Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
Michel de Montaignes Essay „De la solitude“- Das Leben in Abgeschiedenheit zwischen profaner Weltflucht und ästhetischer Verklärung
„In
den meisten Schriftstellern sehe ich nur den Menschen, der schreibt, in
Montaigne den, der denkt.“
Montesquieu, Gedanken
Was
veranlasst einen der größten Köpfe seiner Zeit, den erfolgreichen Ratsherrn und
späteren Bürgermeister von Bordeaux, den Aristokraten und Schlossherrn, der mit
Königen, ja selbst mit dem Papst verkehrt, allem zu entsagen und sich für Jahre
in die Einsamkeit eines kargen Turms zurückzuziehen?
Michel de Montaigne, im Urteil
Friedrich Nietzsches einer der intellektuell redlichsten und
wahrhaftigsten aller Schriftsteller, beantwortet diese Frage selbst. Es ist das
stoische Ideal, Ordnung und Ruhe in die
eigene Lebensführung zu bringen, kurz: vernünftig
zu leben.
9.1. Süße Weltflucht in den Turm – Melancholie als Habitus
Michel
de Montaigne, 1533 auf Schloss
Montaigne geboren, zog sich nach einem sehr
erfolgreichen praktischen Leben aus der Gesellschaft, ja selbst aus dem Kreise
seiner Familie zurück, freiwillig, um Einkehr zu halten, um sich so selbst zu
finden, um zur eigenen Wesenheit zu gelangen, zum Selbst, aber auch um sich dem
geistigen Schaffen zu widmen – und das ausschließlich: „Im Jahre Christi 1571, 38 Jahre alt, am 28. Februar, seinem
Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, seit langem der Bürden des
Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde, in voller Lebenskraft in den
Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit die Tage
verbringen wird, die ihm zu leben bleiben. Vergönne ihm das Schicksal, diese
Wohnung der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu vollenden, die er seiner Freiheit,
seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat.“ [1]
Als sich der
geistesverwandte Petrarca seinerzeit ähnlich abrupt aus Avignon in die
Einsamkeit an der Quelle der Sorgue bei Fontaine
de Vaucluse zurückzog, tat er dies aus ähnlichen Beweggründen wie Michel de
Montaigne, primär, um zum
Selbst zu finden, vor allem aber auch, um
sich künstlerisch-produktiv neu zu entwerfen und seine Vita zu stilisieren.
Den Lebensabend aber verbrachte er dann – nicht mehr ganz konsequent – fern der
selbst gewählten Einsamkeit in der heiteren Gesellschaft fürstlicher Paläste.
Montaignes Rückzug hingegen hat von Anfang an etwas existenziell Resolutes,
etwas Endgültiges, obwohl auch er noch einmal, nach neun Jahren genossener und erlittener Einsamkeit im Turm, ins
aktive Leben eintritt, eine große Reise durch Süddeutschland, durch die Schweiz
bis nach Italien unternimmt, um sich bald darauf auch noch als Bürgermeister
der bedeutenden Kultur- und Handelsstadt Bordeaux in die Pflicht nehmen zu
lassen. Hatten sein stoisches Gewissen, die Sorge um das Gemeinwohl und die
Bürgerpflichtflicht seinen etwas egoistisch anmutenden
Selbstverwirklichungsdrang zum Schriftsteller und Denker zurück gedrängt? Waren
in den langen Jahren kontemplativer Beschaulichkeit in Einsamkeit neue
Einsichten herangereift? Hatte sich die - bereits von Seneca vorformulierte Erkenntnis doch noch
durchgesetzt, auch der Zurückgezogene
bedürfe des gesellschaftlichen Austauschs, wolle er nicht geistig
verkümmern, dem Solipsismus oder der selbstzerstörerischen Misanthropie
verfallen?
Was
trieb diesen Geist wirklich in die Einsamkeit? Motor
dieses Rückzugs ist, über den philosophischen Impetus hinaus, vor allem die -
in jener Zeit des Umbruchs und der religiös-politischen Wirren - bestimmende
Einsicht, alles Sein sei vergänglich und unbeständig: „Am Ende gibt es überhaupt kein beständiges Sein, weder in unserem
Wesen noch im Wesen der Dinge ... und der Urteilende und Beurteilte [befinden]
sich in fortwährender Wandlung und Schwankung.“[2]
Das ist die Haltung eines skeptizistischen Perspektivisten, hinter welcher sich
ein bisweilen pessimistisches Weltbild auftut. Das Konstante ist „die natürliche Unbeständigkeit unseres
Verhaltens und Meinens.“
9.2. War Michel de Montaigne ein Melancholiker?
„C‘
est une humeur melancholique ( …)produite par le chagrin de la solitude en
laquelle il y a quelques années que je m‘ estoy jetté, qui m‘ a mis
premierement en teste cette resverie de me mesler d‘ escrire“.
(Es war eine
melancholische Laune, hervorgebracht durch den Kummer über die Einsamkeit, in
die ich mich vor einigen Jahren begeben hatte, die mir zuerst den Gedanken in
den Kopf gesetzt hat, mich mit Schreiben zu befassen.“)[3]
Montaignes
Zurückgezogenheit in die rein kontemplative Kreation ist jedoch kein melancholisches Sein aus Enttäuschung und
Resignation, wie sie bei dem gelangweilten Herzog La Rochefoucauld anzutreffen ist; sie ist keine feige
Weltflucht aus tiefer Schwermut heraus,
sondern ein gezieltes Hinstreben zum individuellen Selbstsein, ohne dass dieses
zur solipsistischen Selbstschau
ausarten würde: „Ich wende meinen Blick
nach innen, und da halte ich ihn fest und lasse ihn verweilen. Jedermann schaut
von sich weg, ich schaue in mich hinein, ich habe es nur mit mir selber zu tun
... ich kreise in mir selbst.“
Die Auseinandersetzung
mit dem Selbst ist immer ein autodynamischer Prozess, der zu neuen Ideen und
zum Kunstwerk führt. Montaigne zieht sich zurück, um nur noch für das
eigentliche Leben da zu sein, für das
schöpferische Leben als künstlerisch-philosophisch Schaffender, als kreatives
Subjekt. Kunst und Leben, also poetisches und denkerisches Schaffen und
vernünftiges Existieren, gehen eine Symbiose ein und verschmelzen miteinander. Einsamkeit wird so für Montaigne zur existenziellen Haltung. Ist Montaigne trotzdem auch einer jener illustren Geister
aus der großen Familie der Melancholiker?[4]
Montaigne selbst hat auch darüber reflektiert und
Position bezogen. Dabei sah er sich nicht als reinen, als „konstitutionellen Melancholiker“, erkannte aber eine leichte
Tendenz zur „melancholischen Disposition“.
Im Versuch einer differenzierenden Selbstcharakterisierung bezeichnete er das
eigene Temperament als „Mitte zwischen
Fröhlichkeit und Schwermut, mäßig sanguinisch und leidenschaftlich.“ Sein Wesen und Gemüt empfand der aufgeklärte
Franzose eher als sensibel und weich, verbunden mit einer gewissen
individuellen Eigensinnigkeit und als solche - Senecas Ausführungen im
Bewusstsein - für das Leben in der Einsamkeit durchaus geeignet, während andere
Personen, „thätige und geschäftige, die
alles angreifen“ ein Leben in Einsamkeit nie ertragen würden.
9.3. Einsamkeit, ein Wert an sich, ist nie Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck.
Ideengeschichtlich
betrachtet reiht sich Montaigne recht bewusst in die Linie antiker
Lebensphilosophen ein, namentlich der stoischen Vorbilder und praktiziert voll
und ganz die - von Seneca (otium
cum litteris) und Petrarca (literarum
amicum) vorgegebene, bücherlesende
Einsamkeit des Gelehrten. Zur Einsamkeit-Auffassung eines Cicero und Plinius hingegen wahrt Montaigne eine kritische
Distanz. Gerade Cicero, das große Vorbild Petrarcas, der Anwalt und öffentliche
Mensch, der im temporären Rückzug aus der Gesellschaft eine Art Jungbrunnen
souveräner Individuen erkennt, erscheint Montaigne eher als ein Typus, der die
Einsamkeit bewusst instrumentalisiert,
der in sie eintaucht, um noch mächtiger
aus ihr hervorzubrechen und sich gesellschaftlich zu behaupten.
Während Montaigne vor allem eine Art „monologische Existenz“
kultiviert, indem er in den Essays - weitaus konsequenter als etwa Augustinus, in den Alleingesprächen oder in seinen Bekenntnissen - wahrhaftige Selbstgespräche führt, was auch sein später Biograph,
der Romanist von Rang Hugo Friedrich[5]
hervorhebt, versteht Cicero sein gesamtes Sein als dialogische Existenz[6].
Deshalb
versteht
Montaigne auch das geistige Schaffen aus der Einsamkeit
heraus nicht im Sinne Ciceros, den er direkt
mit der Bemerkung tadelt: „er wolle seine
Einsamkeit und Ruhe von öffentlichen Geschäften dazu anwenden, um sich durch
seine Schriften die Unsterblichkeit zu erwerben“[7],
auch weil er mit Seneca von Überzeugung ausgeht, echte Einsamkeit und künstlerischer Ehrgeiz stellten entgegengesetzte, sich
widersprechende, ja sich ausschließende Phänomene dar.
Der persönliche Ehrgeiz
als der Drang zum Fortkommen auf welchem Entfaltungsgebiet auch immer, ist dem
seelisch-geistigen „Zur-Ruhe-Kommen“ des
Individuums entgegengesetzt; er verhindert dieses ebenso wie den daraus
resultierenden künstlerischen Antrieb. Wer
einsam lebt, sucht sich selbst, er fragt nach dem was der Mensch ist, er
denkt anthropologisch, ja anthropozentrisch, aber nicht rezeptionsorientiert. Montaigne erinnert dabei an die Worte jenes Denkers, der
sein Ringen um die Kunst mit den Worten umschreibt: „Ich lasse mirs
gefallen, wenn sie auch nur wenige, wenn sich auch nur einer, wenn sie auch gar
keiner verstehet. Er sagte die Wahrheit.“[8] Gemeint
ist natürlich Seneca.
Der in Einsamkeit
Vertiefte erwartet nicht, dass man ihn hört, seine Werke preist und seinen Ruhm
verkündet. Wichtig ist allerdings der konstruktive
Schaffensprozess an sich, weniger die
objektive Gültigkeit des Werkes. Noch weniger gewichtet sind Wertigkeiten
wie Ehre, Unsterblichkeit oder gar Nachruhm. Diesen eitlen Ambitionen wird von
Montaigne eine rigorose Absage erteilt, wenn er den - oben bereits betonten -
Aspekt noch einmal mit den Worten auf den Punkt bringt „Die allerunverträglichste Gemütsart mit der Einsamkeit ist der Ehrgeiz.“[9]
Manche Menschen seien „nur deswegen zurückgegangen, um einen
stärkeren Anlauf zu nehmen und durch einen kräftigeren Sprung eine größere
Lücke in dem Haufen zu tun“[10],
vermerkt Montaigne kritisch pointiert. Cicero, Plinius und selbst Petrarca sehen in ihren Betrachtungen den Rückzug in die Einsamkeit weitgehend als ein
Mittel zum Zweck an, als Stimmungsmedium, um zu einem höheren Ziel zu
gelangen. Montaigne hingegen distanziert sich von diesen
Vereinnahmungen der „solitude“ und
erhöht das Leben in der Einsamkeit zu
einem Wert an sich, wobei er mittelbar Epikurs,
Senecas und Mark Aurels
Phänomen-Analysen und Wertungen gelten lässt. Damit nähert sich der
Franzose stark der religiös motivierten Einsamkeit der Eremiten, Mönche und
Mystiker wobei, diese selbstlos Existierenden das eigene Selbst aufgeben, um im
Gebet oder in der Unio zu Gott zu finden und in Gott aufzugehen. Montaigne, ein
strenger Ethiker und irgendwo auch ein „homo
religiosus“ mit Sinn für echte Einkehr und Pietät, hat auch keine Probleme,
seine Apologie der Einsamkeit zu
legitimieren und zu rechtfertigen. Die Einsamkeit
aus Andacht zu suchen, erscheint ihm als vernünftige Handlung, da sie den
Menschen Gott näher bringt und seine Seele befreit.
Wer
in die Einsamkeit eintauchen will, muss mit dem bisherigen Leben abgeschlossen
haben, konstatiert Montaigne aus eigener Erfahrung: „So muß auch derjenige, der sich aus Verdruß
und Ekel an dem gemeinen Leben in die Einsamkeit begiebt, dieses nach den
Regeln der Vernunft mit Bedachtsamkeit und Überlegung anstellen und einrichten.
Er muß von allen Arten der Arbeit, sie mögen aussehen wie sie wollen, Abschied
genommen haben, und überhaupt die Leidenschaften fliehen, die die Ruhe des
Leibes und der Seele verhindern, und denjenigen Weg erwählen, der sich am
besten für seine Gemüthsbeschaffenheit schicket.“[11]
Die Seelenruhe Epikurs und die affektfreie
Ataraxie der Stoiker ist hier Programm geworden. Montaigne geht sogar so weit, alle beschwerlichen und verdrießlichen Beschäftigungen in der Einsamkeit
konsequent abzulehnen, selbst das aufwühlende Lesen bestimmter Bücher. Er
akzeptiert nur noch leicht zugängliche Werke, Literatur, die ihn animiert,
„kützelt“, ihn tröstet und ihm weitere Anleitungen vermittelt, wie das wahre Leben in Einsamkeit zu
gestalten sei. In der Einsamkeit verharrend, denkt er nicht zuletzt über das Wesen der Einsamkeit nach – und dies im
permanenten Versuch, diesen Zustand zu perfektionieren. Einsamkeit, der Wert an
sich, ist nie Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Es ist nicht bekannt,
was Montaigne wirklich veranlasste, sich in seinen Turm
unweit des Schlosses zurück zu ziehen. Doch mit seiner eindrucksvollen Geste
hat er zugleich den existenziellen Beweis erbracht, dass ein starker Charakter
sehr wohl zehn Jahre lang gemächlich in relativer
Einsamkeit leben und gleichzeitig schöpferisch tätig sein kann. Das Leben in Einsamkeit ist durchaus planbar
und gut zu gestalten, wobei Vernunft, geistige Disziplin und hohe Moral die
unbedingten Voraussetzungen darstellen.
Der einsame Montaigne unterscheidet sich als moderner
Nachrenaissancemensch eben durch das Einbeziehen der Ratio und zahlreicher
psychologischer und psychosomatischer Faktoren von den frühchristlichen
Einsamen und einzelnen Mystikern des Mittelalters, wobei er an das - schon von
Epikur und den Stoikern akzentuierte - Primat der
Vernunft anknüpft. Während der Wüstenanachoret in äußerer Einsamkeit meditiert,
innere Ruhe und Seelenheil zu erreichen sucht, indem er in lebensfeindlichen
Bedingungen ausharrt, um so den Heimsuchungen der Dämonen zu widerstehen;
während ein Mystiker wie Seuse (Suso) seinen Körper mit allen
möglichen Kasteiungen, Fasten, Nachtwachen und sonstigen Schikanen
unmenschlicher Art foltert, quält und dabei über physische Erschlaffung den
psychischen Niedergang fördert und so die Entstehung von gefährlicher Melancholie eher fördert als bekämpft,
setzt Montaigne auf die antiken Erkenntnisse von der gesunden Seele im gesunden Leib und richtet es sich recht
gemütlich in der Einsamkeit ein.
9.4. „Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der Mensch“ – Einsamkeit und Gesellschaft
Fern von Eitelkeit oder
vom Ehrgeiz erfüllt, Nachruhm zu erlangen oder seiner Zeit den Stempel
aufdrücken zu wollen, schuf Montaigne schließlich, nachdem er sich - nach reichlich
genossenem beschaulichen Dasein und reiflicher Überlegung - endlich zum
Schreiben durchgerungen hatte, aus der selbst gewählten Einsamkeit heraus ein
umfangreiches, facettenreiches und zugleich in mancher Hinsicht wertvolles
Werk, nämlich die „Essais“, darunter
auch die bereits zitierte Abhandlung „De la solitude“.
In der Montaigne-Forschung hat man
diesem Werk sicher noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt,
vielleicht auch deshalb nicht, weil der Komplex
Einsamkeit – Melancholie als Phänomen-Beschreibung und literarisches Sujet bisher
noch keine systematische Aufarbeitung erfuhr. Selbst der bekannte Romanist Hugo
Friedrich spricht in seiner bemerkenswert stringenten
Montaigne-Monographie etwas herablassend lediglich von einer „antikische(n) Stilisierung dieses
Einsamkeitsentschlusses.“[12]
Nach Friedrich ist „der Essay, den er der
Einsamkeit gewidmet hat, eine persönlich getönte Paraphrase von entsprechenden
Kernstellen aus den Briefen Senecas. Einsamkeit, das heißt hier:
Beisichselbersein der Seele, eine Sammlung auf sich selbst, ein
Sich-Vergewissern der eigenen Neigungen und Kräfte.“[13]
Mit dieser etwas pejorativ anmutenden Einschätzung wird die Relevanz der Einsamkeit nicht nur als
das verkannt, was sie für Montaigne darstellt, nämlich die Grundbedingung seiner schöpferischen und menschlichen Existenz
schlechthin. Das von Montaigne – wie kaum von einem anderen Denker -
verinnerlichte anthropologische Grundphänomen wird damit auch noch
trivialisiert. An sich ist diese apodiktische Zwangssystematisierung nicht nur
makroperspektivisch betrachtet unzutreffend - sie stimmt auch im Detail nicht.
Bei Montaigne, das sollte nicht
unterschlagen werden, kommt es eben auf die zahlreichen Subtilitäten und
Nuancen an, die nur auffallen, wenn man die Entwicklung der Phänomene
Einsamkeit und Melancholie durch die Jahrhunderte verfolgt. Gleich am Anfang
des Essays heißt es: „Die weitläufige
Vergleichung des einsamen mit dem tätigen und geselligen Leben wollen wir
linker Hand liegen lassen.“[14]
Montaigne weigert sich also, die bei Seneca und Petrarca gehäuft auftretenden Vergleiche zwischen der „Vita activa“ und der „Vita contemplativa“, zwischen dem „Felix solitarius“ und dem „Miser occupatus“ endlos zu wiederholen.
Er setzt deren Kenntnis voraus und geht direkt ins Detail, um neue Aspekte
beizutragen. Interessant, ja innovatorisch ist beispielsweise Montaignes -
paradox anmutende - Definition des
Menschen in seinem Verhältnis zur Einsamkeit. Er unterscheidet nicht
ausschließlich wie bis dahin zwischen einsamen
und geselligen Naturen, sondern er stellt fest: „Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der
Mensch“[15]
- eine Definition, die in der Umschreibung des „Gesellig Ungeselligen“ im Werk von Kant und bei Zimmermann wiederkommen wird. Savonarola, der einsame Mönch in der Zelle und
der Wirker in der Gesellschaft, hatte dies ähnlich gesehen und - im Geist der
Antike mit Aristoteles - betont, der
Mensch könne allein nicht leben, sondern brauche die Gesellschaft [16].
Einsamkeit und Geselligkeit erscheinen
damit als sich bedingende und weitgehend gleichwertige Phänomene, als die
beiden unterschiedlichen Seiten einer Medaille. Der Weise Montaignes ist somit kein idealisiertes, abgehobenes und
elitäres Individuum wie bei einzelnen Stoikern oder in Genie-Vorstellung Arthur
Schopenhauers, sondern er ist - auf ein menschliches Maß reduziert - schlicht
ein „Mensch von Verstand“, der „sich selbst besitzt“[17].
Dieser Mensch wählt aus
Einsicht das zurückgezogene Leben und Schaffen in der Einsamkeit. Hier führt er
das Gespräch mit dem Selbst: „Man muß ein
Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz
und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit
uns selbst unterhalten; und zwar so abgesondert, dass darin keine andere
Bekanntschaft oder Mitteilung fremder Dinge stattfinde.“ [18]
Visionäre wie Jean-Jacques Rousseau,
Cäsaren wie Marc Aurel oder ein absoluter
Monarch wie Friedrich der Große in seinem Refugium Sanssouci werden diesem klaren
Wort der Vernunft nach Descartes beipflichten. Einsamkeit bedeutet demnach Freiheit, Selbstsein und
Selbstverwirklichung im Sinne der Hellenisten. Gleichzeitig kennt Montaigne neben dem philosophisch motivierten Rückzug
auch die religiös bedingte Einsamkeit und die säkularisierte Einsamkeit als
gleichwertig an.
Wahre Einsamkeit kann
sich zum Genuss, zum „herrlichen
Freudenleben“[19]
steigern, eine Sicht, die auch die hedonistisch-eudämonistische
Komponente der Weltflucht zu würdigen weiß. In einer weiteren
Differenzierung verzichtet Montaigne auf die äußere Kulisse der Einsamkeit, auf den
einsamen Ort, wenn er - mit Marc Aurel - betont, der Weise könne „selbst im Gedränge der Paläste einsam sein und sich selbst genießen.“[20]
Als eine Sache des Bewusstseins vollzieht sich der Rückzug im Kopf und abhängig
vom Ort und dem menschlichen Umfeld – genauso wie sich inmitten von Menschen,
in der Partnerschaft, je selbst in der Familie auch die „Vereinsamung“ vollziehen kann. Die Verknüpfung des Ausdrucks „einsam sein“ mit „sich selbst genießen“ verweist
darauf, dass Montaigne nicht die „Vereinsamung“
meint, akzentuiert, sondern eben das positive Phänomen Einsamkeit als
Satisfaktion, ja als Genuss. Montaigne potenziert den Gedanken noch, wenn er im
gleichen Essay vermerkt: „Das ist die
wahre Einsamkeit, deren man mitten in Städten und an den Höfen der Könige
genießen kann.“[21]
Es bedarf also nicht
unbedingt eines Hinterstübchens oder
gar eines idyllischen „Locus amoenus“,
wie ihn Petrarca vor den Toren Avignons in natürlicher Idylle
an der Quelle der Sorgue vorfand; Es
bedarf einzig und allein des konzentrierten Selbstseins, um ausgeglichen, nicht
leidend und glücklich zu sein. Der mit dem Selbst und damit mit dem Kosmos in
Einklang lebende Geist schafft sich sein Glück durch die Freiheit. Die
determinierende Bedingung entfällt. Gerade im Gedränge der Großstadt, wo die negative Vereinsamung am deutlichsten
droht, bietet das positive Phänomen
Einsamkeit in einer Rückbesinnung auf das Selbst eine existenzbewältigende
Lösung. Damit geht Montaigne, bei dem epikureische und stoische Auffassungen zu
einer Synthese zusammenfinden, leicht über die Ausführungen seiner Vorgänger
hinaus. Doch Montaigne ist keinesfalls der Begründer dieser inneren und verinnerlichten Einsamkeit.
Wie oben bereits dargelegt, finden wir sie bereits in speziellen Ausformungen
in der deutschen Mystik, vor allem bei Meister Eckhart, und noch viel früher
bei Marcus Aurelius, dem die äußere
Zurückgezogenheit zu beschränkt erscheint. Kraft seines Bewusstseins hat das
Individuum jederzeit die Möglichkeit, sich auf das Selbst zu besinnen. In der
lebensphilosophischen Schrift „Selbstbetrachtungen“
wird dies angeregt: „Steht es dir ja
frei, zu jeder dir beliebigen Stunde dich auf dich selbst zurückzuziehen (...)
Gönne dir nur immerdar dieses Zurücktreten ins Innere und verjünge so dich
selbst.“[22] Montaigne
bleibt in seinen Ausführungen zum favorisierten Lebenselement auf dem Boden
einer rationalen und empirischen Denkweise. Er denkt anthropozentrisch, während
mystische und metaphysische Überlegungen für ihn unbedeutend sind.
9.5. Vanitas - Der Rückzug aus der Gesellschaft ist auch historisch bedingt
„Einsamkeit
In dieser Einsamkeit / der mehr denn öden Wüsten
Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See:
Beschau’ ich jenes Thal vnd dieser Felsen Höh’
Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten.
Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See:
Beschau’ ich jenes Thal vnd dieser Felsen Höh’
Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten.
Hier / fern von dem Pallast; weit von deß Pövels Lüsten /
Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’
Wie / auff nicht festem Grund’ all vnser Hoffen steh’
Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag vns grüßten.
Die Höl’ / der rauhe Wald / der Todtenkopff / der Stein /
Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’
Wie / auff nicht festem Grund’ all vnser Hoffen steh’
Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag vns grüßten.
Die Höl’ / der rauhe Wald / der Todtenkopff / der Stein /
Den auch die Zeit aufffrist / die abgezehrten Bein.
Entwerffen in dem Muth vnzehliche Gedancken.
Entwerffen in dem Muth vnzehliche Gedancken.
Der Mauren alter Grauß / diß vngebau’te Land
Ist schön vnd fruchtbar mir / der eigentlich erkant /
Ist schön vnd fruchtbar mir / der eigentlich erkant /
Daß alles / ohn ein Geist / den Gott selbst hält / muß wancken.“
Andreas
Gryphius[23]
Doch weshalb zog sich
Montaigne überhaupt aus der Alltagswelt zurück? Der
Rückzug großer Individuen aus der Gesellschaft und ihre Festlegung auf ihren
eigenen Mikrokosmos, ohne den Ehrgeiz zu entwickeln, etwas gesellschaftlich und
politisch verändern zu wollen, sondern ausschließlich ideell-artistisch zu
wirken, ist nicht nur auf philosophische Überzeugungen zurückzuführen. Diese
Haltung ist auch ein Zeitproblem und
hat zeitspezifische, historische Gründe,
nicht erst bei Montaigne.
Als Petrarca in Norditalien und vor allem im Languedoc
aufwuchs, waren die Auswirkungen der Albigenser-Kriege
noch deutlich zu spüren. Der Ausrottungsfeldzug
des Papstes gegen die Katharer vom Piemont bis in die Pyrenäen – von Lenau, und nur von ihm, in einem
leidenschaftlichen Epos für die Nachwelt festgehalten –
hatte die blühenden Städte und Gegenden der Troubadours in Schutt und Asche
gelegt und damit die Kulturlandschaft Europas schlechthin für Jahrhunderte
zurückgeworfen. Das einzige was von der - selbst heute noch von
Kirchenhistorikern als der größte Schandfleck der Christenheit empfundenen -
Schreckenstat übrig blieb, war eine Einrichtung, die auch ein Petrarca immer
wieder im Auge haben und fürchten musste: die
Inquisition. Mit einem Horrorszenario im Hintergrund, gepaart mit ebenso
schrecklichen Pestepidemien, die
einschneidend Unzählige hinwegraffte und einer Aura von Vergänglichkeit in vielen Formen, schuf der Dichter des „Canzoniere“ sein Werk. Schaffen
bedeutete für Petrarca auch Absetzung von
der Zeit und aktives, geistig-künstlerisches Wirken gegen die Zeit.
Montaignes Arbeiten an
den „Essais“ fällt in eine
vergleichbare Krisenzeit der Menschheitsgeschichte,
in die Tage der blutigen Religionskriege
in Frankreich, in die dreißigjährige Auseinandersetzung schlimmster Art
zwischen Katholiken und Protestanten. Die Zeit der Spätrenaissance in Italien,
die Epoche der Reformation in Deutschland, entspricht in Frankreich dem
Jahrhundert Montaignes und ist eine ebenso dunkle Zeit wie die Jahrzehnte der
Katharer-Ausrottung im Languedoc. Wie von ihm selbst drastisch apostrophiert,
lebt der Aufklärer und kritische Rationalist Montaigne, in einem „Jahrhundert der Unwissenheit“. Voltaire sollte es später auf den Punkt bringen: In
solchen Zeiten fallen aufgeklärte
Charaktere vom Format eines Montaigne auf.
Montaigne, ein Philosoph,
herausragend aus einem Heer religiöser Eiferer und Fanatiker, identifizierte
sich keineswegs mit seiner Zeit. Er gab gern zu, sich in seinem Jahrhundert unwohl, unverstanden und unnütz zu fühlen.
Nur war dies noch längst kein Grund zu resignieren, der Apathie oder der
Melancholie zu verfallen. Ganz im Gegenteil: Michel de Montaigne setzte der Dunkelheit seiner Zeit die
individuelle Produktivität entgegen - mit den Essais einen großen
ideengeschichtlichen Wurf schaffend, der immer noch aktuell ist und die Geister
fasziniert.
Trotzdem: Aus heutiger
Sicht betrachtet, sind es in der Tat nicht primär seine Reflexionen über das Leben in Einsamkeit als Phänomenbeschreibung,
die bei Montaigne nachwirken, sondern seine gelebte Einsamkeit: Der große,
ja einmalige Gestus, sich zehn Jahre in
einen Turm zurückzuziehen und sich -
im Dienst von Literatur und Geist - der Gesellschaft zu versagen, obwohl er
als einer ihrer exponiertesten intellektuellen Kapazitäten gelten kann,
beeindruckt weit mehr und wirkt katalysierend auf seine geistigen Nachfahren in
Frankreich.
[3] Zitiert nach:
Ludwig Völker: „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher
Melancholie-Gedichte. Mit Ausblicken auf die europäische Melancholie Tradition
in Literatur und Kunstgeschichte. Mit 36 Abbildungen. Herausgegeben von Ludwig
Völker, Stuttgart 1983. Stuttgart 1983. S.
528.
[4]
In der Monographie: Jean Starobinski: Montaigne. Denken und
Existenz. München 1986, setzt der Biograph den Ausdruck „Melancholie“ wohl gezielt ein (S. 40), um darauf hinzuweisen, dass
Montaigne – aus der Einsamkeit heraus
– überhaupt erst zum Schreiben kam. Von zentraler Bedeutung erscheint
-Starobinski eine vielsagende Notiz des Philosophen, in welcher die Antriebe
zum Schreiben explizit angesprochen werden: „C‘
est une humeur melancholique ( …)produite par le chagrin de la solitude en
laquelle il y a quelques années que je m‘ estoy jetté, qui m‘ a mis
premierement en teste cette resverie de me mesler d‘ escrire“. (Es war eine
melancholische Laune, hervorgebracht durch den Kummer über die Einsamkeit, in
die ich mich vor einigen Jahren begeben hatte, die mir zuerst den Gedanken in
den Kopf gesetzt hat, mich mit Schreiben zu befassen.“ Das Leben in Einsamkeit
war also nicht nur ein Vergnügen, Muße und Muse, der Einsame litt auch unter
seiner Selbst-Isolation im Turm. Die „vita cotemplativa“, das rein
beschauliche Leben, reicht nicht mehr aus. Wie schon von Petrarca erkannt, muss der Dichter und Denker auch
sagen,
niederschreiben,
was er denkt und erleidet, wenn die Einsamkeit nicht zum Überdruss führen soll.
[7] Gesammelte
Schriften Michel de Montaignes. Historisch-kritische Ausgabe. Übertragen von J.
J. Bode. Herausgegeben von O. Flake und W. Weigand. München 1915. Bd. 2, S. 127.
Weiterhin kurz zitiert als „Montaigne“. Berücksichtigt wurden auch:
Montaigne: Oeuvres complètes, Gallimard 1962,
bzw.:
Montaigne, Michel de: Essais, Versuche nebst des
Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz, Zürich 1992.
[10]Ebenda.
[13] Ebenda, S. 233.
[16]
Vgl. dazu das entsprechende Zitat in dem Kapitel „Einsamkeit und Gesellschaft bei Savonarola“ weiter oben.
[18] Ebenda, S. 120.
[19] Ebenda, S. 128.
[20] Ebenda, S. 115.
[21] Ebenda, S. 118.
[23] Andreas Gryphius (1616-1664),
dessen Heimatstadt Glogau im Dreißigjährigen Krieg zerstört wurde, und
Montaigne, der die französischen
Religionskriege erlebte, sind - fast
- Zeitgenossen, die aus den zerstörerischen Ereignissen ihrer Zeit
existenzielle Schlüsse ziehen und diese auch poetisch-philosophisch umsetzen.
Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
Deutsche Digitale Bibliothek:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/entity/111591457
Carl Gibson
Links, Bücher von Carl Gibson in wissenschaftlichen Bibliotheken, national und international:
WordCat:
WordCat:
DNB (Deutsche Nationalbibliothek):
KIT KVK (Virtueller Katalog Karlsruhe)
Deutsche Digitale Bibliothek:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/entity/111591457
Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
|
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik
europäischer Geistesgeschichte und anthropologische
Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine
qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur,
Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino,
Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da
Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau,
Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ –
Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der
Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit
der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch
nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel
könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche
Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue
Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen
Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große
Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet –
richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch
gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach
Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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