Freitag, 13. Oktober 2017

Lenau, Dichter der Melancholie. „Einsamkeit“ und Schwermut (Melancholie) im Werk[1] von Nikolaus Lenau – Anthropologische Phänomenbeschreibung und literarisches Motiv - Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.

Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.




5. Lenau, Dichter der Melancholie. 

„Einsamkeit“ und Schwermut (Melancholie) im Werk[1] von Nikolaus Lenau – Anthropologische Phänomenbeschreibung und literarisches Motiv


„Bitte

Weil‘ auf mir, du dunkles Auge,
Uebe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!

Nimm mit deinem Zauberdunkel,
Diese Welt von hinnen mir,
Daß du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.“[2]

Lenau.

5.1 Lenaus Verhältnis zur Philosophie. Entwicklung und Ansätze


Im Mittelpunkt des frühen philosophischen Entwicklungsprozesses, der lediglich ansatzweise aus wenigen Fragmenten rekonstruiert werden kann, stehen bereits philosophiekritische Überlegungen. Eine reine Metaphysik erscheint dem jungen, fast täglich mit einem Übermaß an steriler Kathederphilosophie konfrontierten Studenten suspekt. In der zeitspezifischen Auseinandersetzung zwischen dem empirisch-kritischen Denken der Aufklärung und der Schulmetaphysik adoptiert Lenau die progressive Position und spricht der Metaphysik die Berechtigung ab, die Grundfragen der Philosophie als einzige endgültig und überzeugend beantworten zu können. Er akzeptiert weder ihre Denkvoraussetzungen, noch befriedigen ihn die Ergebnisse: „Das Verfahren derjenigen Philosophen“, schreibt der junge Philosophiestudent, der die Absicht bekundet, sich „ausschließlich auf Philosophie zu verlegen“[3], „scheint mir deshalb unrichtig, weil sich die ewige Wahrheit nicht nur im menschlichen Geiste, sondern auch, und viel deutlicher, in den Gesetzen der Körperwelt ausspricht, welche doch immer bestimmter erkannt werden kann, da hier erkennendes Subjekt und zu erkennendes Objekt nicht eins und dasselbe ist, wie bei Untersuchung des Menschengeistes in seiner Gesetzmäßigkeit.“[4] Während Lenaus geistige Entwicklung zunehmend empirisch-positivistische Bahnen beschreitet, verkommt die idealistische System-Philosophie der Zeit immer deutlicher zur Karikatur. Die später von Lenau teilweise rehabilitierte Metaphysik, besonders das strapazierte Substanz- und Systemdenken, erscheint dem kritischen Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts inmitten der Restaurationsepoche nur noch als ein antiquiertes Relikt. Repräsentativ für diese Geisteshaltung ist ein prägnantes Spottgedicht aus der Studienzeit:
„Auf einen Professor philosophiae

Seht ihr den Mann mit stäubender Perücke?
Wie sprudelt ihm die hochgelahrte Kehle!
Seht, an der morschen Syllogismenkrücke
Hinkt Gott in seine Welt; die Menschenseele
Ist ewig, denn sie ist aus einem Stücke!
Und dass der Argumente keines fehle,
Hat er ein weises ergo noch gesprochen:
Der Mensch ist frei, die Fesseln sind gebrochen!“[5]

Die zum Sarkasmus gesteigerte Ironie dieses – etwa 1824 entstandenen – Gedichts entlarvt jede Aussage als trügerischen Schein. Der zur Karikatur verkommene „Professor philosophiae“ fällt nur noch durch seine verzopfte Erscheinung auf, garniert mit abgegriffenen akademischen Floskeln. Doch dieses Scheinen wird durchschaut. Die maßgebende Innenwelt, die Welt der Ideen, ist antiquiert, hohl, zweifelhaft, wenig überzeugend. Jahrzehnte nach Rousseau, Voltaire, Napoleon und der politischen Neuordnung Europa lebt dieses Fossil aus alter Zeit immer noch vom „ergo“, von blasser Rhetorik und billiger Effekthascherei. Seine Welt ist eine Welt des Scheins. Die ins Feld geführten „Argumente“ sind antiquiert und wirken nicht mehr. Methode und Thema sind der Zeit fremd geworden: „an der morschen Syllogismenkrücke / Hinkt Gott in seine Welt“. Alles, was dieser „Professor“ vermittelt, die unzeitgemäße Syllogistik, die Weltanschauung, der Gottesbegriff und die aus „einem Stücke“ bestehende Seele, fordern zur Ablehnung geradezu heraus. Auch die Freiheit des Menschen, die in diesem Falle nicht mehr überzeugend metaphysisch begründet werden kann, wird zur Farce. Die ins Groteske hinab gesunkene Substanz- und System-Philosophie hebt sich praktisch selbst auf. Dieses Gedicht ist richtungweisend für Lenaus zukünftige Prioritäten im stets als Einheit empfundenen Dichten und Denken. Unzeitgemäße Philosopheme werden zwar weiterhin abgelehnt, die Metaphysik an sich aber bleibt erhalten, nicht als billiges Refugium in obskurer Hinterwelt, sondern aus der Einsicht in die Endlichkeit des Menschen sowie als Methode spekulativer Erkenntnis. Lenau ist ferner überzeugt, die Emanzipation des Menschen werde nicht im Politischen erreicht, sondern nur im Geistigen. Deshalb auch die rigorose Feststellung: „Solange diese metaphysischen Absurditäten nicht aufgeklärt und hinweggeräumt sind, ist von allen politischen Revolutionen nichts zu hoffen, als allenfalls ein Impuls zum Nachdenken und zu künftiger metaphysischer Revolution.“[6]
 Bild 7.
Ecce poeta!
Nikolaus Lenau-Denkmal an der Lenau-Steige in Esslingen am Neckar
Statisches, in willkürlich konstruierte Systeme forciert eingebettetes Denken, wie er es bei Schelling, aber auch bei Hegel und dessen Rivalen Schopenhauer vorfindet, bleibt Lenau für alle Zeiten fremd. Auch im Denken und Spekulieren geht der Dichter eigene Wege. Er setzt dabei, in eindeutiger Affinität zum modernen anthropologischen Strukturdenken, auf dessen Vorläufer wie Meister Eckhart, Jakob Böhme und Franz von Baader – und dem entsprechend auf die ihm wesensgemäße, offene Struktur, also auf das Gegenteil des Systems.
Von der Überzeugung ausgehend, die höchsten Fragen der Menschheit würden nur durch neue Erkenntnisse der Philosophie gelöst werden und ein wahrer Dichter müsse also notwendigerweise eben ein Dichter-Philosoph[7] sein, konzentriert sich Lenaus Interesse, beginnend mit den ersten Originalen, bereits auf existenzielle Phänomene. Die Philosophie ist nicht länger Selbstzweck, sondern wird in den Dienst der Existenz gestellt. Ganz im Geist Epikurs, soll sie zur Daseinsbewältigung beitragen. Dominant ist in dieser Frühphase ein entschiedener Subjektivismus, der Lenau mit der systemfeindlichen Existenzphilosophie verbindet. Der Ausruf des Perspektivisten Faust:
„Beglücken kann mich nur ein Wissen
Das mein ist und von Seinem losgerissen.
Ich will mich immer als mich selber fühlen“,[8]

ist charakteristisch für diese Zeit. Statt einer Wahrheit an sich, gilt nur die Wahrheit für mich.
In der mittleren Schaffensperiode vollzieht sich dann doch der Umschwung ins Intersubjektive – das individuelle Phänomen ist nun der Ausgangspunkt zur Erschließung des weit reichenden Gesamtphänomens. Beachtenswert ist dabei die Tatsache, dass Lenau zu keinem Zeitpunkt ein statisches Modell erstrebt. Statt rein metaphysische Lösungen anzustreben, bemüht er sich um eine möglichst existenziell reelle Darstellung der Phänomene. Das Leben selbst erscheint als das nichtergründbare Wechselverhältnis von rationalen und irrationalen Elementen; das Dasein hat eine antinomische Struktur. Auch existenzielle Wahrheit ist immer relativ. Vergleicht man Lenaus existenzbezogene Dichtung mit den essentiellen Aussagen moderner Existenzphilosophie, ohne den Anspruch zu erheben, diese an einer a posteriori etablierten Begrifflichkeit messen zu wollen, so ist ein überraschend hoher Anteil gemeinsamer Denkansätze festzustellen.
Wie noch im Rahmen der hier vorgelegten Phänomenbeschreibung zu zeigen sein wird, operiert Lenau bereits früh und kontinuierlich in zeitspezifischer Terminologie mit den Kategorien Schwermut, Langeweile, Verzweiflung und Angst, anthropologisch-psychologische Erscheinungen, die erst in diesem Jahrhundert in Berufung besonders auf Schopenhauer, Kierkegaard[9] und Nietzsche als existenzphilosophische Grundlagen definiert wurden. Lenau problematisiert bereits das von Jaspers akzentuierte Sein in der Grenzsituation, er kennt den „Sprung“ und selbst Martin Heideggers „Geworfenheit“ ist in Lenaus „Faust“ antizipiert. Weitaus bedeutender aber ist der Gedanke, dass Lenau sein gesamtes künstlerisches Schaffen nicht als reine Ästhetisierung, sondern als Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Existenz und somit als Existenzbewältigungsprogramm versteht. Damit ist ein Grundkonsens markiert, der diesen besonderen Lyriker mit der unverwechselbaren melancholischen Diktion und episch-dramatischen Dichter der Spätromantik ganz wesentlich mit Nietzsche und Jaspers verbindet.

5.2. „Einsamkeit“ und „Vereinsamung“ als existenzielle Erfahrung


Wie im Ansatz bereits dargestellt werden konnte, ist die überwiegend positive konnotierte „Einsamkeit“ ein zentrales, überragendes Phänomen im poetischen Oeuvre Nietzsches. Geradezu gegensätzlich gestaltet sich die Darstellung der gleichen Thematik bei Lenau, der erst in der Spätphase seines Schaffens zum Apologeten eines Lebens in Einsamkeit avancieren wird. Lange Jahre widmet sich der Melancholiker avant la lettre fast ausschließlich dem negativ besetzten Vereinsamungsprozess des Menschen, jener unfreiwilligen Existenz in Einsamkeit, um die Nietzsche, obwohl vielleicht noch weitaus einsamer lebend, als sein geistiger Vorfahr Lenau, einen breiten Bogen macht. Nietzsches „Vereinsamt“ bleibt eine Ausnahme. Bei dem elegischen Lenau hingegen, der mehr klagt als verkündet, wird das Sujet Einsamkeit als Vereinsamung als dominantes Grundphänomen von Anfang an breiten Raum einnehmen.

 


5.3. Nikolaus Niembsch von Strehlenau, genannt „Lenau“ vereinsamt in Wien


„An die Melancholie.

„Du geleitest mich durch‘s Leben,
Sinnende Melancholie!
Mag mein Stern sich strahlend heben,
Mag er sinken - weichest nie!“[10]

                Lenau
Fast die gesamte Dichtung der frühen und mittleren Schaffensperiode Lenaus wird von diesem Motiv - und der daraus resultierenden pessimistisch-negativistischen Weltanschauung - geprägt. „Vereinsamung“, bei manchen Dichtern der Romantik[11] nur Pose, ist bei dem existenziell ausgerichteten Österreicher stets gelebte Vereinsamung.
Wie aus der umfangreichen Korrespondenz des Dichters ersichtlich ist, erwächst das Grundphänomen der unmittelbaren existenziellen Erfahrung. Lenau durchlebt in seinem dunklen, melancholiereichen Dasein zahlreiche, intensive, ja extreme Phasen der Vereinsamung. Bedingt durch den frühen Tod seines Vaters, macht er diese Negativerfahrung schon als Kind. Im jugendlichen Alter in Budapest und bald darauf als Philosophiestudent in Wien vereinsamt er noch mehr, obwohl er soziale Kontakte hat und erste Liebschaften sich anbahnen. „Was mich betrifft“, schreibt der angehende Poet resignativ an einen Jugendfreund, „so hab ich mich in Wien, überhaupt in der Welt, noch nicht eingebürgert.“[12]
Wie andere, von ihm sogar beeinflusste Dichter oder Komponisten aus der großen Familie der Melancholiker nach ihm, von Rilke über Gottfried Keller bis hin zu Othmar Schoeck, wird der distinguierte Aristokrat Nikolaus Niembsch von Strehlenau sich nie richtig in der Welt, die er bis hin nach Nordamerika ausloten wird, wohlfühlen. Er wird unter der Anonymität der Großstadt leiden – und er wird auch am „Locus amoenus“, in der Bergwelt des Salzkammerguts, dem niederziehenden Geist der Schwere ausgeliefert sein.
Um das Jahr 1828 lebt Lenau in Wien. Wohl ahnend, nur für die Kunst da sein zu wollen, lehnt der angehende Dichter bereits zu diesem Zeitpunkt das praktische Leben ab. Introvertiert, fast menschenscheu, zieht er sich, gestützt auf Seneca[13] und andere Lebensphilosophen der Stoa, in die Welt der toten Dichter und Denker zurück. Totengespräche sind angesagt. Der bald folgende Tod der Mutter sowie das Zerschellen der ersten Liebesverbindung stürzen diesen „Lenau“, der sein – bald weltbekanntes - Pseudonym noch nicht erfunden hat, erneut in tiefe Depressionen. Bevor der Edle von Strehlenau endgültig der Vereinsamung und Melancholie verfällt, wagt der junge Mann noch einen mutigen Befreiungsschlag aus seiner psychisch labilen, verzweifelten Lage. Er bricht auf und aus … und flieht kurz entschlossen nach Süddeutschland, in das ihm - aus der metternichschen Enge heraus - „liberal“ erscheinende Großherzogtum Baden, in einen milden Landstrich am Rhein, in welchem seit Napoleons Flurbereinigung in Europa französische Winde wehen, flankiert vom Geist der Aufklärung und den menschenrechtlichen Errungenschaften der Französischen Revolution.
Für wenige Tage verschlägt es Lenau nach Karlsruhe. Bald darauf reist er ab. Es zieht ihn einige Postkutschen-Stationen zurück, nach Stuttgart, in die Hauptstadt des noch jungen Königreichs Württemberg, wo er viel Freiheit, gute Schaffensbedingungen und auch einige literarische Freunde zu finden hofft.
Und tatsächlich: Lenau wird gut aufgenommen werden in Schwaben. Bald wird er Wahlverwandte antreffen, Philologen und Publizisten wie Gustav Schwab, Ludwig Uhland und Adelbert von Chamisso. Wahre Freunde werden hinzukommen wie Justinus Kerner, eine tief verwandte melancholische Seele[14], die ihm, bis in die Irrenanstalt Winnenden hinein, die Treue halten wird.
 
Bild 8.
Der Geisterturm im Hof des Kerner-Hauses, in Weinberg. Wenn Lenau den Dichter-Freund Kerner besuchte, wohnte und arbeitete er in diesem Turm.
 
Bild 9.
Justinus-Kerner-Denkmal, Weinsberg, Detail.
Er wird sogar Gönner antreffen, die ihm – gleich der Familie von Reinbek - ihren literarischen Salon und andere Türen öffnen und ihn beim Goethe-und Schiller-Verleger Freiherr von Cotta einführen werden, bei einem schon legendären Verleger, der, den sympathischen „Ungar“ aus Wien umgehend als Autor aufnehmen und schon bald als Dichter mit eigenem Ton bekannt machen wird.
Nach einiger Zeit in Stuttgart und Weinsberg zieht es den Romantiker etwas den Neckar hinauf, nach Heidelberg. An der alten, ehrwürdigen Alma Mater nimmt der aufstrebende Poet sein unterbrochenes Brot-Studium wieder auf und widmet sich im Schatten der Ruine neben Poesie und Geist vor allem der Medizin. Lenau, vom Wesen her ein Altruist, will Arzt, genauer Pest-Arzt werden, um dann selbstlos in alle Welt zu schweifen, überall dorthin, wo ärztliche Kunst gebraucht wird. Als fast vollständig ausgebildeter Mediziner und geschulter Psychologe ist Lenau dann auch in der Lage – im unmittelbaren Dialog mit dem neu gewonnenen Freund, Arzt und Melancholiker[15] Justinus Kerner die Symptome der eigenen Schwarzgalligkeit zu beobachten, teils hypochondrisch, teils wissenschaftlich empirisch und die Materie, über die unmittelbare Betroffenheit beider hinaus, sachkompetent zu erörtern.

5.4. Das „melancholische Sumpfgeflügel der Welt“ - Vereinsamt in Heidelberg und Weinsberg. Therapeutikum Philosophie: Lenau setzt der „Seelenverstimmung“ die „Schriften Spinozas“ entgegen!


Doch auch im schönen Heidelberg am Neckar überkommt ihn das alte Übel. Die Seelenpest Melancholie reist mit und verhagelt selbst dem gesellschaftlich integrierten Burschenschaftler die Wonnen des Studentenlebens. Lenau dichtet – doch das strenge, mühevolle Arbeiten in der Abgeschiedenheit seiner Spelunke wird ihm oft unerträglich: „Meine Seelenverstimmung wird von Tag zu Tag ärger“, klagt der Poet. „Das einzige Palliativmittel für mich ist Vertiefung in ein geistreiches Werk. Und so hab ich mich jetzt in die Schriften Spinozas vertieft. Aber ich mag nun wandern im Gebiete der Poesie oder der Philosophie, so stöbert und schnuppert mein Scharfsinn vor mir herum, ein unglücklicher Spürhund, und jagt mir richtig immer das melancholische Sumpfgeflügel der Welt aus seinem Verstecke.“[16] Die Philosophie Spinozas erfüllt die erwartete Existenzbewältigungsfunktion jedoch nicht. Sie versagt. Statt zu befreien, vertieft sie die Verzweiflungssituation des Trostsuchenden, der an falscher Stelle gesucht hatte, noch mehr.

5.5. Amerika – Lenaus Ausbruch in die Welt der Freiheit


In der Hoffnung auf politische Freiheit und geistige Emanzipation, schifft sich Lenau bald ein und reist, einer Auswanderungsgesellschaft angeschlossen, von Bremerhaven aus auf einem zeittypischen Dreimaster nach Nordamerika. Dort, in der Fremde, wird der deutsche Dichter noch mehr vereinsamen. Dieses Mal sind es soziale Isolation und geistige Vereinsamung zugleich, die ihn erfassen. Ideal und Wirklichkeit werden aufeinanderprallen und herbe Enttäuschungen auslösen. Hohe, ja übersteigerte Erwartungen an die Welt der Freiheit werden enttäuscht. Das im Jahr 1832 vorgefundene Amerika[17] ist - lange vor dem die Einzelstaaten einigenden Bürgerkrieg - noch weitestgehend rudimentär und unerschlossenen. Statt der erstrebten uneingeschränkten Freiheit in allen Bereichen der Entfaltung wird ihn, den angehenden Poeten, dort, auf dem fremden Kontinent, eine primär sozialdarwinistische, frühkapitalistisch ausgerichtete Gesellschaft erwarten, eine Daseinsform, die dem zarten Intellektuellen aus dem Alten Europa zutiefst suspekt vorkommt. Ein platter, nur dem Gelderwerb und dem schnellen Reichwerden verpflichteter Materialismus wird Lenau abstoßen.
Geistiger Austausch oder poetisches Wirken erscheinen ihm zunächst in der Neuen Welt unmöglich. Was ihm aber von der wagemutigen Amerika-Erkundung bleiben und sein Werk nachhaltig befruchten wird, ist die Natur, eine noch intakte Welt, die er zu schätzen wissen wird. Neben den zahlreichen Erlebnissen und Erfahrungen während der Hin- und Rückreise auf dem Schiff und dem Aufenthalt bei den christlichen Harmonisten werden es die Urgewalten sein, die Lenau nachhaltig beindrucken und inspirieren. Prägendes bleibt. Lenau, ein nach Erkenntnis Ringender und zugleich früher Tourist, erlebt die tosende Wucht der Niagara-Fälle noch in ihrem ursprünglichen, nicht begradigten, vorindustriellen Zustand. In einem Gedicht wird er das Erlebte eindrucksvoll schildern - wie oft bei ihm, als Nachhall, Jahre nach dem tatsächlichen Ereignis. Auch wird der Dichter noch mit der Urbevölkerung Nordamerikas konfrontiert werden, mit den Indianern, deren, damals schon absehbares, tragisches Los[18] ihn zu pathetischen Dichtungen animieren wird. Lenau wird schließlich, und das ist bezeichnend, die auf dem amerikanischen Kontinent erlebte „Vereinsamung“ des geistigen Individuums - in einem ihm nicht angemessenen materialistischen Umfeld sowie in direkter Konfrontation mit der rauen Natur des Landes - als notwendiges Katharsis-Erlebnis deuten, als Reinigung und Läuterung, aus welcher der Einzelne zwar desillusioniert, aber existenziell wie künstlerisch gestärkt hervorgeht.

5.6. Schwermut und Hypochondrie – Therapeutikum: Philosophie und Sarkasmus


Ein gutes Jahr nach seiner Heimkehr aus Amerika, im September des Jahres 1834, als der Dichter bereits an seinem „Faust“ arbeitet, wiederholt sich der insgesamt unbefriedigende Überwindungsversuch der Vereinsamungssituation mittels Philosophie erneut: „Aus all der Leere und dem Unbehagen hab ich mich, so gut es gehen will, geflüchtet in ein ernsthaftes Studium. Herbarts philosophische Schriften beschäftigen mich beinahe den ganzen Tag. Doch, so sehr dieses Studium den Kreis meiner Erkenntnis erweitert und erhellt und mir die Hoffnung gibt, meine ästhetischen Ansichten in ein System zu bringen, so wenig bin ich imstande, aus einer gewissen Schwermut, die nahe an Hypochondrie[19] grenzt, mich hinaus zu philosophieren. Ich habe noch mehr die Hoffnung, daß mich mein Mephisto hinausspotten wird.“ [20]
Philosophie ist also nur systematisiertes Denken, also Schulphilosophie ohne konkreten Existenzbezug oder Lebenshilfe. Sarkastische Poesie mit dem Stil-Mittel Ironie, Elemente, die Lenau in seinem „Faust“ in Anknüpfung an das Paradigma Goethes übernehmen wird, bergen da ganz andere Möglichkeiten. Doch wie die herben Zoten der Themse-Fischer einen Robert Burton nur aufheitern können, ohne seine Melancholie zu besiegen, genauso wenig kann literarisch umgesetzter Humor den Menschen und Dichter Lenau vor Stimmungsschwankungen und Verstimmungen bewahren. Die Folgeerscheinungen eines Lebens in Abgeschiedenheit, Vereinsamung, Hypochondrie oder Melancholie bleiben ein existenzielles Problem, eine Herausforderung, mit welcher sich der betroffene Einzelne permanent konfrontiert sieht.

5.7. „Einsam bin ich hier, ganz einsam. Aber ich vermisse in meiner Einsamkeit nur dich.“


Wie blinkt mir der Himmel
Im Grünen so hehr.
Der Städte Getümmel
Ist rauschend und leer.
Drum sei meiner Tränen
Vertraute die Flur,
Drum höre mein Sehnen
Die Einsamkeit nur.“
Friedrich von Matthisson,
In der Fremde.
In der Korrespondenz Lenaus finden sich aber auch Belegstellen, aus welchen hervorgeht, dass der Dichter das abgeschiedene Leben, die Zurückgezogenheit im Schaffensprozess, durchaus auch genießen kann – in relativer Ruhe, Autarkie und Ataraxie wie die Stoiker und Epikureer der Antike.
Auf die ferne Geliebte, auf die ihm wahrscheinlich nur platonisch verbundene Sophie von Löwenthal bezogen, notiert der Dichter in sein Tagebuch: „Ich habe heute viel gearbeitet, aus mir heraus und in mich hinein. Einsam bin ich hier, ganz einsam. Aber ich vermisse in meiner Einsamkeit nur dich. Nur du bist mir unersetzlich durch die schöne Natur, durch den Verkehr mit großen Geistern wie Plato, den ich fleißig lese, ja selbst durch die beglücktesten Stunden meines Kunstlebens.“[21] Das hier geschilderte Phänomen genossener Einsamkeit entspricht etwa den verwandten Erlebnissen eines Petrarca in der Provence oder eines Angelo Poliziano[22] in der Toskana: Das schöpferische Individuum ist vollkommen bei sich selbst, am schönen, angenehmen Ort, die Natur wird als „harmonische Natur“ gleich mit genossen, der Umgang mit großen Geistern wird konstruktiv gepflegt wie vom bücherlesenden, meditierenden und schreibenden Montaigne im Turm, und die aus alledem emanierenden Ideen werden schließlich produktiv in Poesie umgesetzt. In solchen Momenten, ja Hochphasen künstlerischen Schaffens verdrängt das weitestgehend positiv gewertete Phänomen „Einsamkeit“ die negativ destruktive „Vereinsamung“ vollständig. Erst nach dem autodynamisch-erhebenden, euphorisierenden Schaffensprozess droht wieder ein Rückfall in das Nachsinnen und Grübeln. Dann schleichen sich Gedanken an die ferne Geliebte ein, wehmütige Reflektionen des unvermeidbaren Verzichts auf Liebe, Nähe und Geborgenheit, auch Zweifel, welche die an sich glückliche Konstellation wieder relativieren, um erneut die jederzeit drohende Schwermut heraufzubeschwören.

5.8. „wahre Menschenscheu“ - „Die Geselligkeit“ „ist ein Laster“ - „Mein Leben ist hier Einsamkeit und etwas Lyrik.“


Ein Künstler ist sensibel und manchmal, vor und nach Schopenhauer, auch eine Mimose. Der gutmütige, doch auch schnell gereizte Lenau, ausgestattet mit einem anfälligen Nervenkostüm, war da keine Ausnahme. Eine Stubenfliege konnte ihm die Stimmung verderben, noch mehr Menschen, die sein Tun und Wirken nicht verstanden und ihn zum Unverstandenen machten.
Mit zunehmendem Alter wird Lenaus Ablehnung der Gesellschaft, vor allem der sogenannten guten Gesellschaft, immer krasser. Getrieben von einer „wahre(n) Menschenscheu“[23] flieht er ihm geltende Ehrungen in Stuttgart und München. Das konventionelle, von Riten und Floskeln bestimmte öffentliche Leben stößt ihn immer mehr ab. Ganz im Einklang mit La Bruyére, Rousseau, Chamfort, Schopenhauer und Nietzsche, also mit philosophischen Schriftstellern, die im profanen, uneigentlichen gesellschaftlichen Dasein eine Gefahr für jede Individualität erkennen, verkündet Lenau: Die Geselligkeit, es muß wiederholt werden, ist ein Laster, von dem ich mich immer mehr säubere und herstelle, ein Geist und Leib abschwächendes Laster.“ [24]
Den Vorgaben seines bereits im Jugendgedicht gewürdigten Vorbilds Seneca, dessen Trostschriften der Heranreifende genau gelesen hat, will er als autonomer Erwachsener nicht mehr ganz folgen. Statt auf das - auch für den Einsamen wichtige - Wechselverhältnis zwischen „Geselligkeit“ und Rückzug zu setzen, vernachlässigt der späte Lenau die Kommunikation und den Austausch mit anderen, um sich noch mehr zurückzuziehen. Statt die - fast für alle Menschen lebensnotwendige - Geselligkeit zu pflegen, zu kultivieren tritt die „Einsamkeit“ mehr und mehr in den Vordergrund, in vielen Formen und oft als positiv gewertetes Phänomen, dessen stimulierende Kraft Lenau längst erkannt hat. Im Gefolge anderer Dichter des Göttinger Hain und der Hochromantik wird besonders die „Einsamkeit des Waldes“[25] als Wohltat empfunden. Ganz in diesem Sinn wird Lenau seine „Waldlieder“ dichten. Seine gesamte Existenz wird schließlich im Phänomen des Dionysischen aufgehen. Im Jahr 1844, kurze Zeit vor dem Eintreten der geistigen Umnachtung als Folge einer Paralyse, notiert Lenau einen bezeichnenden Satz, der seine Existenz auf ihre Essenz reduziert: „Mein Leben ist hier Einsamkeit und etwas Lyrik.“[26]

5.9. Die „äußere Einsamkeit“– Vom „Locus amoenus“ zum „Locus terribilis“


Lenau ist vielleicht der Dichter in der deutschen Literatur, der den anthropologischen Zustand „Einsamkeit“ als Motiv am breitesten ausgelotet und poetisch umgesetzt hat, vom schlichten „Alleinsein“, über verschiedene Vereinsamungsprozesse bis hinein in die schwärzesten Erscheinungsformen von Melancholie und Verzweiflung – und das in einem Zeitraum von kaum fünfzehn Jahren konkreter Schaffenszeit.
Bild 10.
Nebel – Melancholische Landschaft
1830, unmittelbar vor dem eigentlichen poetischen Durchbruch, dichtet Lenau den aus zehn Liedern bestehenden Zyklus „Wanderung im Gebirge“. Das sechste Element dieser, an den späteren, hoch angesetzten Maßstäben gemessen noch unscheinbar wirkenden Poeme, „Einsamkeit“, versetzt den Leser in die abgeschiedene Höhenwelt österreichischer Alpen:
„Der steile Pfad wird steiler immer,
Es wächst die wilde Einsamkeit.“[27]

Wilde Einsamkeit bedeutet zunächst noch intakte Umwelt. Bereits in der zweiten Strophe erfolgt eine Dämonisierung des Naturausschnitts. Das subjektive Empfinden des Dichters überlagert die neutrale Perspektive. An die Stelle des herrlichen, in sich noch harmonischen Locus amoenus tritt der Locus terribilis: die Natur erscheint als makabre Todeslandschaft:
„Dort stürzt aus dunkler Felsenpforte
Der Quell mit einem bangen Schrei,
Enteilt dem grauenvollen Orte.

Angst und Grauen zerstören die Harmonie. Die Negativität des konstruierten Unortes wird weiter intensiviert:
„Verschwunden ist das letzte Leben
Hier grünt kein Blatt, kein Vogel ruft,
Und selbst der Pfad scheint hier zu beben,
So zwischen Wand und Todeskluft.“

Die äußere Deskription ist hier abgeschlossen. Jedes konventionelle Gedicht, das nur die äußere Einsamkeit zum Thema hat oder nur eine Todeskulisse poetisch darstellen will, würde hier abbrechen. Für den jungen Lenau aber wird die extreme Natur zum Ort des Leidens, zu der Stelle, wo der Melancholiker seine Schmerzen besser fatalistisch annehmen und bewältigen kann. Wenn Lenau in seinem – nicht nur für ihn richtungweisenden Lyrismus „An die Melancholie“ in der ersten Strophe verkündet:
„Du geleitest mich durch‘s Leben,
Sinnende Melancholie!
Mag mein Stern sich strahlend heben,
Mag er sinken - weichest nie!“

- weist er in der zweiten und dritten Strophe des Gedichts darauf hin, wo und wie die melancholische Heimsuchung überwunden werden kann – in der Einsamkeit einer schrecklich anmutenden, doch mitleidenden Natur der Bergwelt:
„Führst mich oft in Felsenklüfte,
Wo der Adler einsam haust,
Tannen ragen in die Lüfte
Und der Waldstrom donnernd braust

Meiner Todten dann gedenk‘ ich,
Wild hervor die Thräne bricht,
Und an deinen Busen senk ich
Mein umnachtet Angesicht.“[28]

5.10. Situation und Grenzsituation – präexistenzphilosophisches Gedankengut bei Lenau auf dem Weg zu Karl Jaspers. Exkurs.


Lenau aber geht noch einen Schritt weiter. Seine äußere Einsamkeit, die praktisch nur eine Gestimmtheit vermittelt, wird entsprechend funktionalisiert und ausgeweitet. Nun erst wird die eigentliche Idee des Gedichts, die Endlichkeitserfahrung des Individuums am Abgrund im Erleben der Grenze, exponiert:
„Komm, Gottesleugner, Gott zu fühlen;
Dein Frevel wird auf diesem Rand
Den Todesabgrund tiefer wühlen,
Dir steiler türmen diese Wand!“

Die auf ein Höheres hinweisende, ja die Existenz Gottes suggerierende Grenz-Erfahrung menschlicher Begrenztheit und Unzulänglichkeit, die der Dichter Lenau hier bewusst problematisiert, ist keine Fiktion, beruht auch nicht auf spekulativer Erkenntnis, sondern ist eine selbst gemachte, eine existenzielle Erfahrung, basierend auf einem konkreten Erlebnis in den hohen Bergen Österreichs.
Auf seiner ersten Reise nach Süddeutschland hatte der Dichter die Gelegenheit, während seines Aufenthalts in Gmunden am Traunsee den von dort aus gut erreichbaren, majestätischen Traunstein zu besteigen. In einem Schreiben ist dieses außerordentliche Erlebnis eindrucksvoll dokumentiert. Lenau berichtet: „Welche Aussicht! Ungeheure Abgründe in der Nähe, eine Riesenkette von Bergen in der Ferne und endlose Flächen. Das war einer der schönsten Tage meines Lebens; mit jedem Schritte bergan wuchs mir Freude und Mut. Ich war begeistert. (...) ganz oben trat ich hinaus auf den äußersten Rand eines senkrechten Abgrundes. (...) Die Minute, die ich auf jenem Rand stand, war die allerschönste meines Lebens. (...) Trotzig hinabschauen in die Schrecken eines bodenlosen Abgrundes und den Tod heraus greifen sehen bis an meine Zehen und stehn bleiben und so lange furchtbar erhabenen Natur ins Antlitz zu sehen, bis es sich erheitert, gleichsam erfreut über die Unbezwingbarkeit des Menschengeistes, bis es mir schön wird, das Schreckliche: Bruder, das ist das Höchste, was ich bis jetzt genossen, das ist ein süßer Vorgeschmack von den Freuden des Schlachtfeldes.“[29]Frappierend ist: Was Lenau bereits 1830 in dem kleinen Gedicht sowie in dem zitierten Brief phänomenologisch schildert, weist eindeutige Affinitäten zur modernen Existenzphilosophie auf, der existenzphilosophischen Auffassung von „Situation“ und „Grenzsituation“ entsprechend.
Nach Karl Jaspers ist das menschliche Dasein wesensmäßig ein Sein in der Situation. Der Mensch ist immer, nicht nur gelegentlich, einer Situation verhaftet: „Weil Dasein ein Sein in Situationen ist“, schreibt Jaspers, „kann ich niemals aus der Situation heraus, ohne in eine andere einzutreten.“[30] Das Individuum ist aufgefordert, die Situation, die es mit der Endlichkeit des menschlichen Daseins konfrontiert, zu durchleiden und damit zu überwinden. Lenau, das wird in „Herbstentschluß“ noch deutlicher, sieht und wertet diesen Aspekt ähnlich. Nun gibt es immer wieder Situationen im Dasein, wo der Mensch als endliches Wesen an seine Grenzen stößt. Situationen dieser Art umschreibt der Philosoph Jaspers aus existenzieller Sicht mit dem Ausdruck „Grenzsituationen“.
Grenzsituationen sind, das geht aus Jaspers Definition hervor, nicht exakt festzulegen; sie müssen umschrieben werden: „Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig. Sie sind nicht überschaubar; in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur an Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem andern erklären und ableiten zu können. Sie sind mit dem Dasein selbst.“[31]
Die Strukturanthropologie geht zurecht davon aus, dass es nicht nur eine bestimmte Anzahl typischer Grenzsituationen gibt, sondern dass „unendlich vieles, und für jede Existenz etwas anderes, zur Grenzsituation werden kann.“[32] Jaspers unterscheidet hingegen nur vier Grenzsituationen: den Kampf, den Tod, den Zufall und die Schuld. Erst im Erfahren einer Grenzsituation wird aus dem „Dasein“, dem naturhaften Vorhandensein des Menschen in seiner Umwelt, „ergriffenes Dasein“, Existenz. „Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe“[33], schreibt Jaspers. Der Mensch erreicht erst seine Eigentlichkeit in dieser Erfahrung: „Wir werden selbst, indem wir in die Grenzsituation offenen Auges eintreten.“[34]
Grundsätzlich hat Lenau, dessen Werk von präexistenzphilosophischem Gedankengut durchsetzt ist, die bei Jaspers theoretisch formulierten Erkenntnisse teilweise denkerisch antizipiert. Das kann bis in letzte Details nachvollzogen werden. Der gesamte Vorgang, das ist hier zu betonen, ist bei Lenau selbst erfahren. In seiner Darstellung der Grenzsituation in Brief und Gedicht wird das Ich Lenaus - in Konfrontation mit dem Nichts, mit dem Nicht-mehr-Sein - an den „Rand“ geführt; ein Weiterkommen ist nicht mehr möglich. Indem es mit der äußeren Grenze[35] konfrontiert wird, hinter welcher der „Abgrund“ klafft, wird ihm auch die innere Begrenztheit bewusst. Der Abgrund ist gleichbedeutend mit dem Scheitern, dem „Tod“.
Der Mensch wird im Verlauf seines Lebens mit zahlreichen Grenzsituationen konfrontiert. Wie reagiert er darauf? Oder kann er überhaupt reagieren? Lenaus Ich kann es – Dem „Schrecken des bodenlosen Abgrundes“ und dem bis zu den Zehen herauf greifenden Tod wird das Stehenbleiben und das Ins-Antlitz-Sehen, also das konsequente Ausharren, entgegengestellt. Dank der individuellen Autarkie meistert das Individuum die Konfrontation, diese bedrohliche Horror vacui-Situation als ein Hinausgehaltensein in das Nichts.
Bemerkenswert ist, dass diese existenzielle Erfahrung der Grenze, gleichrangig mit der - auch an anderer Stelle ersehnten - Kampf-Situation („Freuden des Schlachtfeldes“), als das „Höchste“ empfunden wird, was das Leben bisher an unmittelbarem Genuss bieten konnte. Das Dasein des zu sich selbst gekommenen Menschen wandelt sich zu ergriffenem Daseindie Existenz leuchtet auf.
Jaspers geht in seiner Definition davon aus, dass die Grenzsituation eine Wand sei, an der man scheitert. Wenn Jaspers Auffassung stimmt, dann muss man sich die Frage stellen, ob Lenau, der ausharrend die Herausforderung der Situation meistert, tatsächlich eine „Grenzsituation“ beschreibt. Ist die dargestellte Erfahrung existenzieller Bedrohung eine zum Scheitern determinierte Grenzsituation? Oder ist eine zu bewältigende Situation an der Grenze, ein „Normalfall des Daseins“[36], der überwunden werden kann und muss?
Lenau, der in der Regel mehrere Alternativen auslotet, beantwortet diese Frage partiell in seiner Faustdichtung. Bereits in der ersten Szene erscheint Faust als kühner Wanderer[37], der „zum Gipfel strebt“ in derselben Extremsituation. Doch dieses Mal
„wankt und weicht von seinem Tritt
Ein Stein und reißt ihn jach zum Abgrund mit.“[38]

Faust scheitert - jedoch nur für Augenblicke; Mephisto erscheint in letzter Sekunde als „Deus ex machina“ und rettet ihn doch noch. Das Scheitern aber, das Lenau hier an den Anfang stellt, ist symptomatisch für das endgültige Scheitern der Faustgestalt. Dieses Scheitern repräsentiert jedoch nicht, wie angenommen werden könnte, das allgemeine Scheitern des Menschen auf seinem Weg durch das Leben. In diesem speziellen Fall scheitert lediglich die von Hybris durchdrungene, das eigentliche Leben verkennende Negativgestalt, der Melancholiker Faust. Soweit dieser Exkurs.

5.11. „Einsamkeit“ als ontische Dimension - Menschliches Dasein ist nicht Gesellig-Sein – Mensch-Sein bedeutet ein Sein in Einsamkeit.

 

Um jenen elegischen Ton zu erzeugen, den man in der Weltliteratur seit Ovids Klageliedern vom Pontus kennt, hält Lenau auch in anderen Gedichten seiner frühen Schaffensperiode, die aufgrund ihrer philosophischen Irrelevanz hier nicht näher erörtert werden, an der Darstellung einer „äußeren Einsamkeit“ fest. Sie ist dort in der Regel nur Kulisse, ein Mittel zur Erzeugung traurig-elegischer Stimmungen und steht in der Tradition der Göttinger Hain-Dichtung, eines Wilhelm Müller und anderer Früh-Romantiker, wird aber von Lenau viel häufiger, variierter und modernistischer eingesetzt, als bis dahin bekannt. Der „Locus terribilis“ des Barock wird weitgehend beibehalten.

„Hohe Klippen, ringsgeschlossen,
Wenig kümmerliche Föhren“[39],

heißt es introduktiv in der Liebesklage „Asyl“. Auch in dem Liebeslied „Einsamkeit“ ist der Naturausschnitt vergleichbar:

„Wild verwachsne dunkle Fichten,
Leise klagt die Quelle fort;
Herz, das ist der rechte Ort
Für dein schmerzliches Verzichten!“[40]

Das lyrische Ich, der leidende Verliebte, findet in seiner Verzicht-Situation Trost in einer verwandt gestimmten Natur. Auch das ist typisch für die gesamte Zeit der Romantik. Lenau aber wird den bereits ausgeprägt elegischen Ton des - dank über Franz Schuberts Vertonungen auch heute noch präsenten - Wilhelm Müller in noch nie gekannter Weise intensivieren und zu einem neuen Klang formen, der originell ist und ihm seinen Stellenwert in der Geschichte der deutschen Lyrik unstreitig machen wird.
Die besten Beispiele dafür liefern die liedhaften Lyrismen aus dem frühen „Schilflieder“-Zyklus sowie die mehr als ein Jahrzehnt später entstandenen, dionysischen „Waldlieder“, die von elegisch gestimmten Einzel-Liedern durchsetzt sind. Nach Lenaus Auffassung, erschöpft sich Einsamkeit nicht darin, nur Mittel zur Darstellung einer übergeordneten Idee zu sein. Für ihn - wie für seine zahlreichen philosophischen Gewährsmänner - ist Einsamkeit eine Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins. Wie später im französischen Existentialismus genießt sie quasi ontische Qualität. Kurz ausgedrückt: Menschliches Dasein ist nicht Gesellig-Sein – Mensch-Sein bedeutet ein Sein in Einsamkeit.

5.12. „Einsame Klagen sinds, weiß keine von der andern“ - Monologische Existenz in dem existenzphilosophischen Gedicht „Täuschung“


„Einsamkeit! Mein stilles Weinen
Rinnt so heiß in deinen Schoos;
Doch du schweigst, und hast nicht einen
Seufzer für mein trübes Loos!“

Lenau, In der Krankheit, 2[41].

 

Diese gewichtige, auch durch Briefaussagen gestützte These entwickelt der österreichische Dichter in einem bedeutenden, in der Forschung jedoch kaum beachteten philosophischen Gedicht, in „Täuschung“.
Auch dieses Gedicht, das den existenziellen Dichtungen Lenaus zugerechnet werden darf, basiert auf einem konkreten Naturerlebnis. Während einer Wanderung durch die Alpen der Steiermark geriet der Poet in ein heftiges, ihn tief beeindruckendes Gewitter. Das seinerzeit gegebene Versprechen, er werde dieses originelle Naturschauspiel später einmal in einem Gedicht schildern, löste Lenau dann tatsächlich ein, typisch für ihn, erst zwei Jahre nach dem Erlebnis.

Der erste Teil der Dichtung entspricht genau den inhaltlichen Aussagen des Entwurfs: „Die Natur schien alle Schrecken zusammenzunehmen, um sich in ihrer würdigsten Gestalt zu zeigen. Die Blitze gossen sich wie Ströme auf die grauen Kalkfelsen herab. Der Donner, der Sturmwind, der sich in den Klippen wie in einer Riesentuba verfing und nicht brauste, sondern eigentlich klang, das Rauschen des Wassers, und das von Zeit zu Zeit ertönende Geschrei einer Eule, das alles drang die ganze Nacht auf mich ein und erhielt mich in der Spannung eines schauerlichen Entzückens.“[42] Die einander sich durchdringenden Stimmen des Windes, des Donners, des Regens, des Gießbachs und des Käuzchens vermittelten den Eindruck einer harmonischen Ordnung der Natur. So scheint es.

„Doch nein! Mich täuscht mein Sinn“[43].

Hier bricht drastisch Lenaus Korrektur ein. Erst hinter dem Schein offenbart sich das Wesenhafte der Natur, ihr eigentliches Sein – und mit ihm die Botschaft, die erst der Reflektierende erkennt, wenn er den Schein durchschaut – und die „Täuschung“ erkennt. Das Bild des harmonischen Zusammenklingens offenbart sich als Trug-Bild:

„Einsame Klagen sinds, weiß keine von der andern,
Wenn sie zusammen auch im wilden Chore wandern.“[44]

Letztendlich sind alle Individuen, hier repräsentiert durch die geschilderten Naturphänomene, einsam.
Sie alle stehen allein da in der Welt, sind nur auf sich selbst gestellt. Kommunikation ist schlechthin unmöglich. Der Unverstandene, der Einsame, der Melancholiker, das Ich in der Verzweiflung – sie alle bleiben letztendlich das, was sie sind. Lenau weiß davon, weil er das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, von allen verlassen dazustehen, als Mensch und Melancholiker tief erfahren und durchlitten hat. Obwohl er über Kunst und Poesie verwandte Seelen erreichen will, bleibt Lenau auch als Dichter konsequent: Mild elegisch, resignativ negiert er die - ihm vergeblich erscheinende - Kommunikation, den zwischenmenschlichen Austausch an sich. In der Regel wird es beim Versuch, den Nächsten zu erreichen, bleiben. Die wesentliche Botschaft, in „Täuschung“ ist es die absolute Einsamkeit als Vereinsamung und Verlassenheit, verbirgt sich auf dem Urgrund der Seele – Sie ist mehr emotionaler als rationaler Natur und muss tief erfühlt werden, bevor sie vom Verstand her begriffen wird. Letztendlich wird sie ungehört verhallen.

5.13. In „dunklen Monologen“ - „Jedes Geschöpf lebt sein Privatleben“ - Mitsein in existenzieller Gemeinschaft erscheint unmöglich


Lenau hat die Essenz der Natur-Erfahrung zur Existenz-Erfahrung umgeschmiedet und das höchst prägnant auf den Punkt gebracht. Der Versuch, konstruktiv miteinander zu kommunizieren, erschöpft sich in „dunklen Monologen“. Das „Gespräch“ an sich ist eine Illusion: Alles ist nur „Selbstgespräch“:

„Wenn alle Klagen einst in diesen Erdengründen,
Was jede heimlich meint einander sich verstünden:
Dann wäre ja zurück das Paradies gewonnen.“[45]

An diese Möglichkeit des sich Verstehens aber glaubt Lenau, selbst ein vielfach Unverstandener seiner Zeit und danach[46], längst nicht mehr. „Jedes Geschöpf lebt sein Privatleben“! Tieferes, eigentliches Verstehen ist unmöglich. Die Kluft zwischen den einzelnen zusammenstrebenden Individuen – das sieht Schopenhauer, wie weiter oben ausgeführt, ähnlich – ist eigentlich unüberbrückbar, weil eine, auch noch so geringe Dissonanz aufkommt, sich zwischen die Menschen, selbst zwischen die Liebenden, schiebt und so den harmonischen Zusammenklang der Seelen verhindert. Jeder bleibt letztendlich auf sich gestellt, auch in seinem Leiden und damit allein und einsam, gerade in Schlüssel-Situationen der Existenz, in Grenzsituationen, in Krisen, in der Krankheit und in der Stunde des individuellen oder anonymen Todes. Eigentliches Mitsein in existenzieller Gemeinschaft erscheint unmöglich:

Trotz allem Freundeswort, und Mitgefühlsgebärden,
Bleibt jeder tiefe Schmerz ein Eremit auf Erden.“[47]

Die sinnliche Wahrnehmung und naive Deutung der ersten Ebene des Scheins wird im zweiten Teil des Gedichts durch das Miteinbeziehen des intellektuellen Dahinter-Schauens vollkommen destruiert. Aus dem dialektischen Widerstreit von Schein und Sein erwächst schließlich die existenzielle Erkenntnis, dass jedes Individuum in seinem tiefsten und innersten Wesen unverstanden bleiben wird. Wer dies leugnet, der heuchelt, der macht sich etwas vor! Der nüchtern konstatierende Ton des Gedichts ist, frei von jeder Illusion, ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass ein Sein im Leiden - also der echte Schmerz - nicht durch irgendeine Trost versprechende, an sich aber den Nihilismus stimulierende Scheinphilosophie bewältigt werden kann: Einsamkeit und Schmerz müssen als existenzielle Gewissheiten anerkannt und ertragen werden. Insofern dies subjektiv von Fall zu Fall zu leisten ist - denn Einsamkeit kann auch, strukturanthropologisch gesehen, zur individuellen Grenzsituation werden. Das in die Einsamkeit zurückgeworfene Individuum kann die Situation zwar – wie in dieser Studie vielfach exemplifiziert - produktiv umsetzen, ja mystisch-orgiastisch verinnerlichen wie ein Nietzsche, der aus dem Sein in der Einsamkeit ein dionysisches Feiern macht. Der Einzelne kann aber auch in aufkommender Vereinsamung und Verzweiflung scheitern. Symptomatisch für viele authentische und fiktive Melancholiker wird Lenau seinen negativ konzipierten, melancholischen Helden Faust den Weg der Resignation gehen lassen:

„Wenn ich die Welt auch denken lerne,
So bleibt sie fremd doch meinem Kerne,
Im Einzelwesen kalt zertrümmert,
Wo keines sich des andern kümmert.“[48]

In diesen geradezu anti-phänomenologisch klingenden Versen steckt die radikalskeptische Aussage, dass das Wesen der Dinge, des Pudels Kern, nicht über das Denken und die Methoden der Philosophie erreicht werden kann. Der Urgrund, der eigentliche Kern oder das „selbsteste Selbst“, wie Lenau es an anderer Stelle einzigartig gesteigert auf den Punkt bringen wird, das was sich als existenzieller Schmerz offenbart, kann nur gefühlt werden. Mit dieser strikten existenzphilosophischen Feststellung geht Lenau noch über die an sich verwandte Haltung Schopenhauers hinaus. Während das irrationale Phänomen des Philosophen, der blinde Wille als eine Kategorie des Unbewussten noch in ein metaphysisches System gepresst und somit denkerisch gezähmt wird, fühlt der Dichter deutlich, dass die Wesenheit des Menschseins nur im existenziellen Schmerz offenbar wird.


5.14. „O Einsamkeit! Wie trink ich gerne / Aus deiner frischen Waldzisterne!“ Dionysisch „zelebrierte Einsamkeit“ im Spätwerk

„Einsamkeit

Soll ein großes Werk gelingen,
Muß uns Einsamkeit umfächeln,
Denn nur nach dem stillen Ringen
Kann uns die Vollendung lächeln.“

Eduard von Bauernfeld, (1802 -1890)
Poet aus dem Umfeld Lenaus in Wien, „Aus der Jugend“.


Mit der etwa 1838 einsetzenden, weltanschaulichen Neuorientierung des Dichters von der pessimistisch-nihilistischen Sichtweise weg und hin zu einer lebensoptimistisch dionysischen Weltauffassung, verändert sich konsequenterweise auch das Erleben von Alleinsein und Einsamkeit. An die Stelle der häufig thematisierten, negativen „Vereinsamung“ des Pessimisten und Skeptikers Lenau tritt nunmehr, geradezu programmatisch, das positive Phänomen „Einsamkeit“. Zahlreiche Briefstellen künden davon. Aber auch im Werk selbst sind viele Belegstellen zu finden, die eine geistige Neuorientierung des Dichters belegen. So erscheint, wie oben bereits angedeutet, beispielsweise das romantische Naturmotiv „Wald“ im Frühwerk Lenaus – in gezielter Absetzung von anderen Autoren der Romantik – noch als Locus terribilis, als Ort des Todes:

„Umsonst das Leben hier zu grünen sucht,
Erdrücket von des Todes Überwucht“[49].

In den späten Waldliedern hingegen ist die düstere Negativität längst überwunden. Die gleiche Erscheinung, das Werden und Vergehen in der Natur, diese eindrucksvolle Metamorphose alles Seienden, wird nunmehr vollkommen entgegengesetzt interpretiert. Der Dichter will nun nicht mehr dem Niederziehenden, dem Geist der Schwere das Wort reden. Er will das pulsierende Leben selbst wirken lassen. Derselbe Ort wird nunmehr als Quelle des Lebens dargestellt:

„Hier quillt die träumerische,
Urjugendliche Frische,
In ahndungsvoller Hülle
Die ganze Lebensfülle.“[50]

In der späten, unvollendet gebliebenen Don Juan-Dichtung, in Lenaus Hymnus auf das dionysische Leben, wird die „Einsamkeit des Waldes“ noch intensivierter umschrieben: „hier lebt des Lebens welche Fülle“[51]. Andere Motive erfahren eine vergleichbare, positiv gesteigerte Veränderung. Der „Waldlieder-“Zyklus, Lenaus letzter großer Wurf, ist das Resultat eines produktiven Aufgehens in der Einsamkeit: „So ein paar Stunden, in der Einsamkeit des Waldes verlebt, sind für ein in die Waldgeheimnisse eingeweihtes Herz von unermesslicher Wohltätigkeit“[52], notiert der Dichter fast beiläufig. In jener seligen Atmosphäre der Entspanntheit und des momentanen Glücks dürfte, gewissermaßen als Zufallsprodukt, Lenaus kürzestes Gedicht überhaupt entstanden sein. Gemeint ist eine kleine, doch viel sagende der Einsamkeit gewidmete Hommage:

„O Einsamkeit! Wie trink ich gerne
Aus deiner frischen Waldzisterne!“[53]

5.15. „Der einsame Trinker“ - Das dionysische Erleben der Einsamkeit im Fest


Zu großen Dithyramben auf die Einsamkeit, wie sie der Wahlverwandte  Nietzsches in „Die Sonne sinkt“ einige Jahrzehnte nach ihm vorlegen wird, sollte es bei Lenau nicht mehr kommen. In seinem Spätwerk fällt trotzdem ein Gedicht auf, welches den Ton und den Geist des dionysischen Lebensgefühls in sich trägt. Gemeint ist das Gedicht „Der einsame Trinker“.

Einsamkeit und dionysisches Leben erscheinen in diesem Gedicht nicht als natürliche Einheit, sondern vielmehr als entgegengesetzte Pole, in antithetischer Konfrontation. Die Kenner der Antike wissen es: Das Dionysische ist ein Phänomen des Einzelnen – und diese dionysische Existenz setzt Einsamkeit voraus. Um dieses Charakteristikum zu verdeutlichen, fragt der Dichter gleich am Anfang:
„Ach, wer möchte einsam trinken,
Ohne Rede, Rundgesang“[54].

Ist der Alleingelassene, der Einsame, der Ausgestoßene, der sich selbst Ausgrenzende - wie einführend suggeriert - in einer beklagenswerten Lage? Die hier exponierte „Einsamkeit“, die - aus konventioneller Sicht betrachtet, als defizitärer Zustand und somit als „Vereinsamung“ erscheint, wird eine scharfe Korrektur erfahren, indem der Denker im Lyriker dieser Position eine radikale Antwort entgegengesetzt - das „Ich“! Wer zieht sich zurück, um „allein“ zu feiern? Es ist das selbstbewusste, zu letzter Erkenntnis gekommene Ich, das sich selbst gefunden hat - und zwar im Medium Einsamkeit. Der auf sich selbst gestellte Einzelne, der in seiner Souveränität und Autarkie die Masse und Gesellschaft nicht mehr nötig hat, der sogar dem so genannten „Freund“ misstraut, beruft sich in seiner Apologie der Einsamkeit auf die ihm wesensgemäße Gottheit, auf Dionysos:

Dionys im Vaterarme
Mild den einzeln Mann empfing,
Der, gekränket von dem Schwarme,
Nach Eleusis opfern ging.“ [55]

Dionysos ist die Gottheit des Einzelnen und die Gottheit des im weiteren Verlauf der Dichtung akzentuierten Lebens.

„Ich trinke hier allein, (...) In stiller Nacht den Wein“[56], heißt es im zweiten Teil der Dichtung. Das hier eingeführte dionysische Element „Wein“, ein Lebenselixier der besonderen Art, welches, nach Lenaus Auffassung, das Individuum nicht etwa berauscht und verwirrt, sondern es auf „sich selbst stellt“[57], versetzt in dieser Dichtung - wie früher schon in Lenaus „Faust“ – den Einzelnen in seine Eigentlichkeit: Allein feiernd ist er im Selbst – er feiert sich, seine Freiheit, seine Unabhängigkeit. In Absetzung vom eigenen Schatten, der, hier ironisch „wesenloser Zecher“ genannt, als das sichtbar gewordene Selbst gedeutet werden kann, besinnt sich das feiernde, sich selbst erhöhende Ich auf das „lebendig Leben“. Selbstverständlich entspricht der hier exponierte Rausch jener - dem ekstatischen Lebensgefühl adäquaten - göttlichen Trunkenheit. Im Gegensatz zur unkontrollierten Berauschung, die eine Vernichtung des Selbst und das Scheitern zur Folge hat, ist dieses bewusste Feiern ein Stimulans des Lebens. Somit wird die Einsamkeit – als dionysische Einsamkeit – zum Fest.

5.16. „Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus“ - Der „Unbehauste“, ein „Fremdling ohne Ziel und Vaterland“



Wie eine trübe Wolke
Durch heitre Lüfte geht,
Wann in der Tanne Wipfel
Ein mattes Lüftchen weht

So zieh ich meine Straße
Dahin mit trägem Fuß.
Durch helles, frohes Leben,
Einsam und ohne Gruß.“[58] (…)

Wilhelm Müller, Die Winterreise

Das besondere philosophische Interesse Lenaus an dem Verhältnis Mensch-Welt, das die Faustdichtung kennzeichnet, ist bereits in der Lyrik der früheren Schaffensperiode, vor allem in der Einsamkeit-Dichtung, ausgeprägt. Im Mittelpunkt der zwischen 1831 und 1833 verfassten Originale „Herbstgefühl“, „Winternacht“ und „Herbstentschluß“ steht der einsame, seiner Umwelt ausgesetzte Wanderer. Das Charakteristische an dieser schon vor und während der Romantik weit verbreiteten Themenstellung ist die existenzielle Exponiertheit des Individuums, die bei Lenau in einer neuen philosophischen Dimension erscheint. Lenaus Wanderer-Konzeption unterscheidet sich radikal von der Wanderer-Gestaltung eines Erzromantikers, etwa Eichendorffs, in dessen „Reiselied“ geradezu programmatisch verkündet wird:

„So ruhig geh ich meinen Pfad,
So still ist mir zumut;
Es dünkt mir jeder Weg gerad
Und jedes Wetter gut. (...)

Und komm ich spät und komm ich früh
Ans Ziel, das mir gestellt:
Verlieren kann ich mich doch nie
O Gott, aus deiner Welt.“[59]

Diese Verse spiegeln die geordnete, durch nichts zu erschütternde Weltanschauung eines gläubigen Katholiken. Kosmische Disharmonie ist ihm fremd. Das lyrische Ich lebt im Gefühl der Geborgenheit positiver Einheit mit Gott und der Natur. Nicht etwa stoisches Gedankengut verankert es fest in der Welt, sondern der christliche Glaube und die Gewissheit, dass die göttliche Dreieinigkeit diese Welt als die beste aller Welten geschaffen hat. Der Einzelne ist Teil der Schöpfung und kann aus seiner kosmischen Einbettung – und somit aus der metaphysischen Sinnstruktur[60] – nicht hinausfallen. Lenaus Wanderer hingegen knüpft an die existenziellen Vorgaben Wilhelm Müllers an, speziell in der Form, wie er sie aus Franz Schuberts „Winterreise“ kennt:

„Fremd bin ich eingezogen
Fremd zieh ich wieder aus.“[61]

Der Unbehauste, der „Flüchtling“ Goethes in „Faust“, der „Fremdling ohne Ziel und Vaterland“, aus Lenaus „Faust“ und der zur Einsamkeit Verfluchte Nietzsches, der, trotz aller menschlichen und dämonischen Gesellschaft um ihn herum in alle Ewigkeit hinein ein Einsamer bleiben wird, scheinen in den zwei knappen Versen auf, gebündelt in einer melancholischen Figur. Diese auch von Lord Byron vorgezeichneten Aspekte sind richtungweisend für den schwermütig gestimmten, lange Jahre zum Pessimismus neigenden Spätromantiker Lenau. Er wird aus dem gelegentlich auftauchenden Klischee poetischer Vorläufer einen genuinen Typus formen, einen modernen, endgültig desillusionierten Einsamen, der von Gedicht zu Gedicht immer schärfere Konturen bekommt.

5.17. „Nun ist’s aus, wir müssen wandern!“ - In-der-Welt-Sein ist Einsamkeit


Das auch metaphysisch vereinsamte, von Gott und der Natur abgefallene Individuum, rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. In erstaunlicher Nähe zur späteren Existenzphilosophie in ihrer deutschen und französischen Ausprägung erscheint ihm die Welt als gottlose, sinnentleerte Welt, in ihrer ganzen Unheimlichkeit und Ungeborgenheit. Konkrete Natur verkörpert im Frühwerk Lenaus, stellvertretend für das Bild der Welt, oft feindselige Natur. Sie versagt dem Einzelnen nicht nur den Trost, sie zielt sogar auf Vernichtung:

„Mürrisch braust der Eichenwald,
Aller Himmel ist umzogen,
Und dem Wandrer, rau und kalt,
Kommt der Herbstwind nachgeflogen.“[62]

Dieses feindselige Umfeld, welches Lenau in den folgenden Natur-Dichtungen noch drastischer potenzieren wird, stellt sich in der letzten Strophe des Herbstliedes dem Wanderer entgegen und provoziert die Resignation. Die letzte Konsequenz ist jedoch nur angedeutet, direkt eingefordert wird sie nicht. Auch das ist ein Aspekt, der Lenau von dem einen radikalen Pessimismus verkündenden und fordernden Schopenhauer unterscheidet. Der später essentiell in den Worten „Lieblos und ohne Gott“ zusammengefasste Schmerz des In-der-Welt-Seins wird bei Lenau zwar bis in die Phase der Verzweiflung hinein verfolgt; In seiner Lyrik aber setzt Lenau, im Gegensatz zur Faustdichtung, nicht auf die Flucht des Individuums aus dem Leben in den Freitod, sondern auf die Überwindung der Verzweiflungssituation: Die Geworfenheit des Menschen in das Da muss erkannt, ertragen und bewältigt werden. Diese Position, die der existenziellen Haltung des „Görg“ in Lenaus „Faust“ entspricht, wird vom Dichter bereits Jahre vor dem Faustprojekt vertreten, speziell in dem hier näher zu analysierenden Gedicht:

„Herbstentschluß

Trübe Wolken, Herbstesluft,
Einsam wandl’ ich meine Straßen,
Welkes Laub, kein Vogel ruft –
Ach, wie stille! Wie verlassen!

Todeskühl der Winter naht;
Wo sind, Wälder, eure Wonnen?
Fluren, eurer vollen Saat
Goldne Wellen sind verronnen!

Es ist worden kühl und spät,
Nebel auf der Wiese weidet,
Durch die öden Haine weht
Heimweh; - alles flieht und scheidet.

Herz, vernimmst du diesen Klang
Von den felsentstürzten Bächen?
Zeit gewesen wär es lang,
Daß wir ernsthaft uns besprächen!

Herz, du hast dir selber oft
Wehgetan und hast es andern,
Weil du hast geliebt, gehofft;
Nun ist’s aus, wir müssen wandern!

Auf die Reise will ich fest
Ein dich schließen und verwahren,
Draußen mag ein linder West
Oder Sturm vorüberfahren;

Daß wir unseren letzten Gang
Schweigsam wandeln und alleine,
Daß auf unsern Grabeshang
Niemand als der Regen weine!“[63]

Es wurde bereits angedeutet, dass Lenau in seiner Lyrik mit strukturbildenden Motiven operiert. So sind beispielsweise all jene Dichtungen, in welchen das Wanderer-Motiv zur Gestaltung kommt, als eine offene Makrostruktur zu sehen, während jedes Einzelgedicht, das individuelle Züge aufweist, als Strukturelement aufzufassen ist. Das Hauptinteresse Lenaus konzentriert sich dabei primär auf eine möglichst weite Auslotung der Gesamtstruktur, aus der das problematisierte Phänomen ersichtlich wird. Eine - in werkimmanenter Interpretation sich aufdrängende - Verabsolutierung des Einzelgedichts als souveränes, einzigartiges Ganzes ist gefährlich, da das erörterte Phänomen, welches eigentlich nur eine Teilstruktur repräsentiert, auf diese Weise gravierend verzerrt werden kann. Die Folge davon wäre eine grundsätzliche Verkennung der Gesamtintention des Dichters bei der poetisch-philosophischen Gestaltung von Alleinexistenz, Einsamkeit, Vereinsamung und existenziellem Nihilismus.

Die Lieder „Herbstgefühl“ und „Herbstentschluß“, in deren Mittelpunkt die existenzielle Einsamkeit steht, mögen dies verdeutlichen. In beiden Dichtungen erscheint der einsame Wanderer in einer existenziell exponierten Situation. Doch die Gestimmtheit ist unterschiedlich, ja gegensätzlich:

An den Bäumen, welk und matt,
Schwebt des Laubes letzte Neige,
Niedertaumelt Blatt auf Blatt
Und verhüllt die Waldessteige; /

Immer dichter fällt es, will
Mir den Reisepfad verderben
Daß ich lieber halte still,
Gleich am Orte hier zu sterben.“[64]

Soweit die Ausführungen in „Herbstgefühl“. Das Erleben der Vergänglichkeit und der dadurch vermittelte absurde Lebenslauf stimulieren das Gefühl der Verzweiflung am Leben. Die feindselige, ja bedrohlich wirkende Natur konfrontiert das einsame Ich mit der Endlichkeit des menschlichen Daseins und motiviert ihn zur Lebensverneinung und Resignation. Statt sinnlos weiter zu leben, empfiehlt sich der frühe Tod. Das Gedicht endet in der - von Schopenhauer promulgierten, dafür aber von Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ umso schärfer zurückgewiesenen - pessimistischen Perspektive.[65]

In „Herbstentschluß“ hingegen herrscht eine vollkommen entgegengesetzte Gestimmtheit: An die Stelle des elegischen Klagetons tritt eine nüchtern konstatierende Diktion. Das lyrische Ich beklagt die Vorgänge in der Natur nicht mehr, es stellt sie lediglich fest. Dementsprechend erscheint das In-der-Welt-Sein nicht als determiniertes Ausgeliefertsein, sondern der souveräne Einsame ist sich seiner Freiheit, seiner Möglichkeit zum existenziellen Neuentwurf, voll bewusst. Die Natur, das führt Lenau in „Faust“ mehrfach aus, ist ein Neutrum, eine Größe, die an sich weder gut noch schlecht ist:

„ob die Natur
Dir freundlich scheint und wohlgewogen,
Ob feindlich grollend, beides nur
Hast du in sie hineingelogen“[66].

So belehrt der schlaue und zugleich weise Lebensphilosoph „Mephistopheles“ den zweifelnden Faust.
Das Ich des zweiten Herbstliedes teilt diese Erkenntnis. Der scheinbar negative Natureindruck, die Bilder der Vergänglichkeit, der Öde, der melancholischen Landschaft, dann der den Tod suggerierende Winter, die – metaphysisch ausgeweitete – Flucht des Lebens in die Geborgenheit, dies alles führt nicht in Resignation und Verzweiflung. Die einsetzende Reflexion, die in Nietzsches „Vereinsamt“ und im Doppelsonett „Einsamkeit“ ein existenziell verbittertes, negatives Weltbild entwickelt, kann hier die kontemplative Gestimmtheit nicht destruieren. Wie die Natur, die in ihrer konkreten Erscheinung akzeptiert wird, wird auch das Leben – als Teil der Natur – als solches, mit allen seinen Höhen und Tiefen, angenommen. Die gesamte Vergangenheit wird prägnant verdichtet:

„Herz, du hast dir selber oft
Wehgetan und hast es andern,
Weil du hast geliebt, gehofft“.

Das Leben, das Lust und Leiden zugleich ist, wurde im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten ausgeschöpft. Ein Punkt der Situation, des Lebens selbst, ist erreicht: „Nun ist’s aus“, lautet das momentane Fazit.
Doch noch in derselben Verszeile folgt, unmittelbar auf die durch das Komma markierte Zäsur, der den Nullpunkt überwindende existenzielle Neuentwurf, das in die Zukunft verlagerte: „wir müssen wandern“.

Das Wandern, das Ausharren in der Existenz, ganz egal wie sie geartet ist, das konsequente Weiterleben, wird zum Programm. Wie von Karl Jaspers betont, tritt das Individuum aus einer Situation heraus und in eine neue Situation ein. Das (Weiter-)Leben, das hier zur moralischen Pflicht erhoben wird, ist ein Sein in der Einsamkeit.

Lenau hat das treffend angedeutet. Das lyrische Ich, die verkörperte monologische Existenz, nur noch mit dem eigenen Herzen, also mit der Seele und dem Selbst im Gespräch, kommt aus der Einsamkeit und geht in die Einsamkeit zurück. Der „einsam“ seine „Straßen“ ziehende Wanderer zeigt die Entschlossenheit, den Rest der Wegstrecke, den „letzten Gang“ ohne Klage, „schweigsam“ und ohne Mithilfe und Mitleid anderer, „alleine“ gehen zu wollen. Mit der essentiellen Aussage, dass das auf das Selbst gestellte Sein in der Einsamkeit dem uneigentlichen Leben in der Gemeinschaft vorzuziehen sei, bekennt sich somit auch Lenau zu einer existenziellen Erkenntnis, die für die gesamte Einsamkeit-Tradition, von Seneca bis Nietzsche, bestimmend ist.

5.18. Lenaus melancholische Faust-Konzeption - „metaphysische Vereinsamung“.

5.18.1. Der „Unverstandene“, das ist der „Einsame“.


Der Gedanke, Faust als „Einsamen“ und „Unverstandenen“ zu gestalten, ist einerseits schon im Mythos vorgegeben. Bereits in der „Historia“ verkörpert Faust als genialer Renaissancemensch das große Individuum, den Wissenschaftler vom Format eines Leonardo da Vinci, der in vielen Bereichen gegen seine Zeit agiert, ja bewusst zu ihr in Opposition tritt, der Leichen seziert, sich gegen das ritualisierte, dekadent gewordene Christentum auflehnt und schließlich, um zu seinen Zwecken zu gelangen, sogar mit finstereren Mächten, mit dem Teufel paktiert. Andererseits akzentuiert bereits Goethe, Lenaus großes Vorbild, fast zweihundert Jahre nach Christopher Marlowes genialer Faust-Dichtung, dieses Charakteristikum, wenn er seinen Hauptprotagonisten klagend ausrufen lässt:

„Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehauste?“[67]

Indem Lenau, dem eigenen Wesen gemäß seine - zu höherer Erkenntnis strebende - Faustgestalt als sensiblen Schwermütigen, als Melancholiker konzipiert, knüpft er – wie andere, ungerecht als „Goethe-Hasser“ abgestempelte Lord Byron- Verehrer[68] auch – an dessen Manfred-Dichtung an.
 
Bild 11.

Faust-Denkmal in seiner Geburtsstadt Knittlingen, Detail.

In permanenter kritischer Auseinandersetzung und Abgrenzung folgt Lenau aber auch den konzeptionellen Vorgaben, die Goethe in seinen drei Faustdichtungen paradigmatisch umgesetzt hat.

Die zum Scheitern prädestinierte, von ihrem Schöpfer negativ stilisierte Gestalt wird konsequent dem Vereinsamungsprozess ausgesetzt, um nach langem Erkenntnisweg doch in der Verzweiflung zu enden.

Was macht das Scheitern des Menschen in der Welt aus? Ist der gute Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl bewusst? Und kann, wer redlich strebend sich bemüht, Erlösung finden, obwohl er sich auf seinem Weg der Erkenntnis mit Schuld befrachtet?

5.18.2. Endlichkeit und Ewigkeit


Lenau wird Goethe antworten – höchst individuell und originell zugleich.
In der ersten Szene, im „Morgengang“ erscheint Faust noch als selbstbewusster Geist, der, letzte Erkenntnisse suchend, kühn „zum Gipfel strebt.“
Doch bald stößt er an seine natürliche Grenze. Faust, in seiner Konfrontation mit dem Nichts und dem potenziellen Tod am Abgrund schon beim nächsten Schritt, wird durch das konkrete Erleben der Grenze in der Grenzsituation[69], die das endgültige Scheitern antizipiert, in die ihm unerträgliche Endlichkeit menschlichen Seins zurückgeworfen.

Die Erfahrung der Endlichkeit, der inneren wie der äußeren, unterscheidet die Existenzphilosophie ganz wesentlich von den romantisch-idealistischen Philosophien und von der Lebensphilosophie. Der Schmerz der Endlichkeit, den der Einzelne erlebt, wird in einem übergeordneten Rahmen aufgehoben. Die „Existenzphilosophie kennt die Endlichkeit als die schmerzlichste Erfahrung von der Wesensgrenze allen menschlichen Wollens und Könnens.“[70]
Lenau, der dieselbe, selbst gemachte Erfahrung in mehreren Dichtungen in direkter Absetzung zur harmonischen Einsamkeit-Dichtung Eichendorffs problematisiert, akzentuiert diesen existenzphilosophischen Aspekt in kaum gekannter Prägnanz in der Faustdichtung. Sein Faust droht an der inneren Endlichkeitserfahrung zu verzweifeln:

Mein innerst Wesen ist darauf gestellt,
In meiner ewigen Wurzel mich zu fassen;
Doch ist’s versagt und Sehnsucht wird zum Hassen,
Daß mich die Endlichkeit gefangen hält.[71]

Faust kann die das menschliche In-der-Welt-Sein näher bestimmende Endlichkeit, die Geworfenheit des Seienden in das Da-Sein nicht ertragen.

5. 18. 3. Die Geworfenheit des existenziellen Realisten „Görg“


Aus diesem Grund führt Lenau in der vorletzten Szene der Dichtung eine Kontrast-Gestalt ein, den weltanschaulichen Antipoden und de facto Existentialisten „Görg“.
Für diesen naturnah und antimetaphysisch ausgerichteten Charakter stellt die Geworfenheit des menschlichen Daseins, nämlich die auch bei Sartre hervorgehobene Tatsache, dass der „Mensch sich diesen Ort nicht hat aussuchen können, wie es seinen Wünschen und Neigungen entspricht, sondern dass er ihn einfach vorfindet und dadurch vom ersten Anfang an beengt und belastet wird“[72], überhaupt kein Problem dar.
Wie aus seinen schlichten, doch markant präzisen Ausführungen über das „Leben“ hervorgeht, identifiziert sich dieser Naturbursche mit der Situation, in die ihn - ungefragt - andere versetzen. Jean-Paul Sartre und auch Martin Heidegger können ihre späteren Ausführungen zur „Geworfenheit“ in das Da-Sein hier, in Lenaus oft verkannter Faust-Dichtung sinngemäß und fast wortgetreu vorfinden:

Sie haben mich stockfinstrer Nacht
In diese Welt hereingebracht,
Ich weiß kein Wort, auf welchen Wegen,
Ist just auch nichts daran gelegen.
Nun bin ich da, hab meinen Platz
Der ist gut genug, ist grade recht.“[73]

Was Faust zum Verzweifeln bringt, stellt für den rauen Burschen Görg kein Problem dar. Sein Wesen ist nicht auf Ewigkeit ausgerichtet, ihn hält auch keine Endlichkeit gefangen – und tiefere Erkenntnisse interessieren ihn einfach nicht. Also lebt er nicht diskrepant in der Welt, sondern versöhnt mit dem Zustand, der so ist, wie er eben ist.
Dieser, dem dekadenten Grübler Faust geradezu entgegengesetzte Charakter, ein an sich einfacher, gesunder Naturbursche aus dem Volk, der sich noch Fausts und Mephistos Wertschätzung erfreuen wird, lehnt alles Nichtkonkrete, Ungreifbare, ihm nicht Zugängliche grundsätzlich ab. Abstrakte Begriffe, metaphysische Gaukeleien und Spekulationen – und damit Gott und die Natur im Verständnis des deutschen Idealismus, etwa Schellings – sagen ihm nichts und bedeuten ihm auch nichts. Fiktion ist und bleibt Fiktion – eine Chimäre, die den Suchenden zum Zweifler macht, ihn existenziell zurückwirft und ihn letztendlich, wie einen Heinrich von Kleist, in die Verzweiflung treibt und dann, gleich Lenaus Faust, in den - den Melancholiker erlösenden - Freitod.

Soweit wird es bei „Görg“ nicht kommen. Sein Lebensbegriff umfasst nur das von existenziellen Gewissheiten bestimmte Dasein, das Leben selbst, so wie er es kennt - im Alltag als Seefahrer auf hoher See, in permanenter Gefahr und Grenzsituation zwischen Sein und Nichtsein oder wie er es in der Spelunke im Hafen inmitten derber Matrosen und Messerstecher erlebt.

5. 18. 4. Das Unbewusste als Antrieb - Die tragisch konzipierte Faust-Figur in Disharmonie mit dem Selbst und in der Uneigentlichkeit


Die im „Morgengang“ exponierte Einsamkeit entspricht durchaus noch traditionellen Vorstellungen. Die „äußere Einsamkeit“ und die „innere Einsamkeit“ des Individuums fallen in einer Situation zusammen, die das Streben zum Gipfel hin ermöglicht. Nur ist das selbstbewusste und manchmal auch selbstherrliche Renaissance-Individuum Faust kein genügsamer Stoiker, der sich – am Maß und am Weg der goldenen Mitte orientiert - der Begrenztheit der Natur und den Grenzen des Menschseins unterwirft; In seinem Drang und Streben gegen die Werte und Gesetzmäßigkeiten seiner Zeit, will er über alle Begrenzungen hinaus, um im Metaphysischen sein Selbst zu erfahren. Der - nur ihm wesensgemäße Drang – strebend zu letzter Erkenntnis zu gelangen, indem alte Tugenden wie Werte zerstört und dafür neue Werte geschaffen werden, treibt ihn dazu. Was dem Großen Individuum als natürlicher Akt erscheint, interpretiert die christlich konventionell ausgerichtete Gesellschaft als Sünde und Schuld. An dieser Stelle setzt die tragische Verstrickung ein: Obwohl der zu letzter Erkenntnis strebende Faust aufrichtig bemüht ist, nur er selbst zu sein, droht ihm – eben über dieses konsequente, von anderen als Hybris-Akt gewerteten Auswärts- und Weiterstreben letztendlich der Verlust des Selbst. Indem er seine, von höherer Warte aus, von Gott oder der Natur vorgegebene Bahn beschreitet, zerstört Faust sich selbst. Das macht ihn zur tragischen Figur.
Er muss agieren, weil er nicht anders kann. In dem Ausruf:

„Ich will mich immer als mich selber fühlen“[74],

ist das hehre Ziel markiert. Er wird es verfolgen, einerseits rational motiviert, teils aber auch triebbestimmt, vom Unbewussten angetrieben, als Medium eines blinden Weltwillens, der, nach Schopenhauers Auffassung, in einem undurchschaubaren Endzweck seine Erfüllung findet.

Faust, der Unbehauste, der Fremdling ohne Ziel und Vaterland, ein einsamer Unverstandener, eine tragische Figur, die frei zu agieren glaubt und doch unfrei ist - als Getriebener?
Wer bin ich eigentlich, fragt sich der Held! Noch aber verkörpert Faust den in Disharmonie mit dem Selbst, den in der Uneigentlichkeit lebenden Menschen. Dementsprechend negativ ist auch seine „Selbst“-Charakterisierung:

„In meinem Innern ist ein Heer von Kräften,
Unheimlich eigenmächtig, rastlos heiß,
Entbrannt zu tief geheimnisvoll’n Geschäften,
Von welchen all mein Geist nichts will und weiß.
So bin ich aus mir selbst hinausgesperrt“[75].

Die hier vorgestellte Ich-Problematik ist für die gesamte Faust-Konzeption von zentraler Bedeutung. Das faustische Ich, das hier im Sinne Fichtes gesetzt wird, ist eigentlich das Nicht-Ich. Dieses konkrete, empirische, historische Ich, das Ich der täglichen Erfahrung, das Kierkegaard in Absetzung von Fichte als eigenes Ich gelten lässt, weist Faust zurück, denn ein Ich, das von unbekannten Kräften gesteuert wird, das determiniert ist und damit keine Freiheit und kein Selbstsein ermöglicht, ist tatsächlich eine Ich-Negation, ein Nicht-Ich. Nach stoischer Auffassung setzt das Selbstsein das Ich voraus, das Ich setzt Freiheit voraus. Da Faust aber einen undurchschaubaren Determinismus spinozistischer Prägung statt Freiheit annimmt, müsste er das stoische Modell und damit die Realität eines konkreten Ichs und die Möglichkeit des Selbstseins leugnen. Doch Faust, der sich als Nicht-Ich setzt, ist sich seines Seins in der Uneigentlichkeit voll bewusst. Das Selbst-Sein, das - noch – nicht ist, an dessen Positivität er aber glaubt („Ich will mich immer als mich selber fühlen“) wird als Ziel angestrebt. Der Weg dahin besteht in dem selbstbefreienden Erkenntnisprozess, der letzte Wahrheiten ergründen und den lähmenden Determinismus durchbrechen soll. Faust aber scheitert, das ist die tragische Komponente der Dichtung, auf dem Weg. Er verbleibt im Dissens, im Dilemma. Dem tragischen Helden wird es nicht gelingen, die Nicht-Ich-Existenz zu überwinden und zum eigentlichen Selbst zu gelangen. Wie viele Menschen auf ihrem Lebensweg scheitert er vor dem Erreichen des erstrebten Endziels. Deshalb versucht Lenaus spekulativer Metaphysikus Faust in der Schluss-Szene, mit rhetorischer Akrobatik das Nicht-Ich in einem absoluten Ich aufzuheben, indem er postuliert:

„Faust ist nicht mein wahres Ich!“[76]

Das Ich jenes „Faust, der sich mit Forschen trieb“, also das konkrete, empirische Ich, so die unmittelbar nachgereichte Begründung seines Schöpfers Lenau, ist nur unwesenhafter „Schein“, reine Fiktion, kurz Täuschung als Selbsttäuschung:

„Zu schwarz und bang, als das ich wesenhaft
Bin ich ein Traum,
entflatternd deiner Haft“[77].

Das Ich der realen Erscheinung und Existenz nur ein Traum? Dagegen ist das „wahre Ich“ identisch mit Gott:

„Ich bin mit Gott festinniglich
Verbunden und seit immerdar,
Mit ihm derselbe ganz und gar.“[78]

Faust interpretiert und fabuliert sich in ein mystisches Aufgehen oder in ein pantheistisches Verschmelzen mit der Gottheit hinein. Das ist spekulative Metaphysik, die das philosophierende Individuum in die Lage versetzt, die Freiheit zu missbrauchen, um sich selbst im gerade errichteten Wolkenkuckucksheim ein bequemes, das schlechte Gewissen beruhigendes Plätzchen einzurichten, das ist Selbsttäuschung an den Realitäten der Welt vorbei in poetischer Form.

5.18.5. Gott ist tot - existenzielle Exponiertheit des metaphysisch Vereinsamten vor Nietzsche und Rilke


„Meine Sachen waren Kinder der Einsamkeit.“[79]
Goethe
Im Verlauf der tragisch ausgerichteten Faustdichtung Lenaus wird sein Protagonist und Anti-Held, der am eigenen Wesen scheitern wird, immer deutlicher zum Träger dessen, was man später das „Lebensgefühl der Existenzphilosophie“[80] genannt hat. „Das frühere, vor allem idealistische und romantische Vertrautheits- und Geborgenheitsgefühl des Menschen in seiner Welt zerbricht und die Welt erscheint dem Menschen in einer früher nicht gekannten Unheimlichkeit und Fremdheit, in einer Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit, die auf den Menschen einstürmt und der es standzuhalten gilt.“ [81] An die Stelle des Glaubens an die große natürliche Ordnung der Welt, an die Stelle der Vernunft in der Wirklichkeit und der Geschichte, treten Leere, Zweifel und Verzweiflung. Dem zunehmend einsamer werdenden, von Gott – und der Natur – abfallenden Faust bietet sich, repräsentativ für das nachkopernikanische, metaphysisch vereinsamte Individuum, eine unheimliche und bedrohliche Welt des Schreckens. Das „Leben“ in einer Zeit, in der Gott tot ist und jeder metaphysische Halt schwindet, wird zum:

Gang durch Wüsten in der Nacht,
Wo niemand, Antwort uns zu geben,
Als eine Horde Bestien wacht.

Die feindlichen Naturgewalten
Umdrohn den Wandrer ohne Bahn,
Aus tausend dunklen Hinterhalten
Lieblos und rastlos springend an.“[82]

Nicht erst der aufmerksame Leser Lenaus, Rilke, ist, wie oft aus Unkenntnis der Lenau-Materie angenommen wird, derjenige Dichter, der die existenzielle Exponiertheit des metaphysisch Vereinsamten in einer unwirtlichen, ungeborgenen Welt geistig-literarisch vermittelt und damit existenzphilosophisches Denken vorbereitet: Es ist - der im Philosophischen massiv verkannte - Lenau selbst, der diese Anstrengung unternimmt und dem deshalb Verdienst und späte Anerkennung zustehen.
Das geschieht umso deutlicher, weil Lenau in seiner Faustdichtung dieses Lebensgefühl von anderen Daseinsmodalitäten, von der naiv-christlichen Geborgenheit (Schmied/Nächtlicher Zug) und vom existenziell-atheistischen Realismus (Görg) absetzt. Mit der Unterzeichnung des Paktes, den Faust, nach langen Diskussionen mit Mephisto über Gott und Natur, unterzeichnet, beginnt der eigentliche metaphysische Vereinsamungsprozess.
Faust, aus dem Christentum kommend, löst sich endgültig vom Gott seiner Kindheit, von Christus am Kreuz. Die später sowohl in seinem „Savonarola“ und noch weitaus radikal-dramatischer in den freien Albigenser- Dichtungen vollzogene Distanzierung vom Christentum setzt bereits hier ein. Die metaphysische Bindung zur höheren Instanz bricht ab – ein metaphysischer Trost ist nicht mehr möglich. Also kann Mephistopheles, der Zersetzer aller spekulativen Chimären und eigentliche Befreier des Denkens, bald luzid seinen Plan offen legen, in dem er verkündet:

„Von Christus ist er los; noch hab ich nur
Zu lösen meinen Faust von der Natur.“[83]

Die Natur, darin geht Lenau über Goethe hinaus, repräsentiert den anderen, Gott ebenbürtigen, Rückhalt des Individuums. Deshalb muss auch dieses noch intakte Verhältnis, der „grade Stand“ „zwischen Faust und der Natur“[84] destruiert werden, um zur Freiheit und somit zum wesenhaften Selbst zu gelangen. Mephistos Vision ist vorgezeichnet:

„Ist mir der Bruch gelungen zwischen beiden,
Von jeder Friedensmacht ihn abzuschneiden,
Dann setzt er sich mit seinem Ich allein“[85].

Statt der Selbstheit, die jeder der positiven Einsamkeit zugeneigte Geist erlangen kann, droht Faust die hypertrophe Selbstsucht. Nach Mephistos Wunsch soll er, einem Skorpion gleich, in Verzweiflung „sein eignes Ich erstechen“[86].
In mehreren Szenen, die hier allein schon aus räumlichen Gründen nicht ausführlich erörtert werden können[87], wird der metaphysische Vereinsamungsprozess weiterentwickelt. Faust verstrickt sich, wenn auch zunächst unbewusst und durch Zufall, weiter in die Schuld. Die Diskrepanz zwischen ihm und der Natur wird immer krasser. Faust, nun auch „von der Natur geächtet und allein“[88] vereinsamt bald vollkommen.
Der Zustand der Vereinsamung, in verschiedenen Szenen, besonders aber in der Episode „Der nächtliche Zug“ deutlich heraus gearbeitet, wird als totale Verzweiflungssituation erlebt. Ein Ausweg aus dem Leidensprozess ist ausgeschlossen. Lediglich in einer Szene unternimmt der Dichter den - höchst interessanten - Versuch, die Vereinsamung durch das positive Erleben der natürlichen Einsamkeit aufzuheben. Eine Situation, wie sie der romantische Maler Caspar David Friedrich in seinem Gemälde einsamer „Mönch am Meer“ einfangen wird, konstruiert schon der Romantiker Lenau: Faust, den an einen „einsamen Meeresstrand“ versetzten Melancholiker und Grübler, überkommt eine tiefe Sehnsucht nach dem Ursprung, nach den Urtiefen des Seins:

„Ich will nun fort, hinaus ins Meer,
Das ist so einsam, wild und leer,
Das blüht nicht auf, das welkt nicht ab,
Ein ungeschmücktes, ewiges Grab.“[89]

Er fühlt das Bedürfnis, in einem Akt mystischer Vereinigung in der Einsamkeit aufzugehen.

Bild 12
Endlichkeit - Ewigkeit

Faust will der Endlichkeit des Seins entfliehen, um in der Unendlichkeit, in der Ewigkeit aufzugehen, also um sich auf diese Weise teils rational, teil intuitiv unbewusst selbst befreien. An dieser Stelle erstrebter Transzendenz aber interveniert der Teufel: Da Mephistopheles, der Deus ex Machina, der den Negativ-Helden und metaphysischen Schwächling bereits früher vor dem Scheitern am Abgrund bewahrte, Fausts Selbstrettungsversuch in das Ewige, also den unmittelbaren Sprung zu Gott, wie ihn Kierkegaard versteht, durchaus für realisierbar hält, unternimmt er alles, um diese Flucht, die eine endgültige Rettung Fausts aus den Beschränkungen und Begrenzungen des Daseins bedeuten würde, zu vereiteln.
Immer wieder in das Leid zurückgeworfen. erreicht die metaphysische Vereinsamung des Helden schließlich in der letzten Szene der tragischen Dichtung ihren absoluten Höhepunkt: „Fausts Tod“ steht bevor – in einsamster Kulisse, nicht wie Walter von der Vogelweide melancholisch auf einem Stein, dafür aber auf einem Fels in der Brandung sitzend, verzehrt sich Faust im Klagen und Anklagen gleich dem ähnlich vereinsamten Ovid am Pontus:

„Auf diesem Fels, in Sturmesmitten,
Werd ich’s entsetzlich nun gewahr,
Wie ich der Lieb und Heimat bar,
So ganz allein und abgeschnitten.
Die Welle, die der Sturm bewegt,
Die schäumend an die Klippe schlägt,
Der Wind, der heulend Wälder splittert,
Der Blitz, der durch den Himmel zittert, -
Mehr Heimat haben sie und Ruh,
Mein einsam Herz, als du!“[90]

Faust unternimmt in dieser absoluten Vereinsamungssituation den bereits angesprochenen Rettungsversuch:

„Doch – ist das alles nicht ein trüber Schein?
Und dass ich abgeschnitten und allein?
So ists!“[91]

Faust versucht – in starker Affinität zu Schopenhauers Metaphysik – die Welt umzudeuten. Alles dem Individuationsprinzip Unterworfene, das faustische Ich, die moralischen Kategorien, der Pakt, der Teufel selbst, das alles ist nur „Schein“!
Über allem in der Welt Seienden liegt der Schleier der Maya. Dagegen ist alles Wesenhafte und damit auch das absolute Ich im Gegensatz zum faustischen Nicht-Ich identisch mit Gott. Lenau selbst destruiert diese sublime Lösung seines spekulativen Idealisten, indem er den realistischen Hinweis („Er ersticht sich“) hinzufügt. Erst dann erscheint Mephistopheles. Ihm, dem verkörperten antispekulativen Prinzip, dem Repräsentanten des Existenziell-Reellen, bleibt es vorbehalten, in einem Schlusswort Fausts Schein-Flucht ins Absolute als nihilistischen Akt zu entlarven:

„Nicht Du und Ich und unsere Verkettung,
Nur deine Flucht ist Traum und deine Rettung!“[92]

Faust ist gescheitert. Faust ist am Leben gescheitert. Faust ist am eigenen Sein gescheitert, tragisch gescheitert in Vereinsamung. Doch das ist nur die konventionelle Sicht der Gesellschaft. Von eigener Warte aus betrachtet hat Faust, der nicht länger in innerer Diskrepanz, in Zerrissenheit, Ungewissheit und Dauerfrustration leidend weiter existieren will, von seiner Freiheit Gebrauch gemacht, um freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Lenaus Faust beendet das unbefriedigende Sein im irdischen Jammertal, indem er aktiv handelnd das Leben beendet.
Das, was die konditionierten, alten Wertvorstellungen nachhängende Welt als nihilistischen Akt werten wird, ist für Faust nichts weiter als die konkrete Umsetzung absoluter Freiheit. Der Perspektivist Nietzsche, ein Querdenker, der Lenaus Werke recht genau gelesen[93] hat, wird diesem Gestus in dem „Also sprach Zarathustra“-Kapitel „Vom freien Tode[94]beipflichten, ohne das Werk zu nennen, indem er betont: „Stirb zur rechten Zeit“, um dann noch deutlicher zu werden: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.“

5.19. Im dunklen Auge[95] – ein „sehr ernster, melancholischer Knabe“, „hochgradig zur Melancholie disponiert“  und hinab gestoßen in die „Hohlwege der Melancholie“: „Mein Kern ist schwarz, er ist Verzweiflung.“ – Melancholie-Symptomatik und Definitionen der Krankheit bei Lenau


An den Tod

Wenn’s mir einst im Herzen modert,
Wenn der Dichtkunst kühne Flammen,
Und der Liebe Brand verlodert,
Tod, dann brich den Leib zusammen!

Brich ihn schnell, nicht langsam wühle;
Deinen Sänger laß entschweben,
Düngen nicht das Feld dem Leben
Mit der Asche der Gefühle.“[96]

Lenau


Jene Krankheit, die in der Antike und Renaissance als Melancholie, in der Romantik als Schwermut und in neuster Zeit als Depression bezeichnet wird, ist ein irrationales Phänomen, das sich weitgehend der bewussten Durchdringung, der Erhellung und somit der genauen Definition entzieht.
Das Erlebnis der Melancholie ist mit normalpsychologischen Kategorien nicht streng erfassbar. Gestützt auf die unverzichtbaren Zeugnisse des Melancholie-Kranken, etwa Lenaus, der, anders als andere, zum Schweigen und Leiden verdammte Melancholiker, seine Erlebnisse sprachlich dokumentieren kann, ist diese Situation bestenfalls zu umschreiben. Dabei lassen sich einige Grundsymptome des der Melancholie ausgesetzten Kranken, also des Depressiven, festhalten. Während Gefühle wie Freude oder Trauer intentional, also objektbezogen, sind, kennt die Melancholie keinen auslösenden Grund. Lenau, dessen jahrelang sich hinziehender Verbalisierungsprozess dokumentiert ist, akzentuiert gerade dieses Detail: „Von früher Jugend an konnte ich höchst unglücklich sein ohne alle Ursache.“[97] Der Kranke, ein Opfer der Melancholie, wird in diese Lage versetzt, in der er ohnmächtig verharren muss, ohne sich wehren, ohne aktiv dagegen ankämpfen zu können.
Wie die existenzphilosophisch definierte Angst im Gegensatz zur gerichteten Furcht erscheint auch die Melancholie aus dem Nichts und verfliegt in das Nichts. Ihre Präsenz, die Konfrontation mit dem Nichts, ist ein Seinszustand im Leiden. Ungeachtet des gestörten Bewusstseins, das den Melancholiker kennzeichnet, wird dieser Zustand als maßloser Schmerz empfunden. Der medizinisch vorgebildete und im strengen Denken geschulte Dichter Lenau umschreibt diese höchst unangenehme, niederziehende, alles lähmende Erfahrung, mit den Worten: „Mir wird oft so schwer, als ob ich einen Toten in mir herumtrüge.[98]
An anderer Stelle bringt der Poet und Mediziner das Wesen des Phänomens noch eindeutiger auf den Punkt, wenn er resigniert feststellt: „Mein Kern ist schwarz, er ist Verzweiflung.“[99] Der aus den Untiefen einer unbekannten Hölle aufsteigende Geist der Schwere und das Nichts, dem der „Schwermütige“, der an Melancholie Erkrankte hilflos ausgesetzt ist, stellen also keine kühne Erfindungen der Dichter dar, sondern sie sind existenzielle Realitäten, die von gewissen Menschen in ihrer vollen Brisanz erlebt werden. Die so genannte „Depersonalisation“ein Terminus neuster Zeit verweist auf einen besonders schweren Fall von Melancholie.

Der – modern gesprochen – endogen Depressive, der Melancholie-Kranke, erhebt sich über das eigene Ich und kann dessen Situation von einem übergeordneten Fixpunkt aus ohnmächtig mitverfolgen. Auch diese selbst gemachte Erfahrung schildert Lenau sehr genau: „Diese Nacht wachte der alte Hypochonder[100] mit all seiner Gewalt in mir auf. Ich glaubte in mich hineinsehen zu können. Es lag wie eine steinerne Sphinx in mir. Mein Kern ist schwarz, er ist Verzweiflung.“[101]

Im melancholischen Zustand durchlebt der „Seelenkranke“, dessen Gefühlsleben Lenau noch in manchem Gedicht[102] in sublimer Form darstellen wird, ein sehr spezifisches Zeitgefühl: Die Relation Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft ist gestört. Die gegenwärtige Zeit verrinnt unaufhörlich, was zu innerer Unruhe und Angst führt.
Die Vergangenheit, die in der Regel mit Verlusterscheinungen, mit Sünde und Schuld verknüpft ist, erscheint dem an Schwermut Leidenden immer bedrohender - und eine Zukunft ist dem Melancholiker vollkommen versperrt. Er leidet an einer Ohnmacht, an einer „Werdenshemmung“, die jede in die Zukunft gerichtete, befreiende Entfaltung unterbindet. Der Kranke kann, was in Lenaus Doppelsonett „Einsamkeit“ recht deutlich hervor scheint, nicht mehr hoffen. Da das subjektive Zeiterleben stagniert und Verschuldetes nicht mehr aufgehoben werden kann, führt dieses ohnmächtige Erleben der Schuld, charakteristisch für Lenau und Kierkegaard, zu extremen Leiden und Verzweiflung.

Weil Lenau sich als Geist und Arzt der Krankheit stellte und aktiv ihre Überwindung betrieb, hat er seine kritischen Auseinandersetzungen mit der Melancholie-Thematik geradezu wissenschaftlich-analytisch dokumentiert. Im Gegensatz zu anderen Dichtern und Denkern der Romantik, die mit der Melancholie spielen, ist Lenaus Melancholie keine Pose. Sie ist nicht aufgesetzt, inszeniert; nein, sie ist immer echt und schmerzhaft.
In zahlreichen Briefen und Gesprächen bekennt sich der Dichter unverblümt nüchtern zur eigenen „Krankheit“[103]. Nach seinen Worten war er ein „sehr ernster, melancholischer Knabe“,[104] „hochgradig zur Melancholie disponiert[105] und hinab gestoßen in die „Hohlwege der Melancholie[106].

Immer wieder verweist der Dichter auf typische Symptome seiner Hypochondrie oder beschreibt mit den gängigen Fachbegriffen des frühen 19. Jahrhunderts eine Reihe heute recht geläufiger Krankheitserscheinungen wie Gehemmtheit, Verschuldungs- und Versündungswahn, Phänomene, die er bei sich selbst, aber auch im vertrauten Umfeld – etwa bei dem Wahlverwandten und weinerlichen Melancholiker Justinus Kerner in Weinsberg - beobachten kann. Da Lenau recht zart und euphemistisch vorgeht, wenn er die Innenwelt des leidenden Melancholikers erörtert, wurde das, was er aussagt, einfach nicht begriffen. Verkannt wurde, neben Lenaus Hymnus an die Nacht „Bitte“, vor allem das an sich sehr aussagekräftige Sonett: „Der Seelenkranke“, ein besonderes Gedicht, in welchem der oft mit melancholischen Heimsuchungen übelster Art konfrontierte Poet die Symptome der Krankheit sublim einfängt.

Ich trag‘ im Herzen eine tiefe Wunde
Und will sie stumm bis an mein Ende tragen;
Ich fühl‘ ihr rastlos immer tiefres Nagen,
Und wie das Leben bricht von Stund zu Stunde.

Nur Eine weiß ich, der ich meine Kunde
Vertrauen möchte und ihr Alles sagen;
Könnt‘ ich an ihrem Halse schluchzen, klagen!
Die Eine aber liegt verscharrt im Grunde.

O Mutter, komm, laß dich mein Flehn bewegen!
Wenn deine Liebe noch im Tode wacht,
Und wenn du darfst, wie einst, dein Kind noch pflegen,

So laß mich bald aus diesem Leben scheiden,
Ich sehne mich nach einer stillen Nacht
O hilf dem Schmerz dein müdes Kind entkleiden!“[107]

Man hat dieses gewichtige Sonett, ohne von der Melancholie zu wissen, als eine Art Mutter-Gedicht, als ein nachweinendes Lamento abgetan, ohne zu begreifen, was der im maximalen Leid ausharrende Melancholiker zu verkünden hat. Er, der Seelenkranke, der im Herzen, am Sitz der Seele, eine tiefe Dauerwunde aufweist, jene Melancholie als Fatum, die er ergeben annimmt, kann nicht mehr; er will nicht mehr länger im Jammertal weiter leiden müssen. Er will endlich hinüber schreiten, in die Erlösung, in den vom Schmerz befreienden Tod.

Eine autodynamische Todessehnsucht, die Lenau, der Wissende und tief Mitfühlende, auch an anderer Stelle schlicht, doch zugleich großartig in Lyrik umsetzen wird[108], ergreift ihn endgültig. Die eigene Mutter, die dem Betroffenen nicht nur keinen Trost spenden kann, weil sie tot ist, sondern weil der leidende Melancholiker überhaupt nicht zu trösten ist, repräsentiert eine letzte, illusionäre Instanz, die der Unverstandene in Leid und Verzweiflung anruft, um überhaupt noch zu handeln, um das Negativ-Phänomen verbalisierend zu bewältigen, doch in Resignation:

„So laß mich bald aus diesem Leben scheiden,
Ich sehne mich nach einer stillen Nacht“.

Tief ist es gefühlt – Melancholie ist Schicksal, ein tragisches Fatum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ferner, doch in anderem Kontext, schwingt sich Lenau aber auch zum Apologeten der Melancholie auf. Antik gebildet erkennt er in ihr gar einen Grundzug der Menschheit[109].

5.20. „Lieblos und ohne Gott! Der Weg ist schaurig“ – „Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.“ „Melancholie“ und „absolute Vereinsamung“ in Lenaus Doppelsonett „Einsamkeit


Weitaus bedeutender als Reflexionen zur Thematik Einsamkeit in Briefen und Notizen, die zwar konkrete Bewältigungsformen darstellen, aber eher zufällig und aus einer Stimmung heraus aufs Papier fließen, ist die poetisch-denkerische Umsetzung der Materie im bewusst angegangenen Gedicht.
Im Gegensatz zum schließlich überwundenen Pessimismus, wird Lenaus Auseinandersetzung mit der Melancholie zeit seines Lebens anhalten. Bevor der Dichter physisch zerbricht und im Wahn endet, wird dieser gewaltige Verbalisierungsprozess sich vor allem in der Lyrik der frühen wie mittleren Schaffensperiode niederschlagen und dort in zahlreichen Formen, Facetten und Nuancen eindeutige Spuren hinterlassen.
Ihren Kulminationspunkt findet Lenaus Melancholie-Problematisierung in einem repräsentativen, höchst markanten Doppel-Sonett, das der Dichter schlicht mit „Einsamkeit“ überschreibt. Der „Chopin deutscher Lyrik“, wie ihn Stefan Zweig in der Vorrede zu Vincenzo Errantes Lenau-Monographie einmal genannt hat, wird, in strenge Form gefasst, kein formal eingehendes, kein geschmeidiges Gedicht vorlegen, etwa in der Art, wie man sie in seinen Schilf- und Waldliedern sowie in den anderen Sonetten vorfindet, sondern eine, auf den ersten Blick eher etwas holprig anmutende Kreation, die dafür an Modernität weit über ihre Zeit hinausreicht und gerade deshalb die sensiblen Sinne melancholischer Nachfahren erreichen wird. Thema und Gestimmtheit determinieren die Diktion der Sonette.

„Einsamkeit

I.
Hast du schon je dich ganz allein gefunden,
Lieblos und ohne Gott auf einer Heide,
Die Wunden schnöden Mißgeschicks verbunden
Mit stolzer Stille, zornig dumpfem Leide?

War jede frohe Hoffnung dir entschwunden,
Wie einem Jäger an der Bergesscheide
Stirbt das Gebell von den verlornen Hunden,
Wie‘s Vöglein zieht, daß es den Winter meide?

Warst du auf einer Heide so allein,
So weißt du auch, wie‘s einen dann bezwingt,
Daß er umarmend stützt an einen Stein;

Daß er, von seiner Einsamkeit erschreckt,
Entsetzt empor vom starren Felsen springt
Und bang dem Winde nach die Arme streckt.“[110]

Der schwermütige Dichter bringt das Melancholie-Phänomen auf den Punkt, indem er die nur dem Melancholiker zugängliche und nur von ihm erfahrbare Melancholie-Situation nachträglich reflektiert, um in verdichteter Bild-Sprache die wesentlichen Elemente des Melancholie-Komplexes analytisch zu objektivieren. Diese Objektivierung erfolgt über einen unmittelbaren Appell an das „Du“, indem gefragt wird, ob das subjektive Fühlen des lyrischen Ich auch von dem - psychisch und stimmungsmäßig anders gearteten - Gegenüber mitgefühlt und nachempfunden werden kann:

„Hast du schon je dich ganz allein gefunden“ -

Jeder war in seinem Leben schon einmal allein, ohne Begleitung, allein in einer misslichen Lage, eine Weile allein. Das ist normal und gehört zum Leben. Doch wer war wirklich „ganz allein“ – verlassen, vereinsamt, ohne Perspektive? Danach fragt der Dichter des 19. Jahrhunderts, zehn Jahre vor dem Ausbruch der Revolution von 1848 inmitten einer Welt des Biedermeier, die auch gesellschafts- und gottgeborgene Dichter wie einen Eduard Mörike hervorgebracht hat! Lenau wird mit dem zweiten Atemzug dann auch gleich erläutern, wer tatsächlich seinen Existenz-Zustand mit „ganz allein“, umschreiben darf, indem er ergänzend hinzufügt:

„Lieblos und ohne Gott auf einer Heide“.

„Lieblos“ existiert derjenige, der keine Liebe erfährt, keine Nächstenliebe, der keine Geliebte um sich hat, keine mit fühlende, mit leidende Seele, der ohne jede Liebe auskommen muss, obwohl er selbst bereit ist, Liebe zu geben, zu lieben.
Der Zusatz „ohne Gott“ erhebt die hier exponierte Situation extremer Vereinsamung ins Metaphysische, ins Religiöse. Wer - als letzte Gewissheit Suchender und somit auch als Gottsuchender – trotzdem ohne Gott, ohne metaphysische Bindung, ohne übernatürlichen Rückhalt und ohne himmlischen Beistand oder Trost auskommen muss, jener Mensch ist in der Tat „ganz allein“ und zugleich verlassen, schlimmer noch als Jesus am Kreuz auf Golgatha, denn Gottes Sohn in Menschengestalt hat noch den Vater im Himmel, dessen Wille sich gerade vollzieht.

Ein Existieren „ohne Gott“ ist nur dem Atheisten möglich, der Gott a priori leugnet, der die Idee Gottes ebenso zurückweist wie dessen tatsächliche Existenz und alle so genannten Gottesbeweise noch dazu. Ein christlicher Mensch aber, der wie Lenau, Lenaus Faust oder Nietzsche – geistig-emotional aus dem Christentum herstammend – seinen Gott auf dem Erkenntnisweg eingebüßt hat, der wird den Verlust Gottes und somit den metaphysischen Hintergrund, der Trost ermöglicht, als großen, echten, schmerzvollen Verlust auffassen. Er wird darunter leiden, ohne Gott leben zu müssen; und dieser permanente Schmerz einer an sich absurden Existenz ohne jede metaphysische Einbindung, ohne eine dem profanen Leben übergeordnete Sinn-Struktur, wird den Leidenden zur „Verzweiflung“ bringen, ihn gar in den Tod treiben.

Nietzsche, der genau weiß und mitfühlt, was Lenau hier in zwei Verszeilen auf den Punkt bringt, nämlich die existenzielle Verzweiflung des gottlos existierenden, modernen Menschen in einer anonymen, kalten, ungeborgenen Gesellschaft, wird diese Gottverlassenheit in seinem „Vereinsamt“ ähnlich markant umschreiben:

„Wer das verlor, was Du verlorst, macht nirgends Halt!“[111]

Diesen „Gott“, den der von Gott abgefallene, christlich erzogene Katholik Lenau noch namentlich nennt, ohne explizit „Christus“ zu sagen, diesen Gott der Kindheit, den verschweigt der Protestant und Radikal-Aufklärer Nietzsche ganz bewusst. Für beide steht jedoch fest, dass sie mit dem - wie auch immer definierten - Gott einen Wert an sich verloren haben, einen existenzbestimmenden Wert!
Beide Dichter werden das Sein in der Vereinsamung, teils auch den Weg in diese Ausnahme-Situation, mit großartigen Bildern einfangen, Bilder, die die Welt und die Perspektive und den erlebten Schmerz des an Melancholie Erkrankten nach außen vermitteln.
Nietzsche schickt sein vereinsamtes Individuum, seinen unbehausten Philosophen vor dem Wintereinbruch[112] hinaus in die Welt, um seine existenzielle Exponiertheit, sein Sein in der Grenzsituation heraus zu streichen, ähnlich wie es Lenau bereits in „Winternacht“ andeutet, um dasselbe Phänomen dann weitaus plastischer und differenzierter in „Die nächtliche Fahrt“ zu entwickeln.
Hier, im Doppelsonett, versetzt er den Einsamen auf eine „Heide, nachdem er bereits drei Jahre zuvor seinen gescheiterten „Faust“ auf einen „Fels in Sturmesmitten“ im Meer versetzt hatte, um ihn dort – absolut vereinsamt, doch frei – in den Freitod zu schicken.
Weshalb wählt Lenau das Bild der „Heide“ und nicht erneut den Stein – wie einst Walter von der Vogelweide oder das einsame, stille Meer wie vorher in „Faust“? Eben weil seine in früher Kindheit erlebte „Heide“, die ungarische „Puszta“, auch ein wüster Ort ist, ein Ort elementarer Einsamkeit, ein Ort der drohenden Vereinsamung, ein Unort, ohne gewaltige Natur, ohne Inspiration, ohne Trost. In jener weiten Landschaft mit verschwimmendem, die Unendlichkeit suggerierendem Horizont, einem ewig blauen Himmel, drückender Sonnenhitze mit Nunc stans und verzweiflungsvoller Stille, erwachte die Melancholie des jungen Knaben Nikolaus Niembsch zum ersten Mal – Und sie blieb prägend für das weitere Leben. Dem leblosen, starren Stein aber wird in diesem Doppelsonett eine andere Symbolfunktion zugedacht werden.

Was seine „Melancholie“ ausmacht, schildert der Lyriker – ergänzend zu den prägnanten Briefaussagen, die die Wesenheit seiner Geisteskrankheit bezeichnen – „Mein Kern ist schwarz, er ist Verzweiflung“ – indem die individuelle Leidens-Situation - in Schlüsselbegriffe gepresst - fast euphemistisch umschrieben wird: Die gesamte Vergangenheit erscheint – ungeachtet aller Freuden und Erfolge – als ein einziges, anhaltendes „Missgeschick“, das dem Individuum, dem Seelenkranken, schwere „Wunden“ zugefügt hat. Dem imdumpfem Leide“ Gefangenen bleibt nichts weiter übrig, als die Schmerzen, die ihm das bisherige Leben beschert hat, fatalistisch hinzunehmen, die unglückliche Kindheit ebenso wie die unerfüllte Liebe, und alles im stillen Trotz zu ertragen.
Aus dieser, nur bestimmten Individuen vorbehaltenen Ausnahme-Situation extremer Vereinsamung im Erleiden, in welcher die „absolute Einsamkeit“ zur Grenze wird, gibt es kein Entrinnen: Das Opfer der melancholischen Heimsuchung muss sich ihr stellen. Es erlebt und durchlebt diese Grenzsituation im maximalen Leiden, in einem Prozess, in welchem Einsamkeit, Angst und Verzweiflung zusammenfallen - im Ausharren.

Die Fachwelt weiß es: Der Melancholiker kann nicht hoffen. Er kennt keine Zukunft, sie ist ihm verbaut. Lange bevor die Wissenschaft das feststellte, bringt Lenau auch diesen Aspekt auf den Punkt: Jede frohe Hoffnung ist entschwunden, jetzt und für immer, wie der Klang des Hundegebells, das sich im Nichts auflöst, wie die Flucht des Vogels vor winterlicher Kälte und der Tod ungewiss bleibt wie die mögliche Rückkehr.
In seinem Melancholie-Erlebnis in todbringender Heide-Landschaft zielt Lenau auf die Absolutheit des Einsamkeit-Erlebnisses. Wer dieser totalen Vereinsamung ausgesetzt ist, ist nicht nur „allein“ – Der Einzelne ist „so“ - (von Lenau hervorgehoben) - allein. Er ist so allein“ – wie kein anderer. Hinter dieser letzten Einsamkeit lauert nur noch das Nichts, die Trostlosigkeit, die nackte Verzweiflung - „jede“ frohe Hoffnung ist entschwunden, endgültig!

Wie reagiert ein von Gott, Menschen, ja selbst von der Natur verlassener Verzweifelter in seiner Melancholie, wo doch das klare Denken versagt?
Er handelt eben nicht wie ein Gesunder mit Verstand und Vernunft, sondern er agiert gemäß seiner Krankheit aus dem Unterbewusstsein heraus, intuitiv, von Entsetzen, Ängsten und Zwängen getrieben. Was er macht, ist nicht mehr frei, selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt, determiniert.
Um die Irrationalität und Absurdität der Verzweiflungssituation metaphorisch einzufangen, konstruiert Lenau außergewöhnliche Bilder mit nicht alltäglichen Gesten, die von Angst und Verzweiflung diktiert werden: Wer „so“ allein ist, wird „einen Stein“ umarmen - und er wird „von seiner Einsamkeit erschreckt“ – „vom starren Felsen“ springen und „bang dem Winde nach die Arme streck(en)“.

Der metaphysisch Vereinsamte, der Gott auf seinem Denk- und Erkenntnisweg verloren und auch den Glauben an das Gute in Menschen und Welt aufgegeben hat, sucht in seiner Angst und Verzweiflung – „erschreckt“, „entsetzt“ und „bang“ - intuitiv-getrieben, nicht rational - nach Elementen des Trostes.
Doch was wird, was kann einen Verzweifelten noch trösten, überhaupt trösten, wo ihm Gott als zentraler Fixpunkt aller Werte und der Sinnstruktur abhanden gekommen ist? Mit diesem Bild nackter Verzweiflung bricht Lenau das erste Sonett ab.
Die Enttäuschung des endgültig alleingelassenen, liebeshungrigen und Geborgenheit suchenden Melancholikers, der letzte Verlassenheit erfahren muss, wird Lenau im zweiten Teil seines Sonetts poetisch umsetzen.
Bevor er zur definitiven Schlussfolgerung kommt, dass nur ein Leben innerhalb einer geordneten Sinn-Struktur lebenswert sei, während ein liebloses Dasein ohne metaphysische Bindung absurd erscheine, bevor also eine Botschaft, die schon im ersten Sonett vermittelt wurde, noch einmal bekräftigt und somit erhärtet wird, erkennt der Dichter die Notwendigkeit, erläutern zu müssen, weshalb das so ist.
II.

„Der Wind ist fremd, du kannst ihn nicht umfassen,
Der Stein ist todt, du wirst beim kalten, derben
Umsonst um eine Trosteskunde werben,
So fühlst du auch bei Rosen dich verlassen;

Bald siehst du sie, dein ungewahr, erblassen,
Beschäftigt nur mit ihrem eignen Sterben.
Geh weiter: überall grüßt dich Verderben
In der Geschöpfe langen dunklen Gassen;

Siehst hier und dort sie aus den Hütten schauen,
Dann schlagen sie vor dir die Fenster zu,
Die Hütten stürzen und du fühlst ein Grauen.

Lieblos und ohne Gott! Der Weg ist schaurig,
Der Zugwind durch die Gassen friert; und du?
Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.“[113]

Die eigentliche Dimension des vom Kranken erlebten Schmerzes während der Melancholie-Situation kann sprachlich nur unbefriedigend artikuliert und objektiviert werden, weil das Gefühlte sich dem Bereich der Sprache entzieht. Da eine zur präzisen Phänomenbeschreibung notwendige Terminologie fehlt, setzt Lenau auf Metaphern, obwohl ihm bewusst ist, dass die eingebrachten Vergleiche bestenfalls eine Ahnung des erlebten Leides vermitteln. Ihre Unzulänglichkeit durchschauend, baut Lenau auf die plastisch darstellbare Handlung, die in ihrem Wesen absurd ist. Er lässt den Verzweifelten verzweifelt handeln, um dem Verzweiflungsschmerz des Schwermütigen ein Gesicht zu geben. Er lässt den Verzweifelten gerade dort nach Trost und Geborgenheit suchen, wo er beide Grundwerte des Lebens nicht finden kann. Also führt der Dichter seinen immer noch Suchenden teils intuitiv, teils rational in die Desillusion. Das Individuum muss letztendlich erkennen, das alles - wie Lenau es in dem bekannten Lyrismus aus seinem Fragment gebliebenen „Don Juan“ formuliert – „eitel nichts“ ist. Der Dichter begnügt sich jedoch nicht mit der Darstellung der existenziellen Erfahrung eines Subjekts; er beansprucht gewissermaßen eine intersubjektive Gültigkeit des Phänomens. Deshalb führt er, beginnend mit der ersten Verszeile, ein objektivierendes Gespräch mit einem imaginären „du“, das sein Selbst, sein zweites Ich ist – und darüber hinaus mit jedem Leser, der einen eigenen Zugang zur Melancholie-Erfahrung hat oder dem vermittelt werden soll, was ein Melancholiker überhaupt an Unsagbarem und Unausprechlichem zu erleiden hat.

Das Phänomen Melancholie, von der „gesunden“ Allgemeinheit unverstanden ignoriert, ist somit nur dem engeren Kreis der Melancholiker oder besonders empathischen Menschen zugänglich. Deshalb kann Lenau die selbst gemachten Erfahrungen als Melancholiker, seine Ich-Position, auf das „du“ und schließlich sogar auf den „einen“ und auf das „er“ übertragen.
Das zweite Sonett entspricht einer reinen Ebene der Reflexion und der Deutung des absoluten Vereinsamungs- und Verzweiflungserlebnisses. Jedes Bemühen, in der Gesellschaft und auf zwischenmenschlicher Ebene Sinn und Trost zu finden, versagt kläglich.

„Der Wind ist fremd“!

Wie groß muss der Schmerz des Vereinsamten sein, der nach dem Wind greift, um ein Gegenüber zu umarmen? So spricht kein Romantiker, kein Spätromantiker und auch kein anderer Dichter vor Lenau, der, im Jahr 1844 in Umnachtung fallend, das bewusste Dichten für immer einstellen wird.
Der „Wind“, das ist das - malerisch überhaupt nicht darstellbare – Bild der absoluten Vergänglichkeit, des Ungreifbaren, des Ätherischen, das verfliegt, noch bevor es wahrgenommen wird. Lenau, der Idealist und fromme Christ von Anfang an, lässt, in der nackten Desillusion angekommen, nach dem Ungreifbaren greifen!
Der Dichter wird den „Wind“, der auch sonst in seiner Dichtung „mordend hinsaust in den Wäldern“ zum kalten „Zugwind“ erheben, zum Todesbringer, der in den winterlichen Gassen Wiens tatsächlich Krankheit und Tod nach sich zieht.

Auch sein „Stein ist tot“! Wie gewaltig muss der Vereinsamungs- und Verzweiflungsschmerz eines lieblos Existierenden sein, wie groß muss seine Sehnsucht sein, wenn er – intuitiv Nähe, Geborgenheit, Liebe und menschliche Wärme suchend – den kalten Stein umarmt? So wie man den fremden Wind nicht zu fassen bekommt, weil sich das nicht-menschliche Element der Vereinnahmung entzieht, so werden auch bei Umarmung des Steins heiße Sehnsüchte und Gefühle schnell erkalten:

„Der Stein ist tot, du wirst beim kalten, derben
Umsonst um eine Trosteskunde werben“.

Ein Stein tröstet nicht – er tröstet ebenso wenig wie ein „kaltes Herz“ liebt[114]. Hinter dem Symbol des toten Steins verbirgt sich natürlich auch eine zweite, hier nicht angesprochene, aber deutlich mitschwingende Ebene der Materie und des Materiellen. Der Stein des Idealisten Lenau repräsentiert auch das Feste, das, was gesellschaftlich gesprochen, Bestand hat, die konkreten Werte der bürgerlichen Lebensform, Besitz, Geld, an sich aber Pseudo-Werte, die bei genauerer Betrachtung auch der Vergänglichkeit unterworfen sind, wie das auf Sand Gebaute. Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht, lässt Goethe seinen Teufel verkünden. Lenau wird nicht widersprechen.

„Daß alles Schöne muß vergehen
Und auch das Herrlichste verwehen,
Die Klage stets auf Erden klingt;“

lehrt uns das Motto Lenaus über seinen freien Albigenser-Dichtungen. Und er ergänzt:

„Doch Totes noch lebendig wähnen,
Verwirrt das Weltgeschick und bringt
Das tiefste Leid, die herbsten Tränen.“

Wer, wie viele Melancholiker, die Idee der Vergänglichkeit verinnerlicht hat, der weiß auch dass mit dem permanenten Werden und Vergehen auf der Welt auch der ästhetische Bereich versagen wird. Der schöne Schein der Rosenwelt wird vom Sterben überlagert. Kaum hat man das Wort Rose ausgesprochen – und schon muss man an ihr Verwelken denken. Also wird die Welt des Schönen zur Welt des „Schönen Scheins“ reduziert:

„So fühlst du auch bei Rosen dich verlassen“.

Das ist eine bittere Erkenntnis, eine große Enttäuschung, die das trostsuchende, einsame Individuum auf sich selbst zurückwirft. Der Erkenntnissuchende als der bewusst existierende Mensch, der als Intellektueller, als Geist – nach Schopenhauer – mehr leidet als alle anderen, weil er sensibler und reflektierter ist als seine uneigentlich lebenden Mitmenschen, muss mit dieser Gewissheit leben oder – wie Lenaus Faust – aus freien Stücken aus der Welt scheiden.
Nachdem Lenau in seinem kritischen Dahinterschauen gleich mehrere sinnsetzende Bereiche der menschlichen Existenz destruiert hat, Domänen, die jedem Einzelnen, ganz egal ob Künstler, Denker oder profan Existierender, im Leben Halt bieten, wendet der Dichter sich dem Mit-Menschen zu, dem Nächsten, dem gesellschaftlich existierenden Bürger, wie er ihn von Wien bis Stuttgart seit Jahren unmittelbar erlebt, um sein Mit-Gefühl, seine Empathie, sein Mit-Leiden oder sein heuchlerisches Versagen tiefer auszuloten.
Nimmt das Gegenüber, nimmt der gesellschaftlich existierende Mensch am Los des Einsamen teil? Versteht er den Nächsten? Und versteht er sich selbst in seinem Menschsein und in seiner gesellschaftlichen Rolle?
Lenau, der stille, doch genaue Beobachter und Zeitanalytiker, wird das alles hier und noch einige Jahre überzeugt verneinen; nicht aus Lust an einem inszenierten Pessimismus, sondern weil es für ihn, den Erkennenden, so ist, weil er es so erlebt und tief gefühlt hat. Er wird die optimistische Weltsicht, die nach Schopenhauer geradezu eine ruchlose Weltanschauung ist, hier immer noch konsequent zurückweisen, so wie er es bereits in dem Gedicht „Täuschung“ umsetzte, nachdem er Trugbilder und Selbstbetrug als Elemente des gesellschaftlichen Daseins entlarvt hatte. Leben ist Leiden, auch Leiden am verständnislosen Mit-Menschen.

Jeder Mensch lebt – am anderen vorbei – sein Individualleben. So wie er den Einsamen nicht wahrnimmt, so vergisst er den Menschen in seinem unmittelbaren familiären und gesellschaftlichen Umfeld. Sie alle, das heißt der Mensch in der Masse, im Gedicht explizit mit dem Ausdruck „sie“ in die Mehrzahl versetzt, leben so dahin – „Beschäftigt nur mit ihrem eignen Sterben“!

Der Andere, der Einsame, der Melancholiker, der Kranke, der Freigeist – sie bleiben Außenseiter. Der gemeine Mensch hat für diese Individualisten kein Verständnis. Ihr Leiden interessiert ihn nicht. Aus der vermeintlichen Geborgenheit heraus lehnen sie, die gemeinen Massenmenschen, den Einzelnen ab, sie grenzen ihn aus und sie verstoßen ihn rücksichtslos ohne Mitleiden:

„Siehst hier und dort sie aus den Hütten schauen,
Dann schlagen sie vor dir die Fenster zu“.

Die Vielen verweigern sich dem Einzelnen, nur weil er anders ist als sie, weil er anders denkt, anders lebt, anders fühlt, am Selbst festhält, ohne sich dem nivellierenden Zeitgeschmack zu unterwerfen. Verblendet, abgelenkt, von falschen Werten verführt, fällt es diesen diskrepant existierenden Biedermännern und Spießern nicht einmal auf, dass sie sich selbst mitten im Geschehen befinden und das Los ihres Scheiterns unabwendbar ist.
Der Ausblick ist für alle gleich pessimistisch, ja nihilistisch, ganz egal, ob die Welt und der Lauf der Dinge - „in der Geschöpfe langen dunklen Gassen“- intellektuell durchschaut wird oder nicht. Die Ausdehnung der Vergänglichkeit auf alle Kreatur der Schöpfung ist philosophisch markant und vollzieht sich in einer hochmodernen, expressionistische[115] Ausdrucksformen antizipierenden Sprache. Dem entsprechend apokalyptischer Natur ist auch das End-Szenario: Alle „Hütten stürzen“!

Letztendlich gibt es keine endgültige Geborgenheit, keine Erlösung, weder für den Einzelnen, noch für den unreflektierten, in der Uneigentlichkeit lebenden Massenmenschen. Jeder Mensch wird irgendwann in sein Alleinsein zurückgeworfen, in die Einsamkeit, viele auch in Melancholie und Verzweiflung.

Die vom sensiblen Melancholiker tief gefühlte Endzeit-Stimmung ist als Schreckensperspektive für alle gültig. Bilder des Makabren kennzeichnen die Situation:

du fühlst ein Grauen.
Lieblos und ohne Gott! Der Weg ist schaurig,
Der Zugwind durch die Gassen friert; und du?
Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.“

Jedes weitere Handeln erscheint aussichtslos - die Zukunft ist, typisch für die Perspektive des Melancholikers, verbaut. Also erscheint die gesamte Welt in ihrer gesamten Ungeborgenheit, in permanentem Verfall, als ein Ort des Grauens und der Verzweiflung. Diesen nihilistischen Ausblick wird Nietzsche in seinem, von Lenau beeinflussten[116] Melancholie-Gedicht „Vereinsamt“ aufgreifen und ähnlich drastisch umsetzen. Das menschliche Lebensumfeld, dem nicht nur der vereinsamte Wanderer ausgesetzt ist, ist für den dichtenden Denker Nietzsche ein unwirtlicher Ort vielfachen Leidens: „Die Welt – ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt“, verbunden mit der - schon von Lenau hier im Doppelsonett vorgezeichneten - Konsequenz:

„Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt“.

Ohne Gott für die einen oder ohne ein anderes angemessenes Sinnobjekt für die anderen ist der an sich undurchschaubare, zutiefst absurde Weltenlauf nicht mehr zu ertragen:

„Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig“.

Mit dieser zentralen, zutiefst nihilistischen Botschaft erreicht das existenzphilosophische Melancholie-Sonett Lenaus seinen Höhepunkt. Zu dem mild versöhnenden Ausblick, dass alles Werden und Vergehen nur ein „heimlichstill, vergnügtes Tauschen“ sei, einen Harmonismus, den Lenau erst Jahre später - auf alle Kreatur bezogen - in den „Waldlieder(n)“ anbieten wird, kann sich der Dichter hier noch nicht durchringen. Für den Melancholiker, der bereits bei der Betrachtung historischer Abläufe traurig wird, ist die Welt ein Jammertal, während der von Grauen bestimmte Weg des Wanderers „zum letzten Erdenziele[117] schaurig verläuft. Die von Schopenhauer auch im Abendland verbreitete Auffassung der Buddhisten, der gesamte Lebenszyklus des Menschen - von der oft schmerzvollen Geburt, über ein sorgenreiches Leben bis hinein in Krankheit und Tod - sei ein Sein im Leiden, ist für Lenau um 1838 existenzielle Gewissheit. Alle rationalen Mittel, die Summe der Erkenntnisse, Empirie und die Gefühlsebene sagen ihm, dass es so ist.

Bereits in der Lyrik seiner frühen Schaffensperiode erörterte Grundgedanken Lenaus kehren hier wieder wie die unerschütterliche Grundüberzeugung: Jedes Geschöpf lebe letztendlich doch nur sein Privatleben, beschäftigt mit dem „eigenen“ Sterben. Wie bereits in „Täuschung“ dezidiert ausgesprochen: Trotz Freundeswort und Mitgefühlsgebärden wird „jeder tiefe“, in absoluter Vereinsamung erfahrene, „Schmerz“ ein Eremit auf Erden“ bleiben.

Bevor er seine schockierende, auf vielfachen Erfahrungen beruhende existenzielle Gewissheit verkünden wird, widmet sich der genaue Beobachter und gesellschaftskritische Empiriker Lenau dem Verhalten seiner Mitmenschen zu, das er teils rational analytisch, teils gefühlsmäßig als heuchlerisch entlarvt. Die in der Uneigentlichkeit existierenden, im profanen Alltagsleben gefangenen Mit-Menschen verstehen den Einsamen nicht. Er der Fremde ohne Ziel und Vaterland, der Flüchtling, der Unbehauste bleibt für sie das, was er ist, ein Unverstandener, ein Melancholiker, ein Verzweifelter, ein Stigmatisierter, den man als Aussätzigen behandelt. Weil er einiges erkannt hat und darüber schreibt und redet, wird er auch noch beschimpft. Es muss aber betont werden, dass die aus der Melancholie-Erfahrung resultierende Welt-Sicht nur für diese Situation gilt. Sie darf nicht, was auch auf Nietzsche zutrifft, zur Welt-Anschauung verabsolutiert werden.

Lenau war ein Melancholiker, einer der reinsten, die je existierten und in der Lage waren, ihre melancholische Erfahrungswelt zu artikulieren, teils wissenschaftlich analytisch in abstrakter Form, teils poetisch in großer Dichtung. Weite Passagen meiner Lenau-Monographie waren der Aufgabe gewidmet, darzulegen, dass die eigentliche Dimension dieser Melancholie-Dichtung nur durch ein vertieftes Eindringen in die spezifische Struktur des Werkes sowie durch das Erhellen der Gesamtstruktur zu erfassen ist. Erst wer diese innere Struktur erkennt, kann ermessen, worin Lenaus Leistung besteht und was seine ideengeschichtliche Bedeutung ausmacht.

5.21. Der Werte-Kampf in Lenaus Ballade „Die nächtliche Fahrt“ - Von darwinistischer Selektion über den „Kampf um das Dasein“ nach existenzphilosophischen Kategorien zur Ethik des Widerstands im Politischen - Exkurs


Der „Kampf“, neben dem Tod, dem Zufall und der Schuld eine der vier Grenzsituationen des menschlichen Daseins, ist, nach Jaspers, „eine Grundform aller Existenz“[118].

„Der Kampf ist eine Grenzsituation des Lebens. In der Welt als einer endlichen muß der Mensch als endliches Wesen kämpfen.“[119] In seinen weiteren Ausführungen unterscheidet Karl Jaspers drei Ebenen des Kampfes; erstens die „bloße Auslese“, zweitens den „Kampf ums Dasein“ (Erhaltung unter Begrenzung anderer), den „Kampf um die Macht“ (Ausbreitung des eigenen Daseins) und drittens den „Kampf als Mittel der Liebe“[120].

Lenau, in dessen dynamischer Geisteshaltung das Agon des Schaffens einen hohen Stellenwert einnimmt, problematisiert den erst im Darwinismus zum allgemeinen Durchbruch gelangenden „Kampf ums Dasein“ (struggle for existence) bereits 1836 in seiner weit angelegten Ballade „Die nächtliche Fahrt“[121]. Lenau selbst hielt dieses - in mehrfacher Hinsicht einzigartige, in der Forschung aber völlig unbeachtete – hier gerade deshalb näher zu analysierende - Werk für sein nahezu bestes Gedicht.

Der Dichter eröffnet den dialektischen Widerstreit der metaphysischen Prinzipien Leben und Tod, der sich, auf unterschiedlichen Ebenen, leitmotivisch durch die Ballade zieht mit der typischen „Situationsbezeichnung“ äußerer Einsamkeit:

„Zu öd und traurig selbst den Heidewinden
Sind diese winterlichen Einsamkeiten,
Nur Schnee und Schnee ringsaus in alle Weiten,
Nur stiller, keuscher, kalter Tod zu finden.

Hier ists umsonst, nach frohen Ton zu lauschen,
Singvögel sind geflohn von diesem Grabe,
Den Schnabel in die Federn hüllt der Rabe,
Und eingefroren ist der Bäche Rauschen.

Sieht man den Wald so tief in Tod versunken,
Will man’s nicht glauben, dass er jemals wieder
Aufgrünt im Lenz, dass je hier seine Lieder
Ein Vogel sinkt, vom Frühlingshauche trunken.“

Die „äußere Einsamkeit“, das Erscheinungsbild einer zur Leblosigkeit erstarrten Natur, einer Allpräsenz des Todes, dient auch diesmal als Kontrastmotiv. Eine gehäufte und facettenreiche Todessymbolik suggeriert zwar für Augenblicke den absoluten Tod der Natur – „Nur stiller, keuscher, kalter Tod zu finden“, das totale „Grab“; aber dieser Tod, so endgültig er auch scheinen mag, birgt bereits das kommende Leben in sich.
Lenau führt deshalb, zunächst ganz unscheinbar, den Raben ein und gibt mit diesem höchst lebendigen Todesboten einen Hinweis auf die antinomische Struktur der Natur. Der „Rabe“ erscheint zwar noch als regungsloser Totenvogel inmitten einer absoluten Todeslandschaft, aber es ist bereits Leben in ihm.
In der dritten Strophe, in welcher die kontrastierende Einleitung endet, wird die gezielt eingesetzte Negativ-Symbolik durch eine urplötzlich optimistisch klingende, potenzielles Leben andeutende, Hoffnung stimulierende Terminologie verdrängt. Das neu aufkommende, pralle dionysische Leben im Frühling wird die Todesstarre zurückweisen lassen, so, als hätte es sie nie gegeben. Unmittelbar darauf, in kunstvollem Umschwung, aus Eisesklammern befreit, kommt in der vierten Strophe, tatsächlich neues, konkretes, Leben auf, in dynamischer Form im Bild der „Wölfe“, die - als Raubtier noch intensiver als der fleischfressende Raben-Vogel - Leben und Tod zugleich symbolisieren. Ihr kraftvolles Eindringen in die leblose Kulisse signalisiert den Auftakt zur tragenden Handlung: Die Statik der Situation wird so durchbrochen und aufgelöst.

Beginnend mit dieser Stelle wird der Kampf, nach Heraklit der Vater aller Dinge, als Motor des Werdens den Verlauf der Ballade bestimmen:

Es glänzt der Eichenwald in Eisesklammern;
Jetzt Wölfe heulen am verschneiten Grunde,
Wie Bettler, hungerwach, in nächtiger Stunde
Am Grabe eines milden Königs jammern.“

Die Stille wird abrupt destruiert. Laute Lebenszeichen machen sich bemerkbar. Doch was für Leben? Es ist kein Reh, kein Eichhörnchen oder sonst ein unscheinbares Waldtier, es sind hungrige Wölfe auf der Suche nach Fressbarem, im instinktiven, von der Natur vorgegebenen Bestreben – wie es Jaspers formuliert – ihr Dasein zu erhalten. Bevor die Todeswerkzeuge von den potenziellen Opfern erblickt werden, vernehmen jene ihr schauriges Geheul.
Das von Lenau auch sonst im Werk - in bestimmten Schlüsselsituationen immer wieder - gezielt eingeführte Raub-Tier entspricht einer eindeutigen Potenzierung des Raub-Vogels, des Raben. Die antinomische Struktur der Natur wirkt noch akzentuierter, da, neben dem konkreter werdenden Leben im Raubtier auch die unmittelbare Lebensbedrohung durch dieses deutlich wird. Lenau setzt die hierarchische Präsentation der Lebensformen konsequent fort und führt schließlich in der fünften Strophe die höchst entwickelte Lebensform dieser Welt, den Menschen, ein, die Krone der Schöpfung, agierende Individuen, die in feindseliger Natur genauso ohnmächtig exponiert sind wie der ihrem Umfeld ausgesetzten Tiere:

„Dort fährt ein Schlitten auf der blanken Wüste,
Der Kutscher treibt die ausgetreckten Pferde,
Als ob mit seinem Fuhrwerk er die Erde
Vor Sonnenaufgang noch umrennen müsste.“

Eine Lebensform „treibt“ die andere an, um zum Ziel zu gelangen. Doch noch steht der Mensch nicht ganz im Mittelpunkt des Interesses. Da der philosophisch ausgerichtete Dichter primär den Zweck verfolgt, alle Formen des Willens zum Leben - von der niedersten animalischen Stufe bis hin zum ideell-politischen Komplex des Willens zur Macht - zu entwickeln, konzentriert er sich vorerst auf einen elementaren Basis-Konflikt; Ihn interessiert - das von Mensch und Tier gleichwertig verkörperte - Leben in der Konfrontation mit der lebensbedrohenden Umwelt, der elementare Kampf um das Dasein an sich.
Das Leben selbst wird deshalb im weiteren Verlauf der Handlung in einer permanenten, teils konkreten, teils abstrakt artikulierten Auseinandersetzung mit den bedrohenden Faktoren vorgestellt; es erscheint in totaler Exponiertheit:

„Drei Hengste sinds, rasch wie des Nordens Lüfte,
Ein jeder trägt das werte Probezeichen
Der Schnelligkeit im rüstigen Entweichen,
Die Narbe des Wolfsbisses an der Hüfte.(...)

Die schnellen Renner sind mit Eis behangen,
Das klirrend an den schwarzen Mähnen zittert,
Der Rosse Rücken ist mit Reif umgittert:
Der Tod will sie mit seinem kalten Netze fangen.

Der Tod, das betont der Dichter auch in anderen philosophischen Dichtungen, ist überall, er ist die Grenze des Lebens. Das Leben hingegen, permanent den Grenzsituationen, hier besonders dem Kampf, dem Tod und dem Zufall ausgesetzt, ist endlich und zerbrechlich. Es muss sich ständig behaupten, sich im konsequenten Kampf gegen die vielfachen Gesichter des Todes durchsetzen. Nach den knappen Andeutungen, dass ein Wojewode im Schlittenkorbgeflecht sitzt und dem ersten Schlitten ein zweiter folgt, bricht der Dichter seine Deskription abrupt ab. Lenau nutzt, was sehr selten in seiner Lyrik der Fall ist und für die Ballade untypisch ist, das Mittel des Autoreneingriffs, wenn es in direkter, interpretativer Intervention verkündet:

„Die Nacht ist grimmig kalt; o Wandrer meide
Den Schlaf; hörst du das Glöcklein nicht mehr schlagen,
So wird’s vom Rosse dir vorangetragen
Dein wandernd Sterbeglöcklein auf der Heide.

Der Bäume Leben floh zum Grund hinunter;
Gib Wandrer, acht, dass nicht auch deine Seele
Zu ihrem Grunde sich hinunterstehle,
Wenn du einnickest; Wandrer, halt dich munter!“

Nur nicht einschlafen, denn wer in der Eiseskälte dem Schlaf verfällt, der wird nicht mehr aufwachen. Sein Leben wird mit dem Klang des Sterbeglöckleins verklingen. Also gilt es, alle Mittel einzusetzen, um wach zu bleiben, um das Leben, den Wert aller Werte, zu erhalten.

„Bist du ein Jäger, denke an ein Wildern;
Hast du ein Lieb, denk an ihr süßes Lager;
Wenn Haß dich wurmt, der scharfe Herzensnager,
So halt dich wach und warm mit Rachebildern.“

Selbst der destruktive „Hass“ ist noch legitim, um den höchsten Wert zu sichern.
Dieser spontan einbrechende Appell zur Wachsamkeit, bereits in der radikalen Sprache[122] eines Nietzsche vorgetragen, vergegenwärtigt noch einmal drastisch das exponierte Sein in der Extremsituation im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Das Ja zum Leben, absolute Priorität der Lebenserhaltung – um jeden Preis: das ist die eindeutige Botschaft dieses weit über das Geschehen hinausragenden Aufrufs.
Lenaus antithetische Symbolik ist originell und präzis gewählt. Während das in früheren, hier nicht zitierten Strophen eingeführte „Glöcklein“ (auch „Schelle“) das dynamische Leben verkörpert, Lenau hält leitmotivisch daran fest, erscheinen die - in der Romantik sonst verklärten - Bilder der „Nacht“ und des „Schlafes“ in dieser Situation als lebensbedrohende Elemente. Das Individuum, der müde Wanderer, wird in eine Entscheidungssituation versetzt, in welcher es nur ein „Entweder - Oder“ gibt. Entweder der Mensch wird schwach, gibt der Müdigkeit nach, lässt sich fallen, „nickt ein“, resigniert und scheitert letztendlich; Oder der Einzelne nimmt - stellvertretend für den sich bereits anbahnenden konkreten Existenzkampf - den Kampf gegen den Schlaf auf und hält sich „wach und warm“ im Leben.

Jaspers unterscheidet mehrere „Reaktionen auf die Grenzsituation des Kampfes:“[123] Der Mensch „will den Kampf nicht“[124], da er seiner Gesinnung widerspricht und er „verkennt den Kampf als ein Letztes“[125]. Beide Positionen müssen scheitern, da sie dem Leben selbst, das ein permanenter Kampf ist, entgegengesetzt sind. Lebensgemäß erscheint die konträre Haltung: „Der Mensch bejaht den Kampf um des Kampfes willen. Er lebt in den Gefühlen des Kampfes und handelt nur, indem er kämpft.“[126]
Dasselbe gilt für den „lebendigen Menschen in antinomischer Synthese“[127]. „Er empfindet es als sinnlos, zum Kampf überhaupt ja und nein zu sagen. Für die konkrete Existenz ist Kampf unvermeidlich, gibt Würde und Kraft.“ [128]
Der „Kampf“ ist eine „der Daseinsformen, um die er nicht herum kommt.“[129] Im Kampf, im geistigen oder im konkreten Krieg, kommt es „auf Vorrang und Sieg an, nicht auf die Sache“[130]. Das hebt Jaspers hervor.

Lenau, dessen Ballade nahezu dieselben Erkenntnisse vermittelt, die Jaspers hundert Jahre später theoretisch formuliert, akzentuiert mehrfach den gleichen Aspekt: Wenn es um das Erhalten des Lebens, des höchsten Wertes, geht, sind alle Mittel legitim; der Gedanke an das ungesetzliche Wildern ebenso wie das Wachbleiben durch ethisch verwerfliche, aufrüttelnde Vorstellungen im sexuellen Bereich. Der letzte Zweck, das pralle, pulsierende Leben selbst, heiligt alle Mittel. Das Im-Leben-Bleiben ist Endzweck.

Alles, was Lenau in dieser weitangelegten und anspruchsvollen Ballade bisher präsentierte, das introduktive Stillleben, der dynamische Einbruch des Vitalen in die Todeslandschaft, die Reflexion der existenziellen Exponiertheit, die suggerierten Kämpfe, entspricht einer feingewebten Ideenstruktur, in deren Mittelpunkt der konkrete Existenzkampf steht. Der Handlungsablauf erreicht nun seinen dramatischen Höhepunkt - die Wölfe greifen an:

Ha! Wölfe! Seht, ein ganzes Rudel Tode!
Sie folgen, eine nachgeschleifte Kette,
Die Todesangst, der Hunger rennen Wette,
Und ohne Furcht bleibt nur der Wojewode.

Es kracht der Schnee, schnell sind die grauen Horden,
Doch schneller sind, gottlob! Die braven Hengste,
Die Rappen sind im Drang der Todesängste
Plötzlich wie junge Raben flügg geworden.

So fliehn sie weite Strecken, angstgetrieben;
Die Männer schießen schreckend die Gewehre
Vom Schlittenborde nach dem grausen Heere,
Bis nach und nach es ist zurückgeblieben.

Nun halten sie, die Pferde dampfend schwitzen
Und schnauben aus den Nüstern sich das Bangen.“

Dieser nackte Kampf um das Dasein vollzieht sich auf den Auseinandersetzungsebenen Tier-Tier und Mensch-Tier, wobei die elementare Ebene als die primäre anzusehen ist. Der von Lenau hier dargestellte Lebenskampf entspricht durchaus dem später im Darwinismus postulierten „struggle of life“. Zwei unterschiedliche Lebewesen, das vom Menschen domestizierte Pferd und der wilde Wolf, ausgestattet mit bestimmten Fähigkeiten und Instinkten, treffen in einer bestimmten Konstellation auf gemeinsamen Lebensraum zusammen. Das lebensbedrohende Verhalten der Wölfe wird vom natürlichen Hunger-Trieb diktiert: Die fleischfressenden Raubtiere greifen an, weil sie fressen müssen, um zu überleben. Die Pferde aber, die Fluchttiere sind, fliehen ebenso instinktiv, weil sie überleben wollen. Den natürlichen Fluchttrieb bei Gefahr, der bei Menschen in ähnlicher Situation nicht anders ist, umschreibt der Dichter prägnant mit „angstgetrieben“ und fängt so ein irrationales Phänomen ein, dass auch der Mensch nur fühlend, erfahrend feststellen kann, ohne es konkret greifen zu können. Die „Angst“ ist der Motor der Selbsterhaltung, der Antrieb, der das exponierte Wesen im Leben hält: „Die Todesangst, der Hunger rennen Wette“.

5.21.1. Wettkampf und Werte-Kampf


Es kommt zum Wett-Kampf: Schnelligkeit kämpft gegen Schnelligkeit. Schließlich siegt – wie überall in der Natur - das Angepasstere und Stärkere, in diesem speziellen Fall unter der Mitwirkung des Menschen. Die Rolle des genauso existenziell exponierten Menschen ist jedoch sekundär. Er kann zwar den Schlitten lenken und das Gewehr abfeuern, den eigentlichen Ausbruch aus der Todeskonfrontation, den existenziellen Befreiungsschlag, leistet in dieser Ballade das Tier, dessen eigentlicher Antrieb die „Angst“ ist. In dem zeitspezifischen, heute schon verblassten Ausdruck „Bangen“ erkennt Lenau an anderer Stelle, in bemerkenswerter Nähe zu Heidegger, einen direkten Hinweis auf die eigentliche Existenz.
In dieser Ballade jedoch sind die phänomenologisch-hermeneutisch eingesetzten Schlüsselbegriffe „Angst“, „Furcht“ und „Bangen“ gleichwertig. Sie bezeichnen das objektbezogene „Fürchten“, nicht die Angst an sich, die existenzphilosophisch betrachtet, keine Ursache kennt und in der sich das Nichts offenbart.
Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass die Todesangst, die in der Regel das Individuum lähmt und hemmt, hier als positives, als Leben förderndes Phänomen in Erscheinung tritt. Alles Leben, das geht aus dieser Szene hervor, ist, im unmittelbaren Kampf um das Dasein, im Angesicht des Todes, der Angst ausgesetzt und wird von ihr durchdrungen, „ohne Furcht bleibt nur der Wojewode“.

Es verstreichen vier Strophen, bevor Lenau die Spannung auflöst und das Rätsel lüftet. Das furchtlos-heroische Verhalten dieses ominös-apathischen Fürsten während des Überlebenskampfes, das zunächst etwas befremdend wirkt, entspricht tatsächlich seinem natürlichen Seins-Zustand: „Der isst nicht, trinkt nicht, friert nicht, ist ein Toter.“ Des Pudels Kern: Nur ein bereits aus dem Leben Geschiedener kennt weder „Angst“, noch „Furcht“ oder „Bangen“!
Mit dem folgenden Aufklären des Schicksals dieses Fürsten vollzieht Lenau erneut eine weitere Strukturänderung der Ballade.

5.21.2. Lenaus Imperialismus-Kritik in seinem „anderen“ Polenlied[131]


Das zentrale Motiv, der Existenzkampf, wird nun, nach der entwickelten naturphilosophischen Struktur und der existenzphilosophischen Deutung, auf die Ebene des realpolitischen Zeitgeschehens verlagert:

„Im Zweikampf ist der gute Herr geblieben,
Sein Erzfeind, Russe, hat ihn totgeschossen;
Ich fahre meinen schweigenden Genossen
Heim in die Gruft vorausgegangner Lieben.“

Die Botschaft des Dichters ist eindeutig: Der Kampf um das Dasein der Individuen entspricht dem Existenzkampf der Völker.
Lenau verdichtet hier die imperialistische Aggression des zaristischen Russlands gegen das freiheitliche, nach Selbstbestimmung strebende Polen zu einem ungleichen und somit unfairen Duell zweier Personen, zu einem Macht-Kampf, in welchem sich der Große gegen den Kleinen durchsetzt. Signifikant ist hier vor allem die moralische Wertung der Situation: Der im animalischen Bereich noch weitgehend gleichwertig ausgetragene Wett-Kampf um Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein wird im gesellschaftlich-politischen Umfeld unfair ausgetragen; er denaturiert und verkommt – der Mächtige setzt sich durch und unterwirft den Schwachen, der seine nationale Selbstbestimmung, seine Souveränität und Freiheit einbüßte. Aus dem natürlichen Prinzip des Lebenskampfes konstruiert der Mensch eine primitive Form des Willens zur Macht. Der Kampf, das metaphysische Prinzip des Werdens seit Heraklit, wird zum menschenverachtenden, amoralischen Krieg.

5.21.3. Ethik des Widerstands - Der Existenz-Kampf der Individuen entspricht dem Souveränitätsstreben der - tyrannisierten - Völker


Somit ist ein Punkt erreicht, der dem Dichter die Möglichkeit bietet, die bisher außermoralisch verlaufende Handlung, den elementaren Kampf um das Dasein, zunächst auf eine ethische Ebene zu übertragen, die dann von einer existenziellen überlagert wird. Lenau ergreift diese Möglichkeit und lässt den Kutscher sagen:

„Bald aber hätt ich ihm die Treu zerrissen,
Denn wären uns die Wölfe näher kommen,
So hätt ich ihn nicht weiter mitgenommen,
Ich hätt ihn, uns zu retten, hingeschmissen.“

Der Kampf wird zum Kampf der Werte. „Da es unendlich viele Werte gibt, und da diese nicht jederzeit verwirklicht werden können, geraten die Werte miteinander in Kollision. Der Mensch muß wählen“[132] , betont Jaspers.
„Der Kampf der Werte ist nicht immer, sogar selten ein Kampf gleicher. Vielmehr ordnet er, wenn die Entscheidungen der concreten existenziellen Kämpfe objektiviert werden, die Werte nach ihrem Rang. Es entstehen Rangordnungen der Werte.“[133]

Lenau sieht dies ähnlich. Die amoralisch-existenzielle Argumentation des Kutschers lässt eindeutige Prioritäten erkennen. Im Gegensatz zu seinem Herren, jenem polnischen Aristokraten, der, repräsentativ für den Freiheitskampf des polnischen Volkes gegen das imperialistische Russland, sein Leben für das Ideal der Freiheit hingab, ist der einfache, doch existenznahe Knecht nicht bereit, sein Leben für einen höheren Wert, für ein Ideal einzutauschen. Das Leben selbst, das hier noch einmal in krasser Antithese zum endgültigen Tod vorgestellt wird, scheint diesen Standpunkt zu bestätigen – Das unreflektierte Handeln triumphiert über den idealistisch motivierten Opfertod. Aus der Sicht des unreflektierten Kutschers, der die moralisch bedingte innere Freiheit des Individuums nicht kennt, erscheint jedes einer höheren Idee dargebrachte Existenzopfer widernatürlich und absurd, da mit dem Tod der erstrebte Endzweck entfällt. Sinnsetzend ist für ihn nur das Leben selbst in seiner natürlichen Entfaltung.
Eine Übertragung dieser außermoralisch-existenziellen Individualhaltung ins Politische würde zwar das Überleben eines Volkes sichern, doch wäre dies ein Dasein in Unfreiheit und Sklaverei. Dagegen begründet der Opfer-Tod des Wojewoden im konkreten politisch motivierten Kampf eine Ethik des Widerstands. Obwohl er als Individuum scheitert, wirkt der Gestus, für sein Volk gestorben zu sein, weiter und hält den Emanzipationskampf des polnischen David gegen den übermächtigen Goliath Russland wach, ein Kampf um Souveränität, der bis in die jüngste Vergangenheit andauerte. Sein beispielhafter, aus innerer Freiheit und Notwendigkeit resultierender Tod wirkt für alle Überlebenden seines Volkes sinnsetzend; Er zementiert die nationale Identität und Integrität und fordert schließlich zu neuem Kampf auf.

Mit dieser Position, die im Gesamtkontext noch deutlicher wird, drängt Lenau die - zunächst absolut erscheinende - Priorität der unbedingten Lebenserhaltung zurück. Das Schicksal Polens, das kleiner und schwächer ist als das Zarenreich, ist damit nicht im sozialdarwinistischen Sinne determiniert, ihm bleibt aber die moralisch begründete und deshalb unerschütterliche Hoffnung auf Freiheit. Diese Möglichkeit suggeriert Lenau, der sich bereits nach dem Scheitern der Polenrevolution engagiert für die Ideale dieses Volkes eingesetzt hatte, unmissverständlich in der Schluss Strophe seiner bedeutenden Ballade:

„Das mahnt uns an die Träume eines Zaren,
Der gerne möchte in winternächtgen Stunden,
Das Ruhmesglöcklein an sein Roß gebunden,
Das tote Polen durch die Heide fahren.“





[1] Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Eduard Castle. Leipzig 1910ff. (6 Bände). Aus Gründen der Praktikabilität werden einige Texte und Briefe Lenaus auch nach dieser Ausgabe zitiert. Eventuelle Abweichungen folgen der inzwischen erweiterten und verbesserten historisch-kritischen Edition der Werke und Briefe des Dichters, die seit dem Jahr 1995 vorliegt. (Die Castle-Ausgabe wird weiterhin kurzzitiert als: NL, SWB, Band und Seitenzahl. Um der Lesbarkeit willen und um dieses Werk etwas von Fußnoten zu entlasten, wird hier teilweise auf minutiöse Quellenverweise (exakte Angabe der Seitenzahl) verzichtet. Das Primär-Werk wird in der Regel im Text genannt.)

[2] NL, HKA, S. 98. Soweit mir bekannt ist, wurde Lenaus „Bitte“ noch nicht als Melancholie-Gedicht erkannt oder interpretiert. Lenau rezipiert bis zu einem gewissen Grad die im Barock weit verbreitete Vorstellung einer „süßen Melancholey“, der er als Spätromantiker zwar noch huldigt, ohne jedoch das Ernste der Krankheit zu unterschlagen, der schweren Depression, die von ihm, dem echten Melancholiker, als bittere existenzielle Erfahrung erlebt wird.
[3] NL, SWB, III, S. 30f.
[4] Ebenda, S. 36.
[5] NL, SWB, I, S. 135.
[6] Lenau und die Familie Löwenthal. Briefe und Gespräche, Gedichte und Entwürfe. Herausgegeben von Eduard Castle. Leipzig 1906. S. 523. (Kurzzitiert: LuL).
[7] Vgl. dazu Lenaus Brief-Aussage, Bd. IV, S. 326.
[8] NL, SWB, II, (Lenaus) „Faust“, (Weiterhin kurzzitiert als „NL, Faust“).
[9] Näheres zum Verhältnis des Melancholikers Kierkegaard zur Dichtung Lenaus in dem Exkurs: Kierkegaards Lenau-Rezeption, in: Gibson, Carl: Lenau. Leben, Werk, Wirkung. Beiträge zur neueren deutsche Literaturgeschichte, 3. Folge, Bd. 100, Heidelberg 1989. S. 304ff.
[10] NL, HKA, Bd. 1, S. 135. Melancholie als Fatum kennzeichnet auch das Gedicht „Bitte“. Das Schicksal, aus dem es kein Entrinnen gibt, wird von dem betroffenen Melancholiker nicht nur hingenommen, sondern einsichtig, über Vernunft und Gefühl bewusst angenommen – als Bewältigung der existenziellen Situation. Siehe dazu auch das bisher verkannte Melancholie-Gedicht Lenaus „Der Seelenkranke“ – mit ähnlicher Botschaft.

[11] Die Liste melancholischer Dichter, Schriftsteller und Dramaturgen zur Zeit der Früh-, Hoch- und Spätromantik und im Biedermeier ist lang. Clemens Brentano und Ludwig Tieck zählen ebenso dazu wie Heine, Annette von Droste-Hülshoff und zahlreiche „poetae minores“, deren Namen heute fast schon vergessen sind, darunter mancher Lyriker aus dem Umfeld der „Schwäbischen Dichterschule“. Der Melancholie-Forscher und Psychiater Hubertus Tellenbach konzentriert sich in seiner Studie zur Thematik im Abschnitt „Gestalten der Schwermut“ hauptsächlich auf drei Namen der Literatur, auf die – aus seiner Sicht repräsentativen - Melancholiker Kierkegaard, Heinrich von Kleist und Franz Grillparzer, also auch auf den künstlerischen Rivalen im Lyrischen und Zeitgenossen Lenaus. Es sind drei Namen, die man durch hundert andere ersetzen könnte. Ob - der von sich selbst sehr eingenommene - Grillparzer überhaupt zur Melancholie neigte oder einen Sinn für Lenaus melancholische Leiden hatte, mag dahingestellt bleiben. Tiefer verstanden hat er, wie sein Nachruf auf den Dichter bezeugt, seinen Landsmann Lenau kaum. Näheres in: Tellenbach, Hubertus: Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung, Hürtgenwald 1992. S. 26ff.
[12] NL, SWB, III, S. 56.
[13] Ein Jugendgedicht Lenaus, eine Art Hommage, ist diesem existenznahen und wirkungsreichen Römer gewidmet, („An Seneca“).
[14] Mehr zur Melancholie Kerners in der Monographie: Otto-Joachim Grüsser: Justinus Kerner 1786 – 1982. Arzt – Poet – Geisterseher, nebst Anmerkungen zum Uhland-Kerner-Kreis und zur Medizin- und Geistesgeschichte im Zeitalter der Romantik. Berlin Heidelberg New York 1987. Grüsser stellt fest: „Kerners depressiven Phasen waren nach meiner Einschätzung Zeichen einer periodischen endogenen Depression, die immer wieder sein Leben überschattete. Gelegentlich versank Kerner in tiefe melancholische Verstimmtheit“. (S. 6.) Zitiert werden melancholische Briefaussagen – etwa an Uhland – (S. 104f), Gedichte mit „melancholische(r) Grundstimmung“ (S. 242), im Zusammenhang mit der existenziellen Bewältigung des Phänomens. Dem freundschaftlichen Verhältnis Kerner zu seinem häufigen Gast Lenau widmet der Autor ein ausführliches Kapitel. (S. 295 – 305)
[15] Der Sohn des Dichters, Theobald Kerner, hat in seiner späteren biographischen Stilisierung des Vaters dessen sogenannte Jammerbriefe, in welchen der wohlsituierte Bürger und Arzt ganz unterschiedlichen Personen sein Leid klagte, unterschlagen und so dafür gesorgt, dass der melancholische Wesenszug Justinus Kerners der Nachwelt weitgehend verborgen blieb. Auch ist die umfassende Korrespondenz des Romantikers aus Weinsberg mit vielen prominenten Zeitgenossen aus der literarisch-künstlerischen Szene wissenschaftlich noch nicht ausgewertet.

[16] NL, SWB, III, S. 99.
[17] Erst Roman Rocek hat sich in der jüngst erschienenen Lenau-Monographie „Dämonie des Biedermeier“ dem Amerika-Erlebnis des Dichters zugewandt und die von Lenau 1833 dort vorgefundenen politisch-sozialen Bedingungen kritisch betrachtet. Vgl. dazu meine Rezension dieses Werkes, abgedruckt in HJS 2007.
[18] Der sich im Jahr 1833 schon abzeichnende Untergang der indianischen Urbevölkerung Nordamerikas im Zuge der systematischen Ausrottung durch weiße Siedler aus Europa ist in dem engagierten Gedicht „Die drei Indianer“ bereits vorweg genommen.
[19] Interessant ist der Aspekt, dass der Dichter den Ausdruck „Hypochondrie“ über den seinerzeit weit verbreiteten Ausdruck „Schwermut“ ansiedelt, um die aufziehende Melancholie anzukündigen. „Hypochondrie“ wird hier gezielt und differenzierend als ein Synonym für „Melancholie“ (als Krankheit) eingesetzt.

[20] NL, SWB, III, S.282f.
[21] NL, SWB, IV, S. 18.
[22] Näheres weiter oben.
[23] NL, SWB, IV, S. 404.
[24] NL, SWB, V, S. 144.
[25] NL, SWB, V, S. 142. Die Liste der Natur-Apologeten in der Dichtung ist lang, beginnend mit dem Verdikt des Epikureers Horaz, das Grün der Wälder sei dem Stadtleben vorzuziehen, über Petrarca und Rousseau bis hinein in die Dichtung der Empfindsamkeit, der Romantik und des Biedermeier. Mehrere, heute zumeist vergessene Dichter aus Lenaus Umfeld wie der Schubert-Freund Johann Mayrhofer oder der schwäbische Dichter aus dem Schwab-Uhland-Kerner-Kreis Gustav Pfizer verfassen lange Gedichte über die geschätzte Einsamkeit.
[26] NL, SWB, V, S. 158.
[27] NL, SWB, I, S. 96.
[28] NL, HKA, Bd. S. 135.
[29] N. Lenau, SWB, Bd. III, S. 71f.
[30] Karl Jaspers, Philosophie, Band 2, S. 203. Vgl. auch: Jaspers, Karl: Kleine Schule des philosophischen Denkens, München 1997.
[31] Karl Jaspers, Philosophie, Band 2, S. 204.
[32] Heinrich Rombach, Strukturanthropologie, S. 326.
[33] Karl Jaspers, Philosophie, Band 2, S. 204.
[34] Ebenda.
[35] Bereits Goethe reflektiert die Endlichkeit des Menschen in dem Gedicht „Grenzen der Menschheit“. Wo das Göttliche beginnt, endet das Menschliche. („Denn mit Göttern / Soll sich nicht messen /Irgendein Mensch.“
[36] Heinrich Rombach, Strukturanthropologie, S. 328.
[37] Das Bild erscheint in dieser Form in Byrons „Manfred“ ebenso wie bei Caspar David Friedrich in dem Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, 1818.
[38] NL, Faust, S. 2.
[39] NL, SWB, I, S. 43.
[40] NL, SWB, I, S. 287. Mit einem Bild, hier: „Wild verwachsne dunkle Fichten“ versetzt Lenau seinen Leser in eine – für ihn typische- „Situationszeichnung“, die nur aus reiner Metaphorik besteht und ohne Verb auskommt.
[41] NL, HKA, S. 134.
[42] NL, SWB, I, S. 358.
[43] NL, SWB, I, S. 316.
[44] Ebenda.
[45] Ebenda.
[46] Mancher bedeutende Künstler scheiterte nicht an der Größe seiner Kunst, sondern an der Unzulänglichkeit der Interpreten, bis hinein in die literaturhistorische Wertung.
[47] Ebenda.
[48] NL, Faust, III, S. 97.
[49] NL, SWB, I, S. 268.
[50] NL, SWB, I, S. 449.
[51] NL, SWB, II, S. 406.
[52] NL, SWB, III, S. 142.
[53] NL, SWB, I, S. 488.
[54] NL, SWB, I, S. 360.
[55] Ebenda.
[56] Ebenda.
[57] LuL; S.125.
[58] In: Wilhelm Müller. Werke, Tagebücher, Briefe. Herausgegeben von Maria-Verena Leistner. Mit einer Einleitung von Bernd Leistner, Berlin 1994, Bd. 1, S. 184.
[59] Eichendorff, Josef von: Werke in einem Band. Herausgegeben von W. Rasch. München 1977. S. 42f.
[60] Für Melancholie hat Eichendorff überhaupt kein Verständnis. Wo bei Zweiflern Weltengrauen aufkommt, setzt der konservative Katholik auf ein erfrischendes Gebet.

[61]Gute Nacht“, aus dem Lieder-Zyklus „Die Winterreise“, in:
Wilhelm Müller. Werke, Tagebücher, Briefe. Herausgegeben von Maria-Verena Leistner. Mit einer Einleitung von Bernd Leistner, Berlin 1994, Bd. 1, S. 170.
[62] NL, SWB, I, S. 49.
[63] NL, SWB, I, S. 54.
[64] NL, SWB, I, S. 54.
[65] Nietzsche erkennt in diesem Typus, der beim ersten Windhauch strauchelt und scheitert, den Schwindsüchtigen des Geistes, der, kaum geboren, schon sterben will. Für diesen romantisierenden Schwächling hat der Sozialdarwinist und Extremphilosoph nur den Rat, er möge dahinfahren.
[66] NL. Faust, S. 78.
[67] J. W. von Goethe, Faust. Herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz. München 1996. S. 107.

[68] Gemeint sind zwei Dichter, die sich ebenfalls an den Faust-Stoff heran wagten, Christian Grabbe, gestaltet in „Don Juan und Faust“ sowie Heinrich Heine in seinem frivolen Tanzpoem „Faust“.
[69] Vgl. dazu das Kapitel „Situation und Grenzsituation – präexistenzphilosophisches Gedankengut bei Lenau auf dem Weg zu Karl Jaspers. Exkurs.“, weiter oben.
[70] O. F. Bollnow, Existenzphilosophie, S.43.
[71] NL, Faust, S.2.
[72] Zitiert nach O. F. Bollnow. S. 43.
[73] NL, Faust, S. 11.
[74] Ebenda.
[75] NL, Faust, S. 7.
[76] NL, Faust, S. 122.
[77] NL, Faust, S. 123.
[77] NL, Faust, S. 122.

[79] Zitiert nach Maduschka, S. 7.
[80] Zitiert nach O. F. Bollnow. S. 43.
[81]Ebenda.
[82] NL, SWB II, Savonarola, S. 170.
[83] NL, Faust, S. 28.
[84] Ebenda.
[85] Ebenda.
[86] Ebenda.
[87] Verwiesen sei auf die Faustinterpretation in meiner Monographie: Carl Gibson, Lenau- Leben, Werk, Wirkung, Heidelberg 1989.
[88] NL, Faust, S. 73.
[89] NL, Faust, S. 88.
[90] NL, Faust, S. 118f.
[91] NL, Faust, S. 122.
[92] NL, Faust, S. 123. Dieser – nur um des Reimes Willen – nachgestellte Ausdruck „Rettung“ hat viele Interpreten zur Annahme verleitet, der Christ Faust sei letztendlich doch gerettet worden.
[93] Vgl. Carl Gibson, Nietzsches Lenau-Rezeption, Sprachkunst, 2006.
[94] FN, HKA, VI, S. 89f.
[95] Siehe dazu Lenaus verkanntes Melancholie-Gedicht „Bitte“: „Weil‘ auf mir, du dunkles Auge,/ Uebe deine ganze Macht, /Ernste, milde, träumerische, / Unergründlich süße Nacht! // Nimm mit deinem Zauberdunkel,/ Diese Welt von hinnen mir,/ Daß du über meinem Leben/ Einsam schwebest für und für.“ NL, HKA, S. 98.
[96] NL,HKA, S. 128.
[97] LuL, S.161.
[98] NL,SWB, III. S. 97.
[99] LuL, S. 160f.
[100]Hypochonder“ ist ein Synonym für Melancholie. Der Zusatz „alter“ verweist auf die Unentrinnbarkeit aus dem Schicksal einer melancholischen Disposition.
[101] LuL, S. 160f.
[102] Speziell in dem bisher verkannten Melancholie-Gedicht „Bitte“ sowie in dem Sonett „Der Seelenkranke“.
[103] NL, SWB, III, S. 99.
[104] LuL, S. 96.
[105] NL, SWB, V, S. 150.
[106] Ebenda.
[107] NL, HKA, S. 96.
[108] „An den Tod“ , siehe das Motto oben.
[109]Schließlich stellte der „Melancholiker“ – neben den Sanguiniker, dem Choleriker und dem Phlegmatiker – den herausgehobenen, mit Attributen des Genialen versehenen Typus der Antike dar.
[110] NL, SWB, I, S. 304f. bzw.: NL, HKA, S. 214f.
[111] FN, KAW, VII ,3, S.37.

[112] Mit den Worten aus „Herbsttag“, „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“, wird Rainer Maria Rilke eine vergleichbare Situation in seinem bekannten Herbstgedicht aufgreifen und motivisch verwandt gestalten, nur wesentlich konzilianter und lebensoptimistischer in Ton und Perspektive. Vgl. Rainer Maria Rilke. Ausgewählte Gedichte. Auswahl und Nachwort von Erich Heller. Frankfurt 1977. S. 28.
Verwandt umgesetzte Gedanken wie „wer jetzt kein Haus hat“ (Rilke) bzw. „Wehe dem, der keine Heimat hat“ (Nietzsche), Formulierungen, die den in die Welt hinaus gejagten, rastlosen existierenden Einsamen näher umschreiben, verweisen darauf, dass hier eine Rezeption Rilkes stattgefunden hat, die, wie an anderer Stelle betont (Carl Gibson, Lenau. Leben – Werk- Wirkung. ), bereits mit der Lektüre Lenaus einsetzt.
[113] NL, SWB, I, S. 304 f. , NL, HKA, S. 214. Abweichend: „Der Zugwind durch die Gassen friert; und du?“Bei Castle: „Der Zugwind in den Gassen kalt; und du?“.
[114] Das weiß der hoch empathische Lenau genauso wie es sein schwäbischer Zeitgenosse Wilhelm Hauff in seinem weltbekannten Märchen schildert.
[115] Es sind gerade die bekanntesten und wohl auch größten Lyriker des deutschen Expressionismus, Georg Trakl, Georg Georg Heym und Gottfried Benn, die in Gedichten wie „Trübsinn“, „Einsamkeit“ oder „Einsamer nie“ jeweils auf ihre Weise die Situation des verzweifelten Einsamen ähnlich drastisch aufgreifen.
[116] Vgl. dazu: Carl Gibson, Nietzsches Lenau-Rezeption, In Sprachkunst, Wien 1986, bzw. den „geistesgeschichtlichen Vergleich Lenau – Nietzsche in: Carl Gibson, Lenau. Leben – Werk –Wirkung, Heidelberg 1989. S. 246-256.
[117] Lenau, „Eitel nichts“.
[118] Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. 6. Auflage, München 1985, S. 257.
[119] Ebenda, S. 126.
[120] Ebenda.
[121] NL, SWB, Bd. 1, S. 260 – 263. Alle weiteren Zitate aus dem Gedicht folgen dieser Textfassung. Zur Verdeutlichung der Symbolik und Metaphorik wurden einzelne Textstellen fett hervorgehoben.
[122] „O Mensch! Gib Acht!“, Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 3, S. 281.
[123] Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 258.
[124] Ebenda.
[125] Ebenda.
[126] Ebenda.
[127] Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 259.
[128] Ebenda.
[129] Ebenda.
[130] Ebenda.
[131] Als Anwalt der Unterdrückten und Verfolgten hat sich Lenau immer wieder für Schwache, und Entrechtete eingesetzt, für Minderheiten wie Indianer, Juden, Zigeuner und auch für unterjochte Völker wie die unter russischer Vorherrschaft leidenden Polen, deren Aufstand gegen Russland er – wie auch andere aufgeklärt-liberale Dichter der Zeit – poetisch flankierte, zudem auch öffentlich über die Freundschaft mit dem Dichter Mikolaj Boloz Antoniewicz. Lenau verfasste mehrere „Polenlieder“.
[132] Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 221.
[133] Ebenda.


Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.



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Inhalt des Buches: 


Carl Gibson


Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca


zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche


Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche





Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen. 

Carl Gibson

Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche


Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens


Mit Beiträgen zu:

Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,


dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays

1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim

Alle Rechte vorbehalten.


ISBN: 978-3-00-049939-5


Aus der Reihe:

Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015

Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim


Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,

Email: carlgibsongermany@gmail.com

-         oder regulär über den Buchhandel.

„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?

Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.

Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.

Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhauptWelche Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet – richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.

Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.






ISBN: 978-3-00-049939-5