Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
7. „Einsamkeit“ bei Jaspers und Heidegger - Exkurs
In der Einschätzung der
Relevanz des anthropologischen Phänomens „Einsamkeit“
besteht bei Jaspers und Heidegger weitgehend Konsens. Der Grund dafür dürfte
darauf zurückzuführen sein, dass Jaspers und Heidegger, die wohl
bedeutendsten Nietzsche-Interpreten der
neusten Zeit, in auch diesem Punkt auf Nietzsche zurückgreifen und dessen Kritik des Massendaseins
weiterentwickeln.
Karl Jaspers geht zunächst davon aus, dass der Mensch, das „zoon politikon“ des Aristoteles, von Natur aus in Gemeinschaft lebt.
Schopenhauer spricht in diesem Zusammenhang vom „Geselligkeitstrieb“. Heidegger hingegen bezeichnet die soziale Ausrichtung
des Menschen und seine gemeinschaftliche Art des Zusammenlebens als „Mitsein“ – „Dasein ist wesenhaft Mitsein.“[1]
Die Einsamkeit, das „Alleinsein“, ist
lediglich „ein defizienter Modus des
Mitseins“[2].
Von diesem gemeinsamen
Ausgangspunkt, der nicht überbewertet werden darf, erfolgt dann die eigentliche
differenzierte Absetzung. Nietzsche hatte, wie bereits oben ausgeführt, nachhaltig
und mit aller Schärfe immer wieder die Auffassung vertreten, das
Leben in der Gemeinschaft mache gemein und der Umgang mit den Vielen zerstöre
das Selbst. Die sozial eingebetteten Existenzphilosophen und
Hochschulprofessoren Jaspers und Heidegger teilen diese Kritik trotzdem. Nach Jaspers vollzieht sich der Durchbruch zur Existenz notwendig in der Einsamkeit der einsamen Seele. Keine Gemeinschaft kann dabei
behilflich sein. Und auch jene Menschen, die der Einsame zur Kommunikation
nötig hat und die eine Erweckung der Existenz fördern, repräsentieren im Grunde
keine eigentliche Gemeinschaft – eine einsame Seele trifft die andere einsame
Seele. Nietzsches in „Also sprach
Zarathustra“ formulierter Appel, aus
den Einsamen von heute, möge ein neues, auserwähltes Volk entstehen –und aus
diesem dann der Übermensch, schwingt in Jaspers Feststellung mit. Die Masse hingegen zerstört
die Existenz. Deshalb ist Massendasein
ein Dasein ohne Existenz.[3]
„Unter
Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich“[4],
verkündet Nietzsche. Karl Jaspers gebraucht fast die gleichen Worte, um dasselbe
Problem zu umschreiben: „Im naiven Dasein
tue ich, was alle tun, glaube, was alle glauben, denke, was alle denken.“[5]
Der Einzelne verliert seine Identität, er gibt sein Selbst auf, noch bevor er
es richtig gesucht und gefunden hat.
Heidegger definiert diese Seinsweise des Massendaseins
als das „Man“. Der Mensch ist nicht
er selbst – Nicht der Einzelne denkt und handelt, sondern das „Man“, die allgemeine Meinung.[6] Der
Mensch ist verloren in der Öffentlichkeit des „Man“. Als ein dem Massendasein
Ausgelieferter, ja Verfallener lebt der Einzelmensch unreflektiert in der Uneigentlichkeit.
Das schon in der Antike
akzentuierte Selbst-Sein, dieser zentrale Wert, der immer wieder in
Zusammenhang mit der Einsamkeit gesehen wurde, das Sein in der Eigentlichkeit, wird im „Man“ zunichte gemacht. Wo die öffentliche Meinung regiert, muss das
Individuum, das seine geistige Souveränität wahren will, sich in die Einsamkeit
zurückziehen.
Diese Einsamkeit aber
darf nicht, das deutet schon Nietzsche an, zum Selbstgenuss werden. Die Existenz kann
auf Dauer nicht in verschlossener Einsamkeit bestehen, denn „wo die Einsamkeit, in der sich die Existenz
verwirklicht, in der Verschlossenheit verfestigt, da entsinkt notwendig die
Existenz.“[7]
Die Einsamkeit bleibt „offen für andere Existenz,
ja sie erfordert die Bewährung in der Berührung mit anderer Existenz.“[8]
Jaspers erkennt, vielleicht deutlicher als Nietzsche, der als Lyriker
auch die mystische Verinnerlichung der Einsamkeit genießen kann, die
Notwendigkeit einer existenziellen Gemeinschaft. Für Heidegger ist diese notwendige Begegnung das eigentliche
Mitsein.
Wie sich Einsamkeit und
Gemeinschaft einander bedingen, so bedingen sich auch Selbstwerdung und Gespräch[9].
Jaspers kommt deshalb zur Schlussfolgerung: „Ich kann nicht selbst werden, ohne in
Kommunikation zu treten, ohne einsam zu sein. In aller Aufhebung der Einsamkeit
durch Kommunikation wächst eine neue Einsamkeit, die nicht verschwinden kann,
ohne dass ich selbst als Bedingung der Kommunikation aufhöre.“[10]
8. Der „Neue Mensch“ – eine Konsequenz der Einsamkeit? „selbstestes Selbst“ und Apologie des Selbst bei Lenau und Nietzsche - Exkurs
Diese
zunächst etwas gewagt erscheinende These drängt sich geradezu auf, wenn man
versucht, die Essenz einer zweitausendjährigen Einsamkeit-Tradition
zusammenzufassen. Der selbst gewählte Weg in die Einsamkeit ist kein Rückzug,
der mit Resignation verbunden ist; das ist vielmehr der Weg in die
Eigentlichkeit des Daseins, der Weg zum Selbst. Wie mehrfach dargelegt, ist das
Selbst für viele Stoiker, für Seneca und Cicero, für Petrarca und Montaigne, der Wert schlechthin. Alle anderen
Werte, die Ruhe der Seele, die Autarkie des Bewusstseins, die individuelle
Freiheit, sind vom autarken Selbst abhängig.
Auch Lenau, der seit seiner Jugend stoisch
beeinflusste Dichter, erkennt konsequenterweise dann in der Poesie sein „selbstestes Selbst“[11],
richtungweisend für Nietzsche, der wiederum „das Selbst“ über alle anderen Werte erhebt: Selbst und Leib sind bei Nietzsche identisch, wobei Seele und Geist
nur „Etwas“ am Leibe ausmachen,
während der „Leib“ als die „Vielheit mit
einem Sinne“[12]
definiert wird.
Das Selbst
ist das dominierende Prinzip. Es steht über dem Ich: „Es herrscht und ist auch des Ichs Beherrscher.“[13]
Alle Stoiker seit Seneca und auch Lenau empfinden das wahre Sein in der Einsamkeit als
konstruktiv-produktives Selbst-Sein. Nietzsche meint, wenn er vom Selbst spricht, immer das „schaffende Selbst“[14],
also den „Schaffenden“, den „Einsamen“.
Das Selbst
ist bei Nietzsche ein dynamisches Prinzip; es darf weder in sich
zum Stillstand kommen und erstarren, noch darf es, was im Buddhismus, in der
Mystik und im asketischen Christentum erstrebt wird, abgetötet werden. Das Selbst töten bedeutet nach Nietzsche, das
Leben abwürgen. Denn das Selbst ist das Leben, das „sich immer selber überwinden muß“[15].
Die Unzufriedenheit mit dem uneigentlichen
Massendasein treibt die großen Individuen in die Einsamkeit. Hier aber wandelt
sich der zum Selbst-Sein gelangte Einsame zum Schaffenden.
Mit seinem
Werk, das als vorweggenommenes Gespräch mit ebenbürtigen Geistern gelten kann
und das seine Weiterentwicklung dokumentiert, will der Einsame über sich hinaus
zum besseren Selbst, zum höheren und humaneren
Menschen. Dieses aufwärtsgerichtete Ziel verfolgt Nietzsches Zarathustra,
wenn er verkündet: „Nicht fort sollst du
dich pflanzen, sondern hinauf! (...) Einen höheren Leib sollst du schaffen,
eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du
schaffen.“[16]
An anderer Stelle wird Nietzsche noch konkreter:
„Wachet und horcht, ihr
Einsamen! Von
der Zukunft her kommen Winde mit heimlichem Flügelschlagen; und an feine Ohren
ergeht gute Botschaft. Ihr Einsamen von
heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr
euch selber erwähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: - und aus ihm der
Übermensch.“[17]
8.1. Die Suche nach dem „Humanum“ – Absage an den Irrweg „Übermensch“
Nietzsches
Tendenz ist klar; die neue Qualität
Mensch soll aus dem aus der Selbstentfremdung ausgetretenen und zum eigenen
Selbst gelangten Einsamen hervorgehen. Suspekt ist jedoch die Tatsache,
dass Nietzsche, der sonst immer für das große
Individuum plädiert, den Einzelnen in einen überakzentuiert-hypertrophen
Elitismus, im „Volk“, aufhebt.
Die
Konzeption des „gesellschaftlichen
Menschen“[18],
darauf verweist Heinrich Rombach[19] in seinem Nietzsche-Exkurs,
bleibt also erhalten.
Einerseits
muss Nietzsche in seinem mythopoetischen Entwurf
„Zarathustra“ aus biologischer Notwendigkeit zu diesem Modell greifen, da sich der Einsame allein weder fort- noch
hinaufpflanzen kann. Andererseits ist zu bedenken, dass der Einzelne, der
wesensgemäß immer nur er selbst sein kann, in dem übergeordneten Volk
relativiert, wenn nicht gar vernichtet wird. Eine Gemeinschaft Einsamer, die im Mitsein, im Gespräch stehen, eine
existenzielle Gemeinschaft, ist realisierbar, nicht aber ein - aus vielen
unterschiedlich gearteten Individualitäten zusammengesetztes - Volk der Einsamen.
Ebenso
wirklichkeitsfremd ist die Utopie des „Übermenschen“.
Der auch von Nietzsche nur negativ
definierte Übermensch, der sich zum gegenwärtigen Menschen verhält wie
dieser zum Affen, muss, im Sinne Goethes, als
ein Entwurf zum Höheren hin, als eine regulative Idee, verstanden werden.
Nietzsches
Übermensch steht für einen qualitativen
Sprung in einen - unserem Denken nicht mehr zugänglichen - Bereich.
Tangiert wird die Ebene des Außermenschlichen,
des Nichtmenschlichen, vielleicht
sogar des Unmenschlichen. Nietzsches Konzeption des Übermenschen und des
suggerierten Weges dorthin muss als eine dem -tatsächlichen - Menschsein unangemessene Lösung
zurückgewiesen werden, da dieses ideologisch
verfängliche Dogma, einmal in pervertierte Gehirne geraten, das bereits
erreichte Menschsein in primitivste Bestialität zurückwerfen kann.
Die Suche nach dem Humanum, das Nietzsche, berücksichtigt man das Gesamtwerk,
ungeachtet manch schriller Töne, doch nie aufgegeben hat, ist auch für Lenau charakteristisch.
8.2. Lenaus „Homo-Novus-Konzeption“ nach Amalrich von Bene
Bei Lenau, der als aufklärender Humanist in
der Tradition Lessings und Schillers steht, erscheint der „neue Mensch“ also nicht radikal als „Übermensch“, obwohl der
Begriff seiner Zeit – allein schon über
Goethes „Faus“t[20]
recht geläufig ist, sondern als „Gottmensch“.
Dieser Gottmensch, das ist - nach Lenaus
Auffassung - der human gewordene, sich
all seiner menschlichen Möglichkeiten bewusste Mensch.
Lenau entwirft diese Homo-Novus-Konzeption, die im Albigenser-Epos von einem
Katharer-Neophyten formuliert wird, in
Absetzung zum konventionellen Christentum, dafür aber in konsequenter
Rückbesinnung auf Amalrich von Bena und in Verknüpfung mit dem Hegelianismus jener Zeit:
„Der volle
Christus ist erschienen nicht auf Erden,
Sein göttlich
Menschenbild muß noch vollendet werden.
Einst wird das Heil der Welt Erlösung sich vollbringen,
Wenn Gott und Mensch im
Geist lebendig sich durchdringen.
Mag auch das Jesusbild, der Widerschein den Sinnen,
Im regen Strom der Zeit verzittern und zerrinnen;
Wenn alle Zeugnisse von Jesus auch zerschellten,
Der Gottmensch ist der
Kern, das Herzlicht aller Welten.“[21]
Das ist eine
repräsentative Textstelle, bei weitem jedoch nicht die einzige. In den von anthropologischen Fragestellungen bestimmten
Ideendichtungen kreist Lenaus Denken immer wieder um das Bild eines „neuen Menschen“. Dabei ist zu betonen,
dass Lenau keine fixe Vorstellung verfolgt, sondern dass
er, durchaus im Sinne der Strukturanthropologie, das für die Epoche
charakteristische Bild des Menschen in seiner das Bewusstsein der Zeit
überragenden Selbsterhebung darstellt.
In „Don Juan“ erscheint der „neue Mensch“ als dionysische Existenz:
in „Savonarola“ ist es -eben nicht - die Titelfigur, der tragische Held und Reformator, welcher die Kennzeichen des neuen Menschen in sich trägt, sondern der weitaus
leidenschaftlicher gestaltete Humanist
Mariano, der Gegenspieler Savonarolas. In „Faust“ ist es ähnlich. Hier ist – den Vorstellungen der Schwarzen
Romantik in der endlichen Literatur rund um Byron verpflichtet – der Teufel selbst die
treibende Kraft und somit die positive Figur der Dichtung, Lenaus über den
Dingen stehender Mephistopheles.
Signifikant
ist vor allem folgende Textstelle, in welcher ein klarsichtiger Mephistopheles dem naiven Faust den Weg zum neuen Menschen entwirft. Der
- in der Strukturanthropologie
akzentuierte - „Bewusstseinssprung“[22],
der die Totalität des Menschen erfassende „Lebenssprung“[23],
wird hier geradezu programmatisch eingefordert:
„Mein Faust,
ich will dir einen Tempel bauen,
Wo dein Gedanke ist als Gott zu schauen.
Du sollst in
eine Felsenhalle treten
Und dort zu deinem eignen Wesen beten.
Dort wirst du’s einsam finden, still und kühl:
Tief unten
hörst du fern das Weltgewühl,
Wie von den
ätherklaren Alpenzinnen
Ein Wandrer
unten hört die Bäche rinnen.
Du kannst das
Los des Mannes dort genießen,
Wie er die
Weltgeschichte wird beschließen.
Doch sieh dich
vor, dass du nicht wirst zum Spotte.
Erinnre dich
in Welschland jener Grotte;
Dort lagert
tief am Boden böse Luft,
Entstiegen
gärungsvoller Erdenkluft;
Doch in den
obern Schichten ist’s gesund,
Und atmen kann
dort nur, wer mit dem Mund
Ein Hochgewachsner aus der Tiefe taucht;
Doch wer,
kurzbeinig, einen Herrn noch braucht,
Der Hund, das
Kind in jener Grott’ ersticken.“[24]
Das eigene
Wesen und damit den Lauf der Dinge kann nur der zum vollen Bewusstsein, zum Selbst gelangte Einsame, fern vom
Weltgewühl (Seneca), der Hochgewachsene, der keinen Herrn mehr braucht, erreichen. Das
Mittel zu diesem Ziel besteht in dem über die Autarkie des Bewusstseins
hinausreichenden Bewusstseinssprung, in
der Selbsthebung. Dazu aber fehlt dem nihilistischen Melancholiker Faust,
dessen Glaube an den Menschen zutiefst erschüttert ist, die Kraft. Unfähig, die
regulative Idee des „Neuen Menschen“
anzunehmen, verfällt er in Resignation. Wie bereits betont, steht Lenau mit seiner Suche
nach dem Wesen wahren Menschseins, mit seinem Streben nach einem Humanum in
einer langen ethischen Tradition, die in der deutschen Literatur bei Gotthold
Ephraim Lessing einsetzt, und über Herder, Schiller und Goethe bis zu Thomas Mann und über diesen hinaus verfolgt werden kann.
Nietzsche hingegen setzt sich mit seiner Übermensch-Konzeption bewusst von dieser
Linie ab – er, der gefährliche Denker, will
unbedingt provozieren, ja er muss das Denken seiner Zeit herausfordern, wenn er
gehört werden will.
8.3. „Idemität“ und „Konkreativität“ – Der „menschliche Mensch“!
Zur Strukturanthropologie Heinrich Rombachs. Exkurs
Und das
gelingt ihm auch. So setzen beispielsweise die utopischen Expressionisten, etwa Georg Kaiser in dem Drama „Die Bürger von Calais“, Nietzsches Übermenschen einen geläuterten
neuen Menschen christlicher Prägung entgegen. Doch auch dieser Entwurf geht mit der Bewegung unter.
Die
konsequenteste und zugleich differenzierteste Antwort auf Nietzsches
Herausforderung gibt die moderne Strukturanthropologie mit ihrer Konzeption des
„Neuen Menschen“. Der „Neue Mensch“ ist, nach Heinrich Rombachs Ausführungen, der der Selbstentfremdung enthobene und auf Selbsttransparenz gestellte Mensch.
Seine bestimmenden Elemente sind, strukturanthropologisch-hermetisch
ausgedrückt, „Idemität“ und
„Konkreativität“.Alle großen Einsamen, das konnte bisher gezeigt werden,
suchten und fanden in der Einsamkeit,
in der Meditation, im künstlerischen Schaffensprozess das wesensgemäße
Selbstsein. „Idemität“ bezeichnet, in
besonderer Affinität zur Problematik, die „entfremdungslose
Existenz“[25],
die ihre „eigene Welt mit sich bringt und
nur in dieser möglich ist und erlebt werden kann.“[26]
Die Aufhebung der Selbstentfremdung, die „Idemität“,
wird durch „gelingende Genese“[27]
erreicht, im „Augenblick der religiösen
Einsicht“[28]
ebenso wie „im urschaffenden Geschehen
der Kunst“[29].
Schopenhauer erreicht die Idemität im totalen
Aufgehen in der Einsamkeit – Er fühlt sich in ihr, wie der
Fisch im Wasser. Lenau erreicht sein „selbstestes Selbst“, die Identität, in den glücklichsten Stunden
seines Kunstlebens, in der „Poesie“. Eine
„veritable Idemität“[30]
erlebt der Einzelne dort, wo die eigene
Welt mit der Welt des Ganzen übereinstimmt.
Das zweite
Schlüsselphänomen, das den „Neuen
Menschen“ der Strukturanthropologie charakterisiert, ist die „Konkreativität“.
Dieses Grundwort der Hermetik besagt, „dass der Mensch mehr aus der Realität gewinnen kann, als im Horizont
seiner Erwartungen und Planungen liegt, nämlich das, was die Wirklichkeit aus
sich selbst heraus zu setzen und zu kreieren vermag.“[31]
Er ist nicht nur kreativ, sondern „konkreativ“.
Der neue, auf Konkreativität gestellte Mensch ist sich
der Selbsttranszendenz, die in ihm und in der Natur liegt, doch im Verborgenen,
im Hermetischen wirkt, bewusst. Deshalb wird seine Berührung mit der Natur zur erhöhenden,
selbsttranszendierenden und wesensbestimmenden Begegnung, zur „konkreativen Begegnung“[32].
Den zu einer höheren Einheit, zu einem Wesenswandel führenden hermetischen
Prozess, den Novalis die „Ehe
von Natur und Geist“[33]
nennt, gestaltet Lenau, vom naturphilosophischen Denken der
Zeit inspiriert, in seinem vierten Waldlied:
„Sehnsüchtig
zieht entgegen
Natur auf
allen Wegen,
Als schöne
Braut im Schleier,
Dem Geiste,
ihrem Freier.“[34]
Der „menschliche“ Mensch geht den Weg der Hermetik. Sein Ziel ist nicht das elitäre
Hinauf, das Absetzen von anderen, sondern die grundsätzliche Wesensumwandlung. Wie die Hermetik, im Gegensatz zur
wissensvermittelnden Hermeneutik, das
Sein des Menschen verändert, so bewirkt der hermetische Weg des zukünftigen
Menschen, das aus „gesellschaftlicher
Idemität menschliche Idemität werde“[35].
Demnach handelt der menschliche Mensch nicht „im Begriffe“ des Menschen,
sondern in seinem „Geiste“[36].
Das bedeutet, dass die „Menschlichkeit“
zum höchsten „stilistischen Postulat“
erhoben wird. Heinrich Rombach verdeutlicht diesen Weg, indem er sich
kritisch mit den wichtigsten Repräsentanten des „gesellschaftlichen Menschen“, mit Hegel, Feuerbach und Nietzsche,
auseinandersetzt.
Hegel fasste die Geschichte des Menschen als „Wesensgeschichte“ auf. Das wird
anerkannt. Gleichzeitig aber missverstand Hegel die Wesensgestalten als Systeme und setzte
seine logische, den Weltgeist in seiner Selbstentfaltung beschreibende
Verfahrensweise, an die Stelle einer Differentialinterpretation. Die Autogenese
des „Geistes“ verdrängt damit das „Humanum“,
die Autogenese des „Menschengeistes“, auf die es eigentlich ankommt. Hegel scheitert an der Tatsache, dass er, statt aus
dem Phänomen heraus den eigenen Geist in das Phänomen hineininterpretiert und
damit ganz essentielle Werte wie das Humanum verkennt.[37]
Feuerbach fasst bereits das Phänomen der Idemität und
erkennt die Notwendigkeit der „Selbsterhebung“,
doch fehlen ihm noch die begrifflichen Mittel.[38]
Auch für Nietzsche ist die Idemität das „entscheidende Ziel und Kriterium“. Hier steht das bewusste
Schöpfertum im Vordergrund. „Nietzsche
hat wie kein Philosoph zuvor, die ‚Selbsttranszendenz’ zur ontologischen
Grundcharakteristik des Seienden gemacht. Alles Leben ist Selbstübersteigerung
zu höherem Leben, mächtigeren Leben.“[39] Unbekannt
bleiben Nietzsche aber das Phänomen
der Autogenese und der Prozess der
Selbsterhebung. Den qualitativen
Sprung vom Biologischen ins Anthropologische schafft Nietzsche –nach Rombach -
nicht. Sein Übermensch steht dem Tier näher als dem Menschen. Deshalb setzt
hier auch die scharfe Korrektur der Strukturanthropologie ein und weist den elitär-utopischen Entwurf Nietzsches
zurück. Die realistische Lösung, der „menschliche
Mensch“, tritt an die Stelle des utopischen Konstrukts: „Es erscheint uns wichtiger, das
Entwicklungsziel der Menschheit darin zu sehen, dass sie eine Stufe des Humanum
erklimmt, als darin, über den Menschen hinaus zu zielen. Das volle Wesen des Menschen ist noch nicht erreicht. Der Mensch
wird ‚menschlich’ nicht übermenschlich, wenn er eine höhere Stufe erreicht.“[40] Lenau würde hier voll zustimmen. In einer leichten Abwandlung der oben zitierten
Textstelle[41]
kann man abschließend sagen:
Der volle Mensch ist
erschienen nicht auf Erden,
Sein göttlich Bild muss
noch vollendet werden.
[2] Ebenda.
[8] Ebenda.
[9] Meinen eigenen Weg in die Auseinandersetzung mit
Fragen der modernen Existenzphilosophie beschreibe ich in „Allein in der
Revolte“, u. a. in dem Kapitel: „Werke der Freiheit“
– philosophische Orientierung bei Rudolph Berlinger“.
[11] NL, SWB, Bd. 3, S. 85
[12] Also sprach Zarathustra, S. 35.
[13] Also sprach Zarathustra, S. 36.
[14] Ebenda.
[15] Also sprach Zarathustra, S. 144.
[16] Also sprach Zarathustra, S. 96f.
[17] Ebenda.
[19] Mehr zu Heinrich Rombach in „Der „Philosoph“ Heinrich
Rombach –
„Phänomenologie der Freiheit“ – in: Carl Gibson, Allein in der Revolte, Dettelbach, 2013.
[20] Verächtlich und im Hohn, hinweisend auf die Diskrepanz
zwischen vermeintlicher Größe und unzulänglichem Sein in Angst. Der Erdgeist zu
Faust und über ihn: („Welch erbärmlich Grauen/ Faßt Übermenschen dich!“)
[21] NL, SWB, Bd. 2, S. 319f.
[22] Rombach, S. 126.
[23] Ebenda.
[24] NL, SWB, Faust, Bd. 2, S. 86.
[25] Rombach, S. 124.
[26] Ebenda.
[27] Rombach, S. 123.
[28] Ebenda.
[29] Ebenda.
[30] Ebenda.
[31] Rombach, S. 128.
[32] Ebenda.
[33] Rombach, S. 129.
[34] NL, SWB, Bd. 1, S. 449.
[35] Rombach, S. 422.
[36] Ebenda.
[37] Rombach, S. 422.
[38] Ebenda.
[39] Rombach, S. 412ff.
[40] Rombach, S. 414ff.
[41] Lenau, Die Albigenser, „Der volle Christus ist
erschienen nicht auf Erden,/ Sein göttlich
Menschenbild muß noch vollendet werden.“
Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
Deutsche Digitale Bibliothek:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/entity/111591457
Carl Gibson
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Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
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Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik
europäischer Geistesgeschichte und anthropologische
Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine
qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur,
Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino,
Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da
Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau,
Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ –
Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der
Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit
der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch
nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel
könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche
Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue
Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen
Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große
Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet –
richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch
gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach
Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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