Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
3.4. Aufklärer Immanuel Kant definiert den zur „Melancholie Gestimmte(n)“, „Melancholie“ als „Tiefsinnigkeit“ und die „Grillenkrankheit“ Hypochondrie richtungweisend für die Neuzeit.
Exkurs.
Immanuel
Kant hält in seiner anthropologischen Abhandlung „Charakteristik“ an den vier
hippokratischen Einteilungen fest und beschreibt das sanguinische Temperament
als das Leichtblütige, den zur Melancholie Gestimmten als den Schwerblütigen,
den Choleriker als den warmblütig Hitzigen und den Phlegmatiker als den
kaltblütig Affektlosen: „Der zur
Melancholie Gestimmte (nicht der Melancholiker; denn das bedeutet einen
Zustand, nicht den bloßen Hang zu einem Zustande) gibt allen Dingen, die ihn
selbst angehen, eine große Wichtigkeit; findet allerwärts Ursache zu
Besorgnissen und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Schwierigkeiten.“[1]
Der ihm entgegen gesetzte
Sanguiniker hingegen „ist sorglos und von
guter Hoffnung“. Kants Abgrenzung der Melancholie als Zustand von dem Gestimmtsein
zur Melancholie ist von besonderer Bedeutung und für das richtige
Verständnis des Phänomens unverzichtbar. Die Krankheit „Melancholie“, ein Zustand exzessiver Niedergeschlagenheit und Trauer, tiefster Depression und
Apathie, ist seit ihrem Bekanntwerden vor Jahrtausenden konstant und keiner
Weiterentwicklung unterworfen. Das Zur-Melancholie-Gestimmtsein
hingegen ist im kontinuierlichen Wandel begriffen. Die äußere Erscheinungsform
dieses Gestimmtseins ist oft der
Zustand von „Einsamkeit“ in all ihren
Spiegelungen, Schattierungen und Wertungen.
In seiner „Anthropologischen Didaktik“ geht Kant auf die „Gemütskrankheiten“
ein und definiert den gleichen Zustand mit einem anderen Begriff, nämlich als Tiefsinningkeit, wobei Kant teils zu einer eigenen Begrifflichkeit
tendiert, teils die Terminologie seiner Zeit gebraucht: „Die Tiefsinnigkeit (melancholia)
kann auch ein bloßer Wahn von Elend sein, den sich der Trübsinnige (zum
Grämen geneigte Selbstquäler) schafft. Sie ist zwar selber nicht die
Gemütsstörung, kann aber wohl dahin führen.“[2]
In der heutigen psychopathologischen Diagnostik spricht man, wenn man „Melancholie“ meint, in der Regel von endogenen
Depressionen oder vom manisch-depressiven Verhalten.
Kant hat auch diese Begriffe weitgehend
antizipiert. In seinem Kapitel „Von den
Gemütskrankheiten“ setzt er die Definition
der Melancholie von der „Grillenkrankheit“[3]
(Hypochondrie) und dem „gestörten
Gemüt (Manie)“ ab.
Da in der
Melancholie-Diskussion durch die Jahrhunderte – vor allem in Robert Burtons „The
Anatomy of Melancholy“ von 1621 und Johann
G. Zimmermanns Mammutwerk in vier Bänden
„Über die Einsamkeit“, ab 1784
erschienen, – die Begriffe Melancholie
und Hypochondrie weitgehend identisch gebraucht und undifferenziert[4]
eingesetzt werden, erscheint das Hervorheben der - alles andere als trockenen -Beschreibung des Hypochonders durch Kant an dieser Stelle sinnvoll. Bezeichnend ist, dass die bereits von Kant festgehaltenen Symptome durch die Jahrhunderte
konstant blieben und auch den Grillenfänger[5]
von heute recht genau definieren.
[2] Anthropologische Schriften, S. 528.
[3]
Ebenda. Kant stellt fest: „Die Krankheit des
Hypochondrischen besteht nun darin: dass gewisse innere körperliche
Empfindungen nicht sowohl ein vorhandenes Übel im Körper entdecken, als
vielmehr es nur besorgen lassen und die menschliche Natur von der besonderen
Beschaffenheit ist (die das Tier nicht hat) durch Aufmerksamkeit auf gewisse lokale Eindrücke das Gefühl
derselben zu verstärken oder auch anhaltend zu machen; da hingegen eine
entweder vorsätzliche oder durch andere zerstreuende Beschäftigungen bewirkte
Abstraktion jene nachlassen und, wenn die letztere habituell wird, gar
wegbleiben macht. Auf solche Weise wird die Hypochondrie, als Grillenkrankheit,
die Ursache von Einbildungen körperlicher Übel, von denen sich der Patient
bewusst ist, dass es Einbildungen sind, von Zeit zu Zeit aber sich nicht
entbrechen kann, sie für etwas Wirkliches zu halten, oder, umgekehrt, aus einem
wirklichen körperlichen Übel (wie das der Beklommenheit aus eingenommenen
blähenden Speisen nach der Mahlzeit) sich Einbildungen von allerlei
bedenklichen äußeren Begegnissen und Sorgen über sein Geschäfte zu machen, die
sobald verschwinden, als, nach vollendeter Verdauung, die Blähung aufgehört
hat. - Der Hypochonder ist ein Grillenfänger (Phantast) von der kümmerlichsten
Art: eigensinnig, sich seine Einbildungen nicht ausreden zu lassen, und dem
Arzt immer zu Halse gehend, der mit ihm seine liebe Not hat, ihn auch nicht
anders als ein Kind (mit Pillen aus Brotkrumen statt Arzneimitteln) beruhigen
kann; und wenn dieser Patient, der vor immerwährendem Kränkeln nie krank werden
kann, medizinische Bücher zu Rate zieht, so wird es vollends unerträglich; weil
er alle die Übel in seinem Körper zu fühlen glaubt, die er im Buche liest. Zum
Kennzeichen dieser Einbildungskrankheit dient die außerordentliche Lustigkeit,
der lebhafte Witz und das fröhliche Lachen, denen sich dieser Kranke bisweilen
überlassen fühlt, und so das immer wandelbare Spiel seiner Launen ist. Die auf
kindische Art ängstliche Furcht vor dem Gedanken des Todes nährt diese
Krankheit. Wer aber über diesen Gedanken nicht mit männlichem Mut wegsieht,
wird des Lebens nie richtig froh werden[3].“
S. 526.
[4] In der Gesamtdiskussion wäre viel zu gewinnen gewesen,
hätte man Kants recht präzise
Unterscheidungen und Phänomen-Definitionen (Melancholie) berücksichtigt. Das ist,
nach meinem Erkenntnisstand, nirgendwo erfolgt, weder literaturhistorisch in
der Motiv-Forschung in den wenigen vorliegenden Studien von Substanz, noch
soziologisch oder in der Psychologie, wo man dazu neigt, die geistige Tradition
ganz aus den Augen zu verlieren.
[5] Die wohl
bekannteste literarische Thematisierung des Phänomens „Hypochondrie“ im
eigentlichen Sinne des Wortes erfolgt in Molières Komödie „Le Malade imaginaire“, („Der eingebildete Kranke“), uraufgeführt im Jahr 1673.
Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
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Carl Gibson
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Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
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Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik
europäischer Geistesgeschichte und anthropologische
Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine
qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur,
Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino,
Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da
Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau,
Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ –
Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der
Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit
der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch
nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel
könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche
Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue
Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen
Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große
Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet –
richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch
gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach
Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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