theologen, Schriftsteller und Dichter, beginnend mit Augustinus über Petrarca, Montaigne, Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu Wittgenstein[54] und Heidegger, die den Gang ihrer Gedanken aus der Abgeschiedenheit eines natürlichen Umfelds heraus entwickeln werden, ganz egal ob in Cassiciacum, in Montaigne, in Sils-Maria oder in Todtnauberg.

Doch was hat sich für diejenigen Menschen geändert, die der Philosoph unter dem Begriff der Masse einordnen würde - nach zweitausendjähriger Geistesgeschichte?

Steht die Philosophie heute höher im Kurs als damals – oder das vernunftgemäße Leben im Verborgenen?

Wohl kaum! Senecas – auch heute noch hochaktuelle – Besinnungsschrift appelliert schließlich an Paulinus, einen nahen Verwandten Senecas, das verantwortungsvolle Amt des Getreideverwalters von Rom aufzugeben, sich der Muße zu widmen und sich im Privatleben um sich selbst zu kümmern: „Trenne dich also von der Masse, mein lieber Paulinus, und zieh dich, schon ärger umgetrieben, als es der Zahl deiner Jahre entspräche, endlich in einen ruhigen Hafen zurück!“[55]





[1] Vgl. dazu die Konzeption des – von Zeus an einen einsamen Ort verbannten – Prometheus besonders bei Aischylos in: „Der gefesselte Prometheus“; ein – auch in der Antike viel diskutiertes - Drama, das mit den Worten der „Macht“ einsetzt: „Zum fernen Saum der Erde sind wir nun gelangt, / Den Räumen Skythiens, menschenöder Einsamkeit“. Der an den Fels im Kaukasus geschmiedete Halbgott wird dann, sein Los beklagend, sein Leid in der Verbannung in die Worte fassen: „Ich habe gern gefehlet, gern – ich leugn’ es nicht - / Zum Heil der Menschen dieses Leid mir selbst erzeugt./Das freilich dacht‘ ich nimmer, unter solcher Qual / Dahinzuschmachten hoch an luft’ger Felsenstirn, / An diesen einsam nachbarlosen Ort verbannt.“ In: Aischylos: Die Tragödien und Fragmente. Übertragen von Johann Gustav Droysen. Durchgesehen und eingeleitet von Walter Nestle. Nachwort von Walter Jens. Stuttgart 1977. S. 355 bzw. S. 365.
[2] Der Gotteslästerung bezichtigt, floh Aristoteles aus den heimatlichen Gefilden und verstarb im Exil.
[3] Zur Biographie: Villy Sorensen: Seneca. Ein Humanist an Neros Hof. München 1984. Bzw. zur „Verbannung auf Korsika“ vgl. auch: Maurach, Gregor: Seneca, Leben und Werk, Darmstadt 2005, 4. Auflage. S. 29ff.
[4] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. I und Bd. II. Lateinisch – deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einer Einführung versehen von Gerhard Fink, München, Zürich 1992.
[5] Nicht die reine Erkenntnis an sich steht im Vordergrund dieser Trostschriften, sondern die Existenzbewältigung, die Überwindung einer existenziellen Situation mit der Hilfestellung und den Mitteln der Philosophie. Nicht anders als der „Anwalt“ Cicero“, bemüht sich der „philosophische Schriftsteller“ Seneca – richtungweisend für Schopenhauer und Nietzsche – darum, von Fall zu Fall seine Sicht durchzusetzen, doch nicht rechthaberisch, vielmehr einfühlend altruistisch.
[6] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II „Trostschrift für Mutter Helvia“, S. 305.
[7] Ebenda.
[8] Das macht auch Senecas Aktualität aus. Alle antiken Lebensphilosophen, Epikur, die Stoiker und Cicero, lassen sich auch heute noch gut lesen und sind zeitgemäß, weil die von ihnen erörterten Themen nahe am Menschen angesiedelt sind, und weil die anthropologischen Konstanten der Antike das Dasein des modernen Menschen - selbst im technologisch hoch entwickelten Zeitalter - unmittelbar tangieren.
[9] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II „Trostschrift für Mutter Helvia“, S. 305.
[10] „Auf alle diese Gründe lässt sich der Ausspruch des Teukros anwenden: Vaterland ist, wo es einem gut geht“. Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum. S. 415.
[11] Ebenda, S. 291.
[12] Ebenda.
[13] S. 291.
[14] Ebenda.
[15] Ebenda, 293.
[16] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II „Trostschrift für Mutter Helvia“, S. 297.
[17] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II „Trostschrift für Mutter Helvia“, S. 301.
[18] Ebenda, S.305.
[19] Ebenda, S. 315.
[20] Ebenda, S. 314/315.
[21] Ebenda.
[22] Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum. S. 412. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, der politischen Blöcke und Machtkonstellationen sowie in den Tagen des Wankens – nicht nur der Werte der westlichen Welt – sondern der gesamten Weltordnung ist das Recht auf Freizügigkeit ein Privileg von Wenigen in den Wohlstandsstaaten der nördlichen Hemisphäre, während die Flüchtlingsströme überwiegend aus den armen, politisch instabilen und machtpolitisch destabilisierten Staaten Afrikas dramatisch zunimmt. Während die „happy few“ sich noch philosophischen Fragen zuwenden und im Elfenbeinturm disputieren, geht es für viele Flüchtlinge - auf ihrem Weg in die Freiheit und zum „Asyl“ in Extremsituationen der Flucht und des Überlebens - um die nackte Existenz.
[23] Auf alle diese Gründe lässt sich der Ausspruch des Teukros anwenden: Vaterland ist, wo es einem gut geht“. Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum. S.415.
[24] Theophrast, mehr Schriftsteller als Denker, ist der Verfasser der seinerzeit viel gelesenen „Charaktere“, psychologisch-typologische Skizzen in humorvoller Beschreibung, die eine massive Ausweitung der Typen-Lehre des Hippokrates darstellen. Bei Diogenes Laertios findet sich der Hinweis auf ein Werk „Von der Melancholie“ aus der Feder des Theophrast.
[25] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II, „De otio“, Die Zurückgezogenheit“, S. 77.
[26] Lange vor Montaigne, der als Erfinder dieser literarischen gilt.
[27] Oder, derber übersetzt. „Sie erbrechen, um zu fressen und sie fressen, um zu erbrechen“, S. 306.
[28] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II, „De otio“, Die Zurückgezogenheit“, S. 93.
[29] Ebenda.
[30] „De otio“, Die Zurückgezogenheit“, S. 81f.
[31]Die Zurückgezogenheit“, S. 91.
[32] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II, De tranquillitate animi , Die Ruhe der Seele, S. 117.
[33] Die hohe Wertschätzung des kontemplativen Daseins als einer Lebensform des philosophisch ausgerichteten Menschen findet sich bereits bei Aristoteles, namentlich in der „Nikomachische(n) Ethik“, München 1972, S. 293- 302.
[34]De tranquillitate animi “, Die Ruhe der Seele. S. 115.
[35] Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Briefe an Lucilius.
[36] Nietzsche wird, im Konsens mit Seneca, in seinem „Zarathustra“, gestaltet als großes Thema in Variationen, die gleiche Botschaft verkünden und fast mit gleichen Worten ausrufen: „Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ (…) „Abseits vom Markte und Ruhme begiebt sich alles Grosse: abseits vom Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer Werthe. Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftigen Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo raue, starke Luft weht! Fliehe in deine Einsamkeit“ (…) „Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine raue, starke Luft weht! Nicht ist es dein Loos, Fliegenwedel zu sein. – Also sprach Zarathustra.“ (Nietzsche, Zarathustra, I, Von den Fliegen des Marktes.)
[37] Ebenda.
[38] Näheres dazu weiter unten, in dem Abschnitt: „Einsamkeit“ bei Jaspers und Heidegger - Exkurs.
[39] Seneca, Lucius Annaeus: Die kleinen Dialoge. Bd. II, De tranquillitate animi , Die Ruhe der Seele, S. 100.
[40] De tranquillitate animi , Die Ruhe der Seele, S. 101. Eine andere Koryphäe der Einsamkeit, der wirkungsreiche Visionär Jean-Jacques Rousseau, wird später in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers diese Gedankengänge fast wortidentisch wiederholen, symptomatisch dafür, dass bei Petrarca, Montaigne und eben Rousseau viele Essenzen de facto Seneca-Rezeption und Exegese darstellen.
[41] Zur verlorenen, vergeudeten Zeit durch unliebsame Besucher vgl. die im Ideengang und in der Diktion verwandten Ausführungen Rousseaus: „Vor Tagesanbruch erhob ich mich, um den Sonnenaufgang in meinem Garten zu betrachten, und wenn ich sah, dass es ein schöner Tag werden würde, war mein erster Wunsch, es möchten weder Briefe noch Besuche kommen, um mein Entzücken zu stören. Vor ein Uhr ging ich so schnell wie möglich fort, damit nur keiner käme, der mich in Anspruch nehmen könnte.“ Zitiert nach: Holmsten, Georg: Jean-Jacques Rousseau, Reinbek 1972. S. 83.
[42] De tranquillitate animi, Die Ruhe der Seele, S. 109ff.
[43] De tranquillitate animi , Die Ruhe der Seele, S. 111. Die Hervorhebungen der Termini im Zitat in Fettdruck wurden vom Autor - hier und an anderen Stellen - zur unmittelbaren Verdeutlichung der relevanten Begriffe vorgenommen.
[44] De tranquillitate animi , Die Ruhe der Seele, S. 163.
[45] Ebenda. „odium turbae sanabit solitudo, taedium solitudinis turba“. S. 162 bzw. 163.
[46] Seneca, Vom glücklichen Leben. Auswahl aus seinen Schriften. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Stuttgart,1978. S. 63.
[47] De brevitate vitae, Die Kürze des Lebens, S. 211.
[48] Seneca über den rund um die Uhr beschäftigten Kaiser Augustus, der sich nach Muße sehnte, jedoch nie dazu kam, De brevitate vitae, Die Kürze des Lebens, S. 181.
[49] De brevitate vitae, Die Kürze des Lebens, S. 183.
[50] De brevitate vitae, Die Kürze des Lebens, S. 187.
[51] Ebenda, S. 201.
[52]Ebenda, S. 200.
[53] Ebenda, S. 217. Es ist Cicero, der Repräsentant des ewig aktiven Macht-Politikers, auf den Seneca hier zielt.
[54] Da, wie Seneca vielfach betont, zur vernünftigen Lebensführung kein Reichtum notwendig ist, gab auch Ludwig Wittgenstein, von Haus aus sehr vermögend, sein Eigentum hin, um, am Ideal der Besitzlosigkeit ausgerichtet zu leben und konsequent seine Philosopheme zu entwickeln.
[55] De brevitate vitae, Die Kürze des Lebens, S. 223.




Zur Person/ Vita Carl Gibson - Wikipedia:



Inhalt des Buches: 


Carl Gibson



Koryphäen

der

Einsamkeit und Melancholie

in

Philosophie und Dichtung

aus Antike, Renaissance und Moderne,

von Ovid und Seneca






zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche






https://www.buchhandel.de/buch/Koryphaeen-der-Einsamkeit-und-Melancholie-in-Philosophie-und-Dichtung-aus-Antike-Renaissance-und-Moderne-von-Ovid-und-Seneca-zu-Schopenhauer-Lenau-und-Nietzsche-9783000499395

Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche





Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen. 


Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche


Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens


Mit Beiträgen zu:

Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,


dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays

1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim

Alle Rechte vorbehalten.


ISBN: 978-3-00-049939-5


Aus der Reihe:

Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015

Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim


Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,

Email: carlgibsongermany@gmail.com

-         oder regulär über den Buchhandel.

„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?

Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.

Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.

Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhauptWelche Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet – richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.

Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.




ISBN: 978-3-00-049939-5


Inhalt:


Einleitung: „Einsamkeit“ heute – Segen oder Fluch?
Der Mensch der Single-Gesellschaft – Leben im uneigentlichen Sein?

Teil I: Griechisch-römische Antike

1. Waren die heiteren Griechen auch einsam? Das Verständnis von Einsamkeit und Melancholie bei Vorsokratikern und Aristoteles.
1.2. Der Melancholiker – ein Genie? - Empedokles, Demokrit und eine nicht authentische, missverstandene Aristoteles-Sentenz
1.3. Im Garten des Epikur – Lebe zurückgezogen! Das naturgemäße Leben im Verborgenen.
2. Marcus Tullius Cicero - Einsamkeit und Gesellschaft: Musischer Rückzug in den ruhigen Hafen – „otio“ - „Gespräche in Tusculum“
3. Ovidius Naso in Verbannung in Tomis, am Schwarzen Meer – Vereinsamung und Melancholie im Spätwerk, in den Elegien „Tristia“ und in den Briefen „Epistulae ex Ponto“.
3. 1. „einsam lieg’ ich am Strande des äußersten Endes der Erde“ - Zur Einsamkeit verdammt am Ende der Welt: Ovids melancholische Dichtung vom Pontus
3. 2. Nemo propheta in patria?
3. 3. Kummer, „aegritudo“, „mania“, „melankolia“ in Ciceros „Disputationes Tusculanae“ - Bellerophon, der antike Einsame, Unbehauste; Einsamkeit und Melancholie in der mythisch-analytischen Zeitdiskussion.
3. 4. Psychosomatik
3. 5. Das „Schwarze Meer“ und „Tomis“ – antike Unort(e)?
3. 6. Künstlerisches Schaffen in Einsamkeit an sich und als Selbsttherapie
3. 7. Melancholie und Versöhnung – Concordia und Amor fati
4. Lucius Annäus Seneca - Lebe zurückgezogen - „solitudine“ und „in otio“
4. 1. „exsilium“, Senecas Verbannung auf Korsika – Unfreiwillige, äußere Einsamkeit und innere Freiheit, dargestellt im „Epigramm“
4. 2. Existenzbewältigung über Poesie bei Ovid und ethisches Philosophieren bei Seneca
4. 3. Ruhe der Einsamkeit - Apathie, Ataraxie, Eudämonie, „constantia“
4. 4. „De constantia sapientis“ – Die „Unerschütterlichkeit des Weisen“
4. 5. „Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“ – Oder: „Patria est, ubicumque est bene“
4. 6. Senecas Klage als Anklage – Gesellschaftskritik und Dekadenz-Kritik aus der Einsamkeit des Exils heraus in der Auseinandersetzung mit den Tyrannen Caligula und Nero
4. 7. „De otio“ – Von der „Zurückgezogenheit“; Zwischen stiller Muße (otio) und hektischer Geschäftigkeit (negotio)
4. 8. In „secreto“ – „Menschen (…) leisten in der Einsamkeit Größtes“- Ethische Haltung und Charakterbildung entstehen in der Stille der „Zurückgezogenheit“. Die Funktionen des einsamen Lebens und der Nutzen für die Gesellschaft
4. 9. Selbsterkenntnis und die Idee des Selbstseins erwachsen dem Alleinsein - Das Existieren in der Eigentlichkeit. Psychologische und soziologische Aspekte erfahrener Einsamkeit
4. 10. Die Gefahren des Alleinseins – Einsamkeit als Last
4. 11. Das Alleinsein in den eigenen vier Wänden – Chance und Risiko. Freiwilliger Rückzug in die Einsamkeit, statt Weltflucht aus Enttäuschung und Überdruss
4. 12. Typen und Charaktere – introvertiert oder extrovertiert? Senecas Beschreibung der Melancholie-Symptomatik
4. 13. Geselligkeit – Senecas Plädoyer für ein ausgewogenes Wechselverhältnis zwischen freiwilligem Sein in Einsamkeit und sozialem Austausch
4. 14. Schöpferische Einsamkeit - Medium des Kreativen
4. 15. Die Apotheose des einsam-kontemplativen Lebens in der Schrift „De brevitate vitae“, „Die Kürze des Lebens“
4. 16. Im „Jetzt“ leben, nicht erst morgen und am Leben vorbei! Hic et nunc und Memento mori!
4. 17. Der ruhige Hafen als Endziel - Individuelles Leben oder Massen-Existenz?
5. Mark Aurel - Der Weg zum Selbst in Zurückgezogenheit
5. 1. Gelebter Stoizismus als Vorbild
5.2. „Alleinsein“ bei Epiktet – Individualität und Selbsterkenntnis

Teil II: Vom frühen Mittelalter bis zur Scholastik

1. „Einsamkeit“ und „Melancholie“ im frühen Mittelalter. Anachoreten im frühen Christentum - „anachoresis“ und „monachoi“.
1.1.         Eremitentum und monastisches Leben um 300 – 400 n. Chr. Antonius, (der Ägypter), Evagrius Ponticus und Augustinus: DerWeg zu Gott vollzieht sich in der Einsamkeit
1.2. Antonius, der Ägypter – Einsiedlertum, Wüstenspiritualität und Mystik
1.3. Aurelius Augustinus in „reiner Einsamkeit“ - „Alleingespräche“ aus Cassiciacum - Früchte des Schaffens in der Einsamkeit des Selbstgesprächs
1.4. „Acedia“ seit Evagrius Ponticus, bei Thomas von Aquin und Bonaventura
1.5. Die „Wirkscheu“ des Johannes Cassian
1.6. Thomas von Aquin - Wirkscheu ist Todsünde – Acedia oder „Tristitia“
2. Deutsche Mystik
2.1. Meister Eckhart: Die absolute Freiheit des Gottsuchenden - Der unmittelbare, mystische Weg zu Gott. „Abgeschiedenheit“ und „innerliche Einsamkeit“ neu definiert
2.2. In der Abgeschiedenheit – Das Aufgeben des Selbst, das Ledigwerden, als Voraussetzung der Unio mystica und die Gottesgeburt
2.3. „innerliche Einsamkeit“ – Zum Wesen der Dinge!
2.4. „Unio mystica“ und Buddhismus – Stufen und Wege des Rückzugs aus allgemein philosophischer, christlicher Sicht bzw. aus der Perspektive der Zen-Meditation - Exkurs
2.5. Heinrich Seuses „Weg in die Innerlichkeit“ und die Beschreibung der Mönchskrankheit (Acedia) in der Schrift „Das Leben des Dieners“
2.6. „Das Büchlein der ewigen Weisheit“ - „Wie man innerlich leben soll“, „lautere Abgeschiedenheit“ und Entwerdung (Selbst- bzw. Ich-Auflösung)
2.7. Theresa von Avila - „Der Weg zur Vollkommenheit“ und „Die Seelenburg“.

Teil III: Humanismus

1. Francesco Petrarcas Loblieder auf die Einsamkeit. Der zentrale Stellenwert der „Einsamkeit“ im Werk der Humanisten
1.1. Zur Vita Petrarcas – Von der Vita activa zur Vita contemplativa im mundus aestheticus
1. 2. „De otio et solitudine“ - Von Freiheit (Muße) und Einsamkeit
1.3. „De vita solitaria“: Francesco Petrarcas Hymnus in Prosa auf das Leben in Einsamkeit. Die Begründung der Auffassung von der „schöpferischen Einsamkeit” als elitäre Phänomen-Definition
1.4. „felix solitarius“ contra „miser occupatus“ – besser allein, frei und glücklich als vielbeschäftigt, gestresst und in permanenter Disharmonie – Einsamkeit: die „conditio sine qua non“ einer ethisch fundierten Lebensführung und Existenzbewältigung
1.5. Zur Modernität des Existenzmodells „Leben in der Eigentlichkeit“
1.6. Das schaffende Subjekt … und die Ahnenreihe der Einsamen
1.7. „Secretum“ – Melancholie und Misanthropie
1.8. „Gespräche über die Weltverachtung“: Petrarcas negativer Melancholie-Begriff und Dante
1.9. Melancholie und Selbst-Therapie – Ist die „unheilvolle“ „Seelenkrankheit“ „Weltschmerz“ heilbar?
1.10. Dante weist die Muse Melancholie zurück

Teil IV: Renaissance

Einsamkeit und Melancholie während der Renaissance in Italien - Die „Saturniker“ des Mediceer-Kreises
1. Angelo Poliziano – Der Dichter am Kamin als personifizierte Melancholie und eine Melancholie-Beschreibung im Geist der Zeit.
2. Marsilio Ficino – Therapierte Melancholie. Das Bei-sich-Selbst-Sein der Seele führt zu Außergewöhnlichem in Philosophie und Kunst
2.1. Marsilio Ficino in freiwilliger Zurückgezogenheit in Carreggi - Einsamkeit als „conditio sine qua non“ des künstlerischen Schaffens
2.2. Im Zeichen des Saturn - Marsilio Ficinos Werk, „De vita triplici“, eine Diätetik des saturnischen Menschen. Ficinos astrologisch determinierter, antik physiologischer Melancholie-Begriff.
2.3. Definition der Melancholie und des Melancholikers in „Über die Liebe oder Platons Gastmahl“ - Die Liebe als melancholische Krankheit?
2.4. Krankheit „Melancholie“ - Therapeutikum Musik
3. Pico della Mirandolas Entwurf des Renaissancegenies in „De hominis dignitate“ – Von Einsamkeit und Freiheit
3.1. Die „dunkle Einsamkeit Gottes“
3.2. „Die Freiheit des Menschen“ und der „Geniebegriff der Epoche“ in „Oratio“
3.3. Die ethisch eingeschränkte Freiheit des Genies und das Humanum als Endziel
4. Lorenzo de’ Medicis „melancholische“ Dichtung
4.1. War der Prächtige ein Melancholiker? Vanitas, Wehmut und Schwermut
4.2. Der Typus des „Inamoroso“ als Melancholiker - Liebeslyrik im Sonett
4. 3. Melancholia - Lorenzo de’ Medici rezipiert Walter von der Vogelweide
5. Die Familie der Melancholiker oder die Metamorphose des sinnenden Geistes zur Plastik und zum Gedicht - Exkurs
6. Einsamkeit, Melancholie und künstlerisches Schaffen während der Renaissance in Italien.
6.1. Geniale Werke der Einsamkeit bei Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci - Einsamkeit als die künstlerische Schaffensbedingung schlechthin, als „conditio sine qua non“ des kreativen Subjekts.
6.2. Michelangelo Buonarroti - „Wer kann, wird niemals willig sein.“ – Individuelle Freiheit und künstlerische Selbstbestimmung
6.3. Große Kunst ist gottgewollt
6.4. Der Schaffende ist das Maß aller Dinge - oder die Lust, mit dem Hammer neue Werte zu schaffen
6.5. Weltflucht und Weltverachtung
6.6. Der sinnende Melancholiker „Micha Ange bonarotanus Florentinus sculptor optimus“
6.7. – „La mia allegrezz’ e la maniconia” – “Meine Lust ist die Melancholie!” – Existenzbewältigung im “Amor fati“ oder eine ins Positive transponierte „Melancholie als Mode“?
6.8. Hypochondrie und Misanthropie in burlesker Entladung – bei Michelangelo und Leonardo
6.9. Michelangelos „Sonette“: Kreationen reiner Eitelkeit?
7. Leonardo da Vinci – Ein Einsamer, aber kein Melancholiker. Die Wertschätzung der „vita solitaria e contemplativa“.
7.1. Leonardo und Michelangelo – ein geistesgeschichtlicher Vergleich. Der verbindende Hang zur Einsamkeit … und viele Kontraste!
8. Girolamo Savonarola – Der melancholische Reformator vor der Reformation
8.1. Gott geweihtes Leben in stiller Einkehr und früher Protest aus der Klosterzelle
8. 2. Zeitkritik und Fragen der Moral in „Weltflucht“ und „De ruina mundi“- Vom Verderben der Welt
8.3. Kritik des Christentums sowie des dekadenten Papsttums im poetischen Frühwerk - „De ruina Ecclesiae“ oder „Sang vom Verderben der Kirche“, (1475)
8.4. „Poenitentiam agite“! – Buße , Einkehr, Rückbesinnung, Katharsis
8.5. Savonarolas Humanismus-Kritik und seine Zurückweisung der Astrologie – ist die Philosophie eine Magd der Theologie?
8.6. Sozialreformer Savonarola - „De Simplicitate vitae christianae“ - Von der Schlichtheit im Christenleben.
8.7. Savonarola setzt politische Reformen durch – Über die demokratische Verfassung in Florenz zum Fernziel der Einheit Italiens
8.8. Niccolo Machiavelli und Die Schwermut der Tyrannen
8.9. Einsamkeit, Kontemplation und rhetorischer Auftritt – Savonarola Volkstribun und Redner nach Cicero?
8.10. Einsamkeit und Gesellschaft bei Savonarola
8.11. Christliche Ethik als geistige Basis der Staatsform – Contra Tyrannis
8.12. „Der Tyrann“ trägt „alle Sünden der Welt im Keim in sich“ - Melancholie als Krankheit: Savonarolas Typologie, Definition und Phänomen-Beschreibung des Renaissance-Macht-Menschen und das Primat des Ethos im Leben und im Staat.
8.13. Genies des Bösen – Lorenzo de’ Medici und der Borgia-Clan
8.14. Thomasso Campanellas idealer Gegenentwurf zum Typus des Tyrannen in seiner christlich-kommunistischen Utopie „Città del sole“
8.15. Golgatha - Traurigkeit und Verlassenheit in der Todeszelle und auf dem Scheiterhaufen
8.16. Hybris und Zuflucht zu Gott – „in Schwermut und voll Schmerz“!
8.17. Melancholia - „In te, Domine, speravi“, letzte Einsamkeit und existenzielle Traurigkeit - Hoffnung gegen Melancholie?
8.18. Auch Päpste irren! Schweigepflicht, Exkommunikation, Inquisition, Folter – Reformator Savonarola stirbt den Flammentod in Florenz
8.19. Giordano Bruno und die Flammen der Inquisition – Der Märtyrer-Tod auf dem Scheiterhaufen wiederholt sich … doch
9. Michel de Montaignes Essay „De la solitude“- Das Leben in Abgeschiedenheit zwischen profaner Weltflucht und ästhetischer Verklärung
9.1. Süße Weltflucht in den Turm – Melancholie als Habitus
9.2. War Michel de Montaigne ein Melancholiker?
9.3. Einsamkeit, ein Wert an sich, ist nie Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck.
9.4. „Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der Mensch“ – Einsamkeit und Gesellschaft
9.5. Vanitas - Der Rückzug aus der Gesellschaft ist auch historisch bedingt
10. „The Anatomy of Melancholy“ - Der extensive Melancholie-Begriff bei Democritus junior alias Robert Burton
10.1. „Elisabethanische Krankheit“ oder „maladie englaise“ – Melancholie als Mode!? Von der Pose zur Posse?
10.2. Demokritos aus Abdera – Der lachende Philosoph als Vorbild und Quelle der Inspiration
10.3. „sweet melancholy“ - Burtons Verdienste bei der Umwertung und Neuinterpretation der grundlosen Tieftraurigkeit zur „süßen Melancholie“
10.4. „Göttliche Melancholie“: „Nothing’s so dainty sweet as lovely melancholy“ - Zur positiven Melancholie-Bewertung vor, neben und nach Burton

Teil V: „Einsamkeit“ und Melancholie in der Moderne

1. Jean-Jacques Rousseau – Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit. Die Apotheose der Einsamkeit im Oeuvre des Vordenkers der Französischen Revolution
1.1. Rückzug, „Schwermut“ und „Hypochondrie“
1.2. „Zurück zur Natur“! im „Discours“ - Plädoyer für das einfache Leben und harsche Gesellschaftskritik. Macht die „Sozialisierung“ den an sich guten Menschen schlecht?
1.3. Im Refugium der Eremitage von Montmorency: Kult der Einsamkeit – Landleben, Naturgenuss und geistiges Schaffen
1.4. „Sanssouci“ – Asyl: Ein Einsamer, Friedrich der Große unterstützt einen anderen Einsamen, den verfolgten Wahlverwandten Jean-Jacques Rousseau
1.5. „Les Rêveries du promeneur solitaire“ - Träumereien eines einsamen Spaziergängers
1.6. Einsamkeit ist im Wesen des Künstlers selbst begründet - «Toutes les grandes passions se forment dans la solitude»!
2. Einsamkeit und Gesellschaftskritik im Werk der Französischen Moralisten La Rochefoucauld, Vauvenargues und Chamfort
2.1. Rekreation im Refugium – die bücherlesende Einsamkeit des Herzogs La Rochefoucauld
2.2. Einsamkeit – Katharsis, Chance und Gefahr
2.3. Chamfort - „Vom Geschmack am einsamen Leben und der Würde des Charakters“ - „Man ist in der Einsamkeit glücklicher als in der Welt.“
2.4. Abkehr von der Gesellschaft, melancholische Heimsuchungen, Vereinsamung und Menschenhass
2.5. „Ein Philosoph, ein Dichter, sind fast notwendig Menschenfeinde“ – Chamforts Rechtfertigung von Misanthropie und Melancholie.
3. „Ueber die Einsamkeit“ - Johann Georg Zimmermanns Monumentalwerk aus dem Jahr 1784/85 - Einsamkeit als Lebenselixier – Die Gestimmtheit im deutschen Barock – Inklination zur Melancholie?
3.1. Von den „Betrachtungen über die Einsamkeit“ zur Abhandlung „Von der Einsamkeit“ – Thema mit Variationen
3.2. Die Ursachen von wahrer und falscher Einsamkeit - Müßiggang, Menschenhass, Weltüberdruss und Hypochondrie
3.3. „gesellige Einsamkeit“ - eine „contradictio in adjecto“?
3.4. Aufklärer Immanuel Kant definiert den zur „Melancholie Gestimmte(n)“, „Melancholie“ als „Tiefsinnigkeit“ und die „Grillenkrankheit“ Hypochondrie richtungweisend für die Neuzeit. Exkurs.
4. Arthur Schopenhauers „elitäres“ Verständnis von Einsamkeit - nur wer allein ist, ist wirklich frei!
4.1. Der Ungesellige - „Er ist ein Mann von großen Eigenschaften.“
4.2. Die „Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister“ - Ist der Mensch von Natur aus einsam? Ist „Einsamkeit“ ein Wert an sich?
4.3. Das Sein in der Einsamkeit als existenzielles Problem - Einübung in die zurückgezogene Lebensführung.
5. Lenau, Dichter der Melancholie. „Einsamkeit“ und Schwermut (Melancholie) im Werk von Nikolaus Lenau – Anthropologische Phänomenbeschreibung und literarisches Motiv
5.1 Lenaus Verhältnis zur Philosophie. Entwicklung und Ansätze
5.2. „Einsamkeit“ und „Vereinsamung“ als existenzielle Erfahrung
5.3. Nikolaus Niembsch von Strehlenau, genannt „Lenau“ vereinsamt in Wien
5.4. Das „melancholische Sumpfgeflügel der Welt“ - Vereinsamt in Heidelberg und Weinsberg. Therapeutikum Philosophie: Lenau setzt der „Seelenverstimmung“ die „Schriften Spinozas“ entgegen!
5.5. Amerika – Lenaus Ausbruch in die Welt der Freiheit
5.6. Schwermut und Hypochondrie – Therapeutikum: Philosophie und Sarkasmus
5.7. „Einsam bin ich hier, ganz einsam. Aber ich vermisse in meiner Einsamkeit nur dich.“
5.8. „wahre Menschenscheu“ - „Die Geselligkeit“ „ist ein Laster“ - „Mein Leben ist hier Einsamkeit und etwas Lyrik.“
5.9. Die „äußere Einsamkeit“– Vom „Locus amoenus“ zum „Locus terribilis“
5.10. Situation und Grenzsituation – präexistenzphilosophisches Gedankengut bei Lenau auf dem Weg zu Karl Jaspers. Exkurs.
5.11. „Einsamkeit“ als ontische Dimension - Menschliches Dasein ist nicht Gesellig-Sein – Mensch-Sein bedeutet ein Sein in Einsamkeit.
5.12. „Einsame Klagen sinds, weiß keine von der andern“ - Monologische Existenz in dem existenzphilosophischen Gedicht „Täuschung“
5.13. In „dunklen Monologen“ - „Jedes Geschöpf lebt sein Privatleben“ - Mitsein in existenzieller Gemeinschaft erscheint unmöglich
5.14. „O Einsamkeit! Wie trink ich gerne / Aus deiner frischen Waldzisterne!“ Dionysisch „zelebrierte Einsamkeit“ im Spätwerk
5.15. „Der einsame Trinker“ - Das dionysische Erleben der Einsamkeit im Fest
5.16. „Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus“ - Der „Unbehauste“, ein „Fremdling ohne Ziel und Vaterland“
5.17. „Nun ist’s aus, wir müssen wandern!“ - In-der-Welt-Sein ist Einsamkeit
5.18. Lenaus melancholische Faust-Konzeption - „metaphysische Vereinsamung“.
5.18.1. Der „Unverstandene“, das ist der „Einsame“.
5.18.2. Endlichkeit und Ewigkeit
5. 18. 3. Die Geworfenheit des existenziellen Realisten „Görg“
5. 18. 4. Das Unbewusste als Antrieb - Die tragisch konzipierte Faust-Figur in Disharmonie mit dem Selbst und in der Uneigentlichkeit
5.18.5. Gott ist tot - existenzielle Exponiertheit des metaphysisch Vereinsamten vor Nietzsche und Rilke
5.19. Im dunklen Auge – ein „sehr ernster, melancholischer Knabe“, „hochgradig zur Melancholie disponiert“  und hinab gestoßen in die „Hohlwege der Melancholie“: „Mein Kern ist schwarz, er ist Verzweiflung.“ – Melancholie-Symptomatik und Definitionen der Krankheit bei Lenau
5.20. „Lieblos und ohne Gott! Der Weg ist schaurig“ – „Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.“ „Melancholie“ und „absolute Vereinsamung“ in Lenaus Doppelsonett „Einsamkeit“
5.21. Der Werte-Kampf in Lenaus Ballade „Die nächtliche Fahrt“ - Von darwinistischer Selektion über den „Kampf um das Dasein“ nach existenzphilosophischen Kategorien zur Ethik des Widerstands im Politischen - Exkurs
5.21.1. Wettkampf und Werte-Kampf
5.21.2. Lenaus Imperialismus-Kritik in seinem „anderen“ Polenlied
5.21.3. Ethik des Widerstands - Der Existenz-Kampf der Individuen entspricht dem Souveränitätsstreben der - tyrannisierten - Völker
6. Friedrich Nietzsche, der einsamste unter den Einsamen? Absolute Einsamkeit, extreme Vereinsamung und schwärzeste Melancholie
6.1. Wesensgemäße Daseinsform und  Schaffensbedingung der Werke der Einsamkeit.
6.2. „Also sprach Zarathustra“ - Nietzsches großer „Dithyrambus auf die Einsamkeit“
6.3. Strukturen der „Einsamkeit“ in „Also sprach Zarathustra“
6.4. „Fliehe, Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit!“ - „Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt.“
6.5. Die Auserwählten – Nietzsches kommende Elite: Der „Einsame“ als Brücke zum Übermenschen
6.6. Der Einsame – das ist der Schaffende! „Trachte ich nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke!“
6.7. Nietzsches „Nachtlied“ - das einsamste Lied, welches je gedichtet wurde!
6.8. „Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!“
6.9. „Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein’“ – Zum Gegensatz von individuellem Leben in Einsamkeit und gesellschaftlichem Massen-Dasein.
6.10. „Einsam die Straße ziehn gehört zum Wesen des Philosophen.“ Fragmentarische Aussagen zur „Einsamkeit“
6.11. Therapeutikum Einsamkeit – schlimme und gefährliche Heilkunst! „In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“
6.12. Die „siebente letzte Einsamkeit“ - Nietzsches „Dionysos-Dithyramben“
6.13. „Vereinsamt“ – Düstere Melancholie und metaphysische Verzweiflung
7. „Einsamkeit“ bei Jaspers und Heidegger - Exkurs
8. Der „Neue Mensch“ – eine Konsequenz der Einsamkeit? „selbstestes Selbst“ und Apologie des Selbst bei Lenau und Nietzsche - Exkurs
8.1. Die Suche nach dem „Humanum“ – Absage an den Irrweg „Übermensch“
8.2. Lenaus „Homo-Novus-Konzeption“ nach Amalrich von Bene
8.3. „Idemität“ und „Konkreativität“ – Der „menschliche Mensch“! Zur Strukturanthropologie Heinrich Rombachs. Exkurs

Teil VI: Essays zur Thematik und kleine Beiträge

9. Stufen der Einsamkeit – Auf dem Weg vom Alleinsein in die Vereinsamung, Melancholie und Verzweiflung – Zur Metamorphose eines anthropologischen Phänomens
9.1. Von der existenziellen Situation „Einsamkeit“ zum Krankheitsbild „Melancholie“ in der Erscheinungsform „Acedia“ und Hypochondrie
9.2. Melancholie als Charakteristikum des genialen Menschen.
9.3. Die Phänomene „Einsamkeit“, „Alleinsein“, „Vereinsamung“ und „Melancholie“ („Schwermut“, „Depression“) – im Wandel der Zeiten: Anthropologische Konstanten und Grundbefindlichkeiten des Daseins oder zeitbedingte Entwicklungsphänomene? Zur Begriffsbestimmung.
9.4. Strukturen der Einsamkeit - Zum Bedeutungswandel der Begriffe Einsamkeit und Melancholie durch die Zeiten
9.5. Existenzbewältigung: Angewandte Philosophie in philosophischer Praxis – Zur Konzeption und Intention der Studien zur Einsamkeit.
9.6. Zur Einsamkeit verflucht? – Alleinsein zwischen gesellschaftlicher Pest und segensreicher Schaffensbedingung –Selbsterfahrungen und Autobiographisches
9.7. Das Existenzmodell „Alleinsein“ zwischen Weltflucht und verklärender Utopie: Abgeschiedenheit, Einkehr, Selbstfindung, Eigentlichkeit - Selbst erfahrene und selbst beobachtete Phänomene – Einsamkeit, ein Zeitproblem?
9.8. Ein Einsamer von heute – In memoriam Theo Meyer.

 
Nachwort:
Inhalt:
Namenregister:
Bibliographie
Primärliteratur
Anthologien, Aufsatz-Sammelwerke zur Thematik:
Sekundärliteratur:
Bilder-Verzeichnis:
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