Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
6. Friedrich Nietzsche, der Einsamste unter den Einsamen?
Absolute Einsamkeit, extreme Vereinsamung und schwärzeste Melancholie[1]
„Nietzsche mit seinem äußerst eintönigen äußeren Leben
ist der Beweis dafür, dass das in der Einsamkeit entwickelte Denken an sich ein
gewaltiges Abenteuer ist.“
Albert Camus,, Tagebücher, 1935-
1951.
„Ich
bin ruhig, aber von schwärzester Melancholie.“
Nietzsche, Brief an Peter
Gast.
„Ich
selber bin sehr arbeitsam;
wenn
ich aus meiner Arbeit zu mir komme, bin ich aber die Beute der Melancholie – das ist nicht zu ändern.
Ich sehe und weiß, wie groß meine Vereinsamung
ist.“
Nietzsches Brief an die Schwester,1883.
Unter allen Dichtern und
Denkern der Neuzeit ist Nietzsche mit Sicherheit derjenige, der das Phänomen „Einsamkeit“ am tiefsten verinnerlicht
hat.
6.1. Wesensgemäße Daseinsform und Schaffensbedingung der Werke der Einsamkeit.
„Einsamkeit“,
in
den vielen Facetten, graduellen Abstufungen und Erscheinungsformen, beginnend
mit dem faktischen Alleinsein, das
einen dauerhaften Existenzzustand Nietzsches darstellt, über Vereinsamung, schwärzeste Melancholie bis hinein in die Abgründe
menschlicher Verzweiflung, ist sie die
ihm wesensgemäße Daseinsform und die Schaffensbedingung überhaupt. Weite Teile
der Werke Nietzsches sind Werke der
Einsamkeit.
Wie kaum ein anderer vor
ihm, kennt der belesene Altphilologe Nietzsche die Entwicklungsgeschichte dieses Phänomens
aus erster Hand. Sehr präzise exemplifiziert er die Problematik bereits an
Heraklit, also an einem
hervorstechenden Charakter vorsokratischen Denkens, der in seinem distanzierten
Auftreten zur Gesellschaft bestimmt nicht weniger einsam war als seine
Zeitgenossen Empedokles, Demokrit oder zwei Jahrhunderte später Diogenes von
Sinope, der
Radikalphilosoph aus der Tonne.
Friedrich Nietzsche kennt die Trostschriften Senecas bereits seit seiner
Schülerzeit in Pforta. Später studiert er die Petrarcas Abhandlungen über das
einsame Leben, liest den Essay des geschätzten Montaigne über die Einsamkeit
und widmet sich deren Thematisierung aus der Sicht des verehrten Vorbilds
Schopenhauer bis ins letzte Detail. Zudem ist Nietzsche, wie aus
zahlreichen indirekten Zarathustra-Zitaten zu erkennen, gut mit dem mystischen Erleben der Einsamkeit vertraut.
Ferner rezipiert er als Dichter die Motiv-Gestaltung in der Empfindsamkeit und Romantik.
Koryphäen
der Einsamkeit wie Lenau sind für Nietzsche, der sich über
Heine und dessen vehementer Romantikkritik mit
dieser literarischen Strömung intensiv auseinandersetzen wird, von großer
Wichtigkeit, vor allem für den Lyriker in ihm, weil er das besondere Sujet fast
ausschließlich poetisch-lyrisch umsetzen wird - in den „Dionysos-Dithyramben“ oder in „Vereinsamt“
ebenso wie in seinem „Zarathustra“.
Trotz seines nachweisbar enormen Detailwissens verfasste Nietzsche keine
systematische Abhandlung über die Einsamkeit in abstrakter Prosa. Wenn er über
den an sich subjektiven Lyrismus hinausgeht, entscheidet er sich für die fragmentarische Kurzform, für den –
schon von Schopenhauer – exemplarisch praktizierten Aphorismus.
6.2. „Also sprach Zarathustra“[2] - Nietzsches großer „Dithyrambus auf die Einsamkeit“
Alle Einzelgedichte,
Aphorismen und Sentenzen zur Thematik überragt eben dieser große mythopoetische
Entwurf „Also sprach Zarathustra“,
jene philosophische Dichtung der Sonderklasse, die Nietzsche selbst „einen
Dithyrambus auf die Einsamkeit“[3]
genannt hat.
Dieses teils hochpoetische
Lehrgedicht, von seinem Schöpfer in „azurne
Einsamkeit“[4]
versetzt, enthält, nach Nietzsches Zeugnis, bezeichnenderweise auch „jenes einsamste Lied“, das „je gedichtet worden ist“, das „Nachtlied“[5].
Nietzsche ist bekanntlich kein Systemphilosoph, vielmehr
ist er ein Zersetzer der unnatürlichen, statischen Substanz – und des Systemdenkens.
Richtungweisend für die Gegenwart setzt bereits Nietzsche auf die - erst in
jüngster Zeit voll entwickelte - Struktur.
Die „Struktur“ ist, nach Heinrich
Rombachs Definition „reich
gegliedert, ein Gefüge sehr unterschiedlicher Momente, ständig im Fluß und in
Veränderung, durchaus auflösbar und vergänglich“[6].
Nietzsches Denken, das den traditionellen Seins-Begriff ablehnt und das gesamte
platonisch-christliche Weltbild bekämpft, geht in diesem Ansatz wesensgemäß
auf. Deshalb können auch einzelne Problemstellungen aus Nietzsches Gesamtwerk,
etwa die Einsamkeit, nur durch das
Offenlegen von Strukturen in genauer Phänomenbeschreibung interpretiert und
hermeneutisch vermittelt werden.
6.3. Strukturen der „Einsamkeit“ in „Also sprach Zarathustra“
Der Zarathustra-Leser
wird bereits in den introduktiven Sätzen der philosophischen Dichtung mit der Thematik Einsamkeit konfrontiert. Im
Alter von dreißig Jahren verließ Zarathustra seine Heimat und ging ins Gebirge.
„Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn
Jahre nicht müde.“ [7] Das Verlassen der Heimat und der Aufbruch ins Gebirge erscheinen hier –
wie in Lenaus „Faust“ – als eine strikte Notwendigkeit. Wie bei Buddha und
Jesus ist es der Weg der Läuterung und Selbstfindung, der hier beschritten
wird. Zarathustra „genoß“ also sein
Leben in der Einsamkeit, ganze zehn
Jahre lang, bevor er ihr entfloh, um zu lehren, um seine Botschaft zu
verkünden. Die Daseinsform Einsamkeit
erscheint also – gleichberechtigt neben dem souveränen Geist – als ein Wert an
sich, als uneingeschränktes Positivum, nicht als Plage oder Kasteiung wie bei
den alten Eremiten, Wüstenheiligen und Mönchen, sondern als Genuss. Zarathustra lebt die Einsamkeit
im totalen Aufgehen in ihr – in „Idemität“. Das erkennt selbst der alte
Heilige, der Eremit, den der herabsteigende, gewandelte Zarathustra im Wald
trifft: „Wie im Meere lebtest du in der
Einsamkeit und das Meer trug dich“[8],
sagt der alte Anachoret, den Nietzsche kontrastiv als Gegentypus zum echten Einsamen Zarathustra aufbaut. Der
alte Heilige lebt zwar allein in äußerer
Abgeschiedenheit, doch er ist nicht einsam. Er hat noch seinen Gott, mit
dem er spricht wie Augustinus und den er anbetet, ohne viel zu hinterfragen.
Sein inneres Handeln ist ausschließlich auf Gottesverehrung ausgerichtet: „Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen“[9]
lobt er seinen Gott.
Dabei ist der
gottsuchende Eremit sich seiner Antiquiertheit nicht bewusst. Er pflegt seinen
Ritus, ist zufrieden damit, schürft aber nicht tiefer. „Erkenntnis Gottes ist Gebet“, wird er mit Lenaus Savonarola und
der konservativen Bibelexegese annehmen, ohne der letzten Wahrheit auf den
Grund gehen zu wollen. Im Gegensatz zum klarsichtigen Zeit-Analytiker und Zeitkritiker Zarathustra alias Nietzsche hat der fromme Alte in seiner selbstgewählten
Isolation noch nicht vernommen, dass „Gott
todt ist“[10]!
Mit dieser Sentenz hat
Nietzsche ein Wort in die Welt gesetzt, das zu vielen
Missverständnissen führte. Gott ist - ontologisch gesprochen - nicht an sich tot, sondern, wie von Martin
Heidegger in jenem bekannten Aufsatz[11]
deutlich herausgestrichen, er ist nur - in jener Zeit - tot und für den, der
das begriffen hat – der Gott der Christenheit ist nur für das aufgeklärte, metaphysisch vereinsamte Subjekt tot, für
zweifelnde, desillusionierte Atheisten wider Willen nach Voltaire und Rousseau wie Lenau, Heine und eben Nietzsche.
Zarathustra hingegen wird
in radikaler Absetzung vom Eremiten, der in naiver
Zweisamkeit mit Gott lebt, als der „Einsame“[12]
schlechthin konzipiert. Das wichtigste Charakteristikum dieses Einsamen besteht
darin, dass er „gottlos“[13]
ist. Er ist – wie trefflich in Lenaus Faust
ausgeführt – von Gott los,[14] und
zwar endgültig.
Gott
scheidet als letztes Refugium, als metaphysischer Rückhalt aus.
Das – gefährlich lebende – Individuum, der Seiltänzer, der Suchende – sie haben
kein Sicherheits-Netz mehr, das sie
beim Straucheln und möglichen Scheitern auffängt. Ohne jede lebenserhaltende
Versicherung ist die Individualität nunmehr ganz auf das Selbst gestellt. Dies
bedeutet jedoch nicht, dass Nietzsche seinen Helden zu einem reinen Positivisten
oder platten Materialisten reduziert. An die Stelle der traditionell
christlichen Gottesvorstellung tritt bei diesem radikalen wie konsequenten
Kritiker des Christentums gleich ein ganzer Geisteskomplex, namentlich jene
zentralen Ideen Nietzsches: der
Übermensch, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen.
„Einsam“
ist bei Nietzsche ein Schlüsselwort,
das immer wieder gezielt eingesetzt wird, um das Anderssein, das Herausgehobene,
das Elitäre, das Illustre und das Unverstandene zu exponieren. Nietzsches Unverstandene heißen eben
nicht Empedokles wie bei Hölderlin, Diogenes,
Sokrates oder Michelangelo und Leonardo, sondern eben –
am eigenen Selbstverständnis als Philosoph und Missionar ausgerichtet – Zarathustra. Nietzsche wird diesen
Religionsstifter und Feuerprediger bibelparodistisch in Gleichnissen reden
lassen, damit er sich auf gleiche Art widersprechen kann. Das Subjekt löst –
von Perspektive zu Perspektive – die eigene, subjektive Aussage wieder auf.
6.4. „Fliehe, Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit!“ - „Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt.“
„Einsamkeit“
hat von Anfang an bei Nietzsche eine gewisse Dignität. Das Phänomen Einsamkeit
ist in dieser Dichtung nie konstant, sondern, dem Strukturgedanken gemäß, offen
und in permanenter Veränderung. Nietzsche ist bemüht, das Phänomen auf
verschiedensten Ebenen auszuloten. Er entwickelt deshalb einen perspektivischen Pluralismus, der es ihm
ermöglicht, immer wieder neue Aspekte des Phänomens zu entdecken. Dabei
interessiert nicht primär die Einsamkeit
an sich, sondern sie wird in Zusammenhang und in der Regel als Schaffensbedingung
der zahlreichen programmatischen Ideen der Dichtung gesehen. Das Kapitel „Von den Fliegen des Marktes“ beginnt
mit einem fast wortgetreuen Seneca-Zitat: „Fliehe,
Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt von Lärme der großen Männer und zerstochen von
den Stacheln der kleinen“[15].
Kurz darauf erfolgt die prägnante Differenzierung: „Wo die Einsamkeit aufhört, da
beginnt der Markt.“[16]
Dieser Markt des
Zarathustra aber entspricht der Gesellschaft
Rousseaus;
er ist und bleibt pejorativ besetzt. Massenphänomene sind dem einsam durchs
Leben gehenden elitären Geist Nietzsche zutiefst suspekt. Statt die Entwicklung des
Menschen zum Übermenschen zu fördern, wirft dieses inadäquate Umfeld, die
massenhafte, unreflektierte Existenz, den Freigeist zurück: „Abseits vom Markte und Ruhme begiebt sich
alles Grosse: abseits vom Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer
Werthe. Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftigen
Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo raue, starke Luft weht!“[17]
Die „Illustren“, die
Eliten des Geistes, von Seneca über Petrarca und Leonardo da Vinci bis hin zu dem Einsamen von Basel und
Sils-Maria, halten dagegen. Bezeichnenderweise wiederholt Nietzsche diesen Aufruf zur Flucht in die reinigende,
die Individualität stärkende Einöde in demselben Kapitel noch ein drittes Mal. Nachdem
Seneca in jenen Tagen der Menschheitsgeschichte, als Jesus Christus seinen
Läuterungsweg in die Wüste antrat, bereits eindeutig vor der Masse warnte,
indem er verkündete: „Fliehe die Menge, fliehe die Wenigen,
fliehe selbst einen“[18].
greift der Autor der Spät-Schrift „Der Antichrist“
die gleiche Botschaft wieder auf, fast zweitausend Jahre nach dem Römer. In dem
Zarathustra-Abschnitt „Vom Freunde“
antwortet Nietzsche darauf mit einer mehr misanthropisch als
ironisch klingenden Paraphrase des Seneca-Worts: „Einer ist immer zu viel um mich.“[19]
Auch die - falsch
verstandene - Liebe zur Einsamkeit und zum Selbst kritisiert Nietzsche im Sinne des antiken Vorbilds pointiert
aphoristisch: „Der Eine geht zum
Nächsten, weil er sich sucht, und der Andere, weil er sich verlieren möchte.
Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis“[20].
Wie der Schweizer
Zimmermann zwischen echter
und falscher Einsamkeit zu unterscheiden wusste, so weiß auch Nietzsches
Zarathustra, das die falsch praktizierte Einsamkeit zum Gefängnis und zur
existenziellen Sackgasse werden kann, die über Melancholie und Verzweiflung in
endgültiges Scheitern mündet.
6.5. Die Auserwählten – Nietzsches kommende Elite: Der „Einsame“ als Brücke zum Übermenschen
Schöpferisches
Tun in allen Bereichen von Geist und Kunst vollzieht sich
– wie Nietzsche aus eigener Praxis weiß – aus der Abgeschiedenheit heraus.
Deshalb lässt Nietzsche in einem weiteren Kapitel, in „Vom Wege des Schaffenden“, den
Gegensatz zwischen dem schöpferischen, Werte schaffenden Einzelnen und der
trägen, amorphen unproduktiven Masse erneut aufleben. Der Weg zum Selbst, den das große Individuum beschreitet, wird von der „Herde“ als Gang in die „Vereinsamung“[21]
interpretiert. Die – christlich konditionierte Masse empfindet diesen Weg der Eigentlichkeit – wiederum in
erstaunlicher Nähe zur Lenauschen Faustkonzeption – im Einklang mit ihrer
fremdbestimmten, determinierten, verblendeten Sicht sogar als Hybris und Sünde:
„Wer sucht, der geht leicht verloren.
Alle Vereinsamung ist Schuld.“[22]
Der christlich
ausgerichtete Massenmensch geht davon aus, dass „ein Stern hinausgeworfen in den öden Raum und in den eisigen Atem des
Alleinseins“[23]
früher oder später notwendigerweise scheitern muss. Alle Repräsentanten der
Masse setzen sich vom Einsamen, der mit seiner Liebe und seinen Tränen den Weg
des Schaffenden beschreitet, der aus seinen eigenen „sieben Teufeln“ einen „Gott“
zu schaffen vermag, ab: „Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach
dem Einsamen“[24].
Die konventionell
Existierenden, die Heuchler der Gesellschaft, kreuzigen mit Vorliebe diejenigen, welche sich ihre eigene Tugend erfinden –
sie „hassen
die Einsamen“[25].
Im Kapitel „Von der schenkenden Tugend“ schließlich
wird dem Einsamen von Nietzsche eine Rolle zuerkannt, die er in der langen
Einsamkeit-Tradition - bis dahin so extrem ausformuliert - noch nie hatte: Er, der ewig Unverstande, der Einzelgänger, der
Eigenbrötler, der Phantast, das Genie, der Melancholiker, er ist die Brücke zum Übermenschen. Mit viel
Pathos verkündet Zarathustra:
„Wachet und horcht, ihr
Einsamen! Von
der Zukunft her kommen Winde mit heimlichem Flügelschlagen; und an feine Ohren
ergeht gute Botschaft.
Ihr Einsamen von heute,
ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch
selber erwähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: - und aus ihm der
Übermensch.“[26]
Mit diesem provokativen,
einen Missbrauch nicht ausschließenden Entwurf endet der erste Teil der
Zarathustra-Dichtung. „Hierauf ging Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle
und entzog sich den Menschen“[27].
Gleich dem Einsamen von Sils-Maria, der weiß, wovon er spricht, wenn es um
Kommunikation und Austausch mit der Welt geht, zieht sich der Religionsstifter
und Weise nach erfolgter Mission erneut in die Einöde zurück, um weiter nachzudenken,
um zu meditieren, zu regenerieren und um sich dann - wie Cicero und Montaigne -
mit neuer Energie wieder in die geistige Schlacht zu werfen.
6.6. Der Einsame – das ist der Schaffende! „Trachte ich nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke!“
Somit hält auch der
Denker und Poet Nietzsche an dem - von Seneca vorgegebenen und später auch von Michel de
Montaigne praktizierten - dialektischen Verhältnis zwischen dem Rückzug in die Einsamkeit und der anschließenden Mitbestimmung im
konkreten Leben inmitten der Gesellschaft fest.
Zarathustra verbringt
Monde und Jahre in der Verborgenheit seiner Höhle und mehrt seine Weisheit. Nach
ausreichender Kontemplation und tieferer Einsicht, fühlt der Weise, der an sich
ein Agierender ist, ein Prophet mit klarer Botschaft, kein Ausführender,
sondern der Stifter einer Neuen Lehre, einer Neuen Religion, die, historisch betrachtet, die erste Form des
Monotheismus ist, noch älter als der Glaube der Juden oder als der Aton-Kult in
Ägypten, erneut das Bedürfnis, zu lehren. Der Auserwählte muss wieder seinen selbst auserkorenen Olymp verlassen,
er muss von den Höhen hinab steigen, ins Tal, um dort in den Niederungen der
profanen Existenz seine heilige Botschaft zu verkünden, um seine selbst
erdachte Religion zu stiften. In diesem Punkt überschreitet Nietzsche alias Zarathustra die - auf individuelle
Glückseligkeit ausgerichteten - Philosopheme der Epikureer und Stoiker. Er
handelt nach der selbst aufgestellten Maxime: „Trachte ich nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke“![28]
6.7. Nietzsches „Nachtlied“ - das einsamste Lied, welches je gedichtet wurde!
Im zweiten Teil der
Dichtung wird das Thema Einsamkeit nur geringfügig variiert. Um aber noch tiefer
in das Phänomen eindringen zu können, erweitert Nietzsche die Begrifflichkeit und konstruiert neue, charakteristische
Assoziationen. Der Apologet steigert sich
in seine Apotheose hinein. Zarathustra, aus der Einsamkeit kommend und in
die Einsamkeit zurückkehrend, wird als der „Einsamste“[29]
überhaupt vorgestellt. Er gleicht einem Kometen, der hell erstrahlend aus der
Finsternis des Weltalls auftaucht, die Menschen mit seiner Weisheit beglückt,
um dann wieder in die Sphären der Mutter Nacht, in das nichtgreifbare Nichts kosmischer
Unendlichkeit abzutauchen. Wer wird vernehmen wollen, was er der Menschheit zu
künden hat? Nietzsches Zarathustra,
quasi ein Alter Ego des einsamen Philosophen von Sils Maria, das ist der dem
Volk verhasste „freie Geist, der
Fessel-Feind, der Nicht-Anbeter“[30].
Sein Wille ist „Löwen-Wille“, „einsam“ und „gottlos“. Es ist der Wille des „Wahrhaftigen“,
„furchtlos und fürchterlich, groß und einsam“[31].
Nicht die pulsierende Stadt mit ihren zahlreichen Märkten ist seine Welt! Nein,
die karge, reine Wüste ist seine Heimat: „In
der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister, als der Wüste
Herren; aber in den Städten wohnen die gutgefütterten, berühmten Weisen, - die
Zugthiere.“[32]
Unmittelbar darauf folgt das berühmte „Nachtlied“.
Auch in diesem klagenden Lyrismus, der zu den schönsten gehört, die in der
deutschen Sprache hervorgebracht wurden, erscheint das Phänomen Einsamkeit
mehrfach an exponierter Stelle. Nietzsche weist in seinem Selbstkommentar zu „Zarathustra“ darauf hin, dass dies das einsamste Lied sei, welches je
gedichtet wurde. Es ist die frohe Klage eines Sterns, dessen Schicksal es ist,
in die Weite und Dunkelheit der Nacht hinaus strahlen zu müssen:
„Nacht ist es: nun reden
lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender
Brunnen.
Nacht ist es: nun erst
erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines
Liebenden.
Ein Ungestilltes,
Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in
mir, die redet selber die Sprache der Liebe.
Licht bin ich: ach, dass
ich Nacht wäre!
Aber dies ist meine
Einsamkeit, dass ich vom Licht umgürtet bin.“[33]
Bald darauf verlässt Zarathustra seine Jünger und geht
„allein fort“[34];
Er muss „wieder in die Einsamkeit“[35].
6.8. „Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!“
Im vierten Teil der
Dichtung ist der Erkenntnisgang, der Lern- und Lehrprozess Zarathustras,
abgeschlossen. Das unmittelbar damit zusammenhängende Phänomen und Medium
Einsamkeit tritt also weitgehend zurück. Im dritten Teil jedoch, speziell in
den Kapiteln „Der Wanderer“ und „Die Heimkehr“ erreicht die poetische
Darstellung des Phänomens seinen Höhepunkt. Zarathustra hält Rückschau. Fast
ein Romantiker, Byrons „Manfred“ und Lenaus „Faust“ sehr nahe
stehend, besinnt sich der Weise „des vielen
einsamen Wanderns von Jugend an“[36].
Er zieht Bilanz. Mit dem
Cäsar und stoischen Philosophen Marc Aurel kommt zur Schlussfolgerung: „man lebt lediglich nur noch sich selber“[37].
Deshalb gilt es, dass der in sein „eigen Selbst“[38]
zurückgekehrte Zarathustra über sich hinaussteigt, um dem „letzte(n) Gipfel“[39]
zuzustreben. Nun beginnt die „einsamste Wanderung“[40]
Zarathustras und zugleich die „letzte
Einsamkeit“[41].
Einer der schönsten
Gesänge der Zarathustra-Dichtung ist der ergreifende Lyrismus „Die Heimkehr“. Einem verlorenen Sohn
gleich und unter Tränen kehrt Zarathustra in sein eigenstes Element zurück.
Dieses Selbst aber ist die Einsamkeit:
„Oh
Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!
Zu
lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir
heimkehrte!“[42]
Es entwickelt sich ein
lehrhaftes Zwiegespräch, in welchem die Erfahrungen Zarathustras in der
menschlichen Gesellschaft reflektiert und gewertet werden. Die anfangs schon
negative Gewichtung der Gesellschaft wird nun auch noch potenziert, indem ein
neues Negativphänomen, die Verlassenheit, eingeführt wird:
„Oh
Zarathustra“ spricht die Einsamkeit,
alles weiß ich: und dass du unter den Vielen verlassener warst, du Einer, als
je bei mir! Ein Anderes ist die
Verlassenheit, ein Anderes die Einsamkeit: Das – lerntest du nun! (...) Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause“[43].
Wer wild in wilder Fremde lebt, im fremdem Land, in der fremden
Großstadt, wie Nietzsche lange Jahre in der Schweiz oder andere Dichter
wie etwa Rilke[44] bald
nach ihm in Paris oder Moskau, muss sich verlassen vorkommen. Die Einsamkeit der fremden Großstadt wird
zum Fluch, zur Verzweiflungssituation. Dreimal wird die Erfahrung des „Verlassenseins“
angesprochen. Unter Menschen ist es gefährlicher als unter Tieren.
Zarathustra sieht dies ein und schwingt sich zu einer letzten Apotheose
der Einsamkeit auf. Das Idemitätsverhältnis von Freigeist und
Einsamkeit offenbart sich nun in vollendeter Verklärung:
„Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!
Wie
selig und zärtlich redet deine Stimme zu mir!
Wir
fragen einander nicht, wir klagen einander nicht, wir gehen offen miteinander
durch offene Thüren.
Denn
offen ist es bei dir und hell; und auch die Stunden laufen hier auf leichteren
Füßen. Im Dunklen nämlich trägt man schwerer an der Zeit als im Lichte.
Hier
springen mir alles Seins-Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort
werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.
Da
unten aber – da ist alles Reden umsonst.“[45]
6.9. „Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein’“ – Zum Gegensatz von individuellem Leben in Einsamkeit und gesellschaftlichem Massen-Dasein.
Wie aus den vielen
markanten Zitaten deutlich wird, hat Nietzsche alias Zarathustra in der Einsamkeit sein Grundphänomen gefunden. Das Selbst kommt nur in der Heimat
Einsamkeit zum Durchbruch und zur Vollendung. Die eigene Wesenheit offenbart
sich ausschließlich in der Einsamkeit.
In der weit angelegten
Zarathustra-Dichtung, in welcher manches, was der Dichter ausspricht, bald vom
Denker Zarathustra hinterfragt und relativiert wird, beschäftigen Nietzsche zwar noch eine ganze Reihe weiterer Epiphänomene, doch keine
Begleiterscheinung nimmt ihn ganz ein und über kein anderes Phänomen wirkt der
Dichterphilosoph so bestimmend auf die Nachwelt ein wie über die Darstellung der Einsamkeit: Sie ist der Wert an sich, die „conditio sine
qua non“, aus der alles Wahre, Schöne und Gute emaniert.
Sie ist das Medium des
Schöpferischen, während das profane, das gesellschaftliche Dasein nur
uneigentliches Sein, fremdbestimmtes Leben bedeutet. Im Geist Petrarcas
schreibt Nietzsche dezidiert: „Einsamkeit ist bei uns eine
Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei der Berührung
von Mensch zu Mensch ‚in Gesellschaft’ – unvermeidlich-unreinlich zugehen muß.
Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann – ‚gemein’.“[46]
In Anflügen von Misanthropie
hat Nietzsche gelegentlich gar das Gefühl, der Umgang mit Menschen verderbe ihm Umgang
mit dem Selbst. Klingt das zynisch? Vielleicht! Deshalb entscheidet er sich
als Denker und Poet radikal für das Existieren
in der Einsamkeit.
Während alles wankt,
skeptisch hinterfragt und der Relativierung unterworfen ist, bleibt die Einsamkeit – über Zarathustra
hinaus – im Gesamtwerk Nietzsches die
Konstante schlechthin. An dieser, ihm höchst wesensgemäßen Seinsform wird Nietzsche nie zweifeln. Sie ist und bleibt ein Positivum
- „die gute Einsamkeit, die treue
muthwillige leichte Einsamkeit“[47].
Das Leben in der Masse hingegen erscheint ihm – wie schon seinen
Vorgängern Petrarca, Montaigne, Rousseau und Schopenhauer oder seinen existenzphilosophischen Nachfahren
Jaspers und Heidegger – als ein inadäquates,
uneigentliches Sein, als Nicht-Sein oder existenzloses Sein.
In der Masse und als Teil
der Masse ist das Individuum nicht es selbst – Das „Man“ regiert und das „Man“
bestimmt: „Unter Vielen lebe ich wie
Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist mir dann immer, als wolle
man mich aus mir vertreiben und mir die Seele rauben.“[48]
Nietzsche bringt es drastisch auf den Punkt: Aus der
Sicht des eigenständigen Individuums
gegen seine Zeit, das sich selbst zu verwirklichen sucht, deshalb eigenen Vorgaben folgend eigene Wege geht
und eigene Ziele anstrebt – bedeutet die
Gängelung durch die Gesellschaft das Aufgeben von Freiheit und
Selbstbestimmung. Die Gesellschaft weiß natürlich, was sich geziemt und was
unzulässig ist. Man isst das nicht, man tut das nicht, man schreibt das nicht,
man denkt das nicht. Man ist nicht selbstständig, sondern man akzeptiert die
Werte und Normen der Gesellschaft, auch wenn es Pseudo-Werte sind. Die als
Diktate durchgesetzt werden. Also ist in der Gesellschaft der Jetztzeit kein Nonkonformist gefragt, kein Andersdenkender, kein Freigeist, kein
Kritiker, kein Querdenker und Querulant, sondern lediglich der brave Staatsbürger, der Fügsame, der
ergebene untertänige Diener, den Nietzsche in markiger, oft überspitzter Sprache auch als
Herdentier, Zugtier oder
Ja-und-Amen-Sager definiert.
6.10. „Einsam die Straße ziehn gehört zum Wesen des Philosophen.“ Fragmentarische Aussagen zur „Einsamkeit“
Schopenhauer fordert in seinen Ausführungen zur Einsamkeit, man müsse die Jugend dazu
erziehen, die Einsamkeit zu ertragen.
Nietzsche greift diesen Gedanken etwas abgewandelt auf,
indem er feststellt: „Niemand lernt,
Niemand strebt danach, Niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen.“[49]
– Um dann an anderer Stelle pointiert hinzuzufügen: „an der Einsamkeit leiden ist
ein Einwand, - ich habe immer nur an der ‚Vielsamkeit’ gelitten ... In
einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie
ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich darüber je betrübt
gesehen?“[50] Einsamkeit
ist für den großen, ewig unverstandenen Nietzsche Schicksal, ein Los, das von ihm auch im
heroischen „Amor fati“ angenommen
wird. Für Schopenhauer ist die Einsamkeit - in der Gefolgschaft der
bekannten Aristoteles-Sentenz - das Charakteristikum
genialer Naturen. Nietzsche folgt der Auffassung seines Lehrmeisters auch
in diesem Punkt. Er spezifiziert sie, indem er sie als eine Wesenserscheinung des Philosophen überhaupt herausstellt:
„Einsam die Straße ziehn gehört zum Wesen
des Philosophen.“[51]
An anderer Stelle definiert Nietzsche den „höhere(n)
philosophische(n) Mensch(en)“ als denjenigen, „der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern
weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet.“[52]
Das Phänomen Einsamkeit erhält damit eine ontische Qualität.
6.11. Therapeutikum Einsamkeit – schlimme und gefährliche Heilkunst! „In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“
Ein wahrer Philosoph ist
nach Nietzsches Auffassung nur jener, der Mut zum gefährlichen Denken[53]
aufbringt, der die Philosophie als
Abenteuer[54],
als Wagnis begreift. In diesem Zusammenhang zählt er dann auch die Einsamkeit zu den „schlimmsten und gefährlichsten Heilkünsten“[55].
Sie ist eine Form von Katharsis[56]: „Gewiß ist“, schreibt Nietzsche, „dass sie, wenn sie heilt, auch den Menschen
gesünder und selbstherrlicher hinstellt, als je ein Mensch in Gesellschaft“[57]
sein könnte.
Seneca und Schopenhauer, die großen Fürsprecher
des Lebens in Einsamkeit, sahen das Phänomen nie absolut. Beide erkannten
auch die Nachteile einer Existenz in
absoluter Einsamkeit, die Gefahren der Vereinsamung und des Scheiterns, speziell bei nichtautarken,
unsicheren, schwachen und wankelmütigen Charakteren und warnten davor.
Der wesentlich resolutere
und leidensfähigere Nietzsche hingegen, als Darwinist überzeugt, alles Schwache und Missratene möge, ja müsse
zugrunde gehen und dahinfahren, geht in dem ihm wesensgemäßen Phänomen so
sehr auf, dass er, fern von Empathie oder Mitleid mit den Schwächeren, dazu
neigt, potentielle Negativaspekte der
Einsamkeit vollkommen zurückzudrängen, ja zu verdrängen. Doch verkannt wird
deren verhängnisvolle Wirkung trotzdem nicht. An einer Stelle spricht Nietzsche
sogar ganz ausdrücklich von den „Martern
aller sieben Einsamkeiten“[58],
die vor allem die „neuen Philosophen“ kennen
sollten.
In einem seiner vielen
köstlichen Aphorismen, in welchem er schonungslos über den oft
verantwortungsvoll-konzilianten Schopenhauer hinausgeht, heißt es ganz lapidar: „In der Einsamkeit frisst sich der Einsame
selbst, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“[59]
Nietzsche, der große
Perspektivist und existenzielle Realist, ist also doch nicht immer bereit, das
Phänomen zu verklären, er sieht es durchaus auch kritisch.
6.12. Die „siebente letzte Einsamkeit“ - Nietzsches „Dionysos-Dithyramben“
Der Dithyrambus ist die
höchste Form des hymnischen Ausdrucks. Nietzsche wählt diese Form des Selbstgespräches, um das Phänomen Einsamkeit, das auch in diesen
Dichtungen im Mittelpunkt steht, lyrisch zu zelebrieren.
Der Dithyrambus „Das Feuerzeichen“ präsentiert einen
längst aus der Einsamkeit des Hochgebirges herabgestiegenen, der
Wüsteneinsamkeit entflohenen und am Ende seines Weges angekommenen Zarathustra
in äußerster Abgeschiedenheit,
selbstisoliert auf einer Insel im Meer. Mehr Einsamkeit scheint nicht mehr
möglich. Auch scheint alles erreicht, bis auf eines:
„Was floh
Zarathustra vor Thier und Menschen?
Was entlief er jäh
allem festen Lande?
Sechs Einsamkeiten
kennt er schon -,
aber das Meer
selbst war nicht genug ihm einsam,
die Insel ließ ihn
steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme,
nach seiner siebenten Einsamkeit
wirft er suchend
jetzt die Angel über sein Haupt.
Verschlagene
Schiffer! Trümmer alter Sterne!
Ihr Meere der
Zukunft! Unausgeforschte Himmel!
Nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel:
Gebt Antwort auf
die Ungeduld der Flamme,
fangt mir, dem
Fischer auf hohen Bergen,
meine siebente letzte Einsamkeit!“[60]
„Die
Einsamkeit hat sieben Häute; es geht Nichts mehr hindurch“[61]
verkündet Nietzsche in einem seiner Selbst-Kommentare zu
Zarathustra.
Dieser feiernde
Religionsstifter, der eine Religion lehrt, die – wie später der Buddhismus –
ohne Gottheit auskommt, hat sich auf seinem Weg der Selbsterkenntnis, an dessen
Ende die Lüftung des letzten Geheimnisses, des Pudels Kern, die Wesensschau der Phänomenologen oder die „Unio mystica“ im Verständnis eines Meister
Eckhart steht, von allem gelöst, was noch irdischen
Trost, irdische Geborgenheit und somit auch irdische Festlegung bedeuten würde.
Der Berg ist ihm nicht hoch genug, das Meer ist ihm nicht weit und tief genug,
die Wüste ist ihm nicht still genug; Selbst die Begleitung der vertrauten
Tiere, des Adlers und der Schlange, hat er aufgegeben. Geht es noch extremer?
Es geht! Nachdem ganze „sechs
Einsamkeiten“ erfahren wurden, bleibt – wie bei der Häutung der Schlange –
nur noch die eine, alles entscheidende, übrig. Nietzsches – ganz auf sich
selbst gestellter - Zarathustra erwartet die letzte Metamorphose des Phänomens,
die
siebente Einsamkeit[62]
– die
absolute Einsamkeit!
Dieses höchste aller
Ziele, das Erfüllung und Glück zugleich ist, wird auch erreicht – spekulativ
mystisch in lyrischem Ausdruck. Nietzsches wohl schönster Dithyrambus „Die
Sonne sinkt“ ist diesem
Höhepunkt gewidmet:
„Tag meines Lebens!
die Sonne sinkt
Schon steht die
glatte
Fluth vergüldet.
(...)
Rings nur Welle und
Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue
Vergessenheit (...)
Wunsch und Hoffen
ertrank,
glatt liegt Seele
und Meer.“[63]
Harmonisch wie der verklingende
Tag löst sich alles in absoluter Ruhe auf: In diesem „Nunc stans“ der Mystiker, in dieser stillsten Stunde des Eremiten,
vollzieht sich die endgültige Erfahrung
der Einsamkeit als „Unio mystica“,
als „Siebente Einsamkeit“!
Diese letzte Metamorphose
markiert auch die äußerste und zugleich
positivste Kulmination des Einsamkeit-Phänomens bei Nietzsche überhaupt: Der Geist der Schwere ist überwunden – die Leichtigkeit des Seins triumphiert im
melancholiefreien Raum - das Endziel eines bewussten, geistigen Existierens
ist erreicht.
6.13. „Vereinsamt“ – Düstere Melancholie und metaphysische Verzweiflung
Was sich nicht mehr
steigern lässt, muss notwendigerweise auch wieder zurückfallen. Der euphorischen Phase, der Manie, folgt
alsbald - das wissen alle Melancholiker - der existenzielle Rückschlag, das
Abgleiten in düstere Schwermut.
Licht, Erhabenheit und Glück verfliegen schnell – Melancholie macht sich breit.
Eine eindeutige
Relativierung desselben, gerade noch genussvoll zu maximaler Höhe gesteigerten
Einsamkeit-Phänomens erfolgt hingegen in dem Dithyrambus „Zwischen Raubvögeln“. In
diesem Gedicht wird der stets souverän agierende Zarathustra in eine
Extremsituation versetzt. Wie Manfred
in Byrons Dichtung oder die Faust-Gestalt Lenaus erscheint Nietzsches Protagonist über dem
Abgrund, vollkommen auf das Selbst gestellt, in einer Entscheidungssituation,
die bei Empedokles – vor seinem legendären Sprung in den
Ätna-Krater – nicht viel anders gewesen sein kann:
„geduldig duldend,
hart, schweigsam,
einsam...
Einsam!“[64]
Jedes genussvolle Erleben der Einsamkeit ist
verflogen. Leidvolle Zweifel kommen auf und treten an die Stelle von
Gewissheit, Positivität und verklärter mystischer Wesensschau. Wo kaum erst
Erfüllung und Glück das Leben bestimmten, spricht nunmehr die verzweifelte Stimme der Melancholie. Der
hoch fliegende Geist fällt wieder in die Untiefen des profanen Lebens zurück. Existenzielle Verbitterung kommt wieder
auf:
„Jetzt-
einsam mit dir,
zwiesam im eignen
Wissen,
zwischen hundert
Spiegeln
von dir selber
falsch,
zwischen hundert
Erinnerungen
ungewiss,
an jeder Wunde müd,
an jedem Froste
kalt,
in eignen Stricken
gewürgt,
Selbstkenner!
Selbsthenker!“[65]
Zarathustra alias
Friedrich Nietzsche reduziert sich
„Jetzt –
zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt“
zum „Fragezeichen“
zum „müde(n) Rätsel“[66].
Der zu letzter Erkenntnis
Strebende, der Selbstkenner, der ein Leben lang konsequent in die Einsamkeit
Fliehende, wird sich selbst zur Grenze. Er wird zum tragischen Vollender des
eigenen Schicksals, zum Selbsthenker. Dieser „Selbsthenker“ - dafür spricht die bitter anklagende, pessimistische
Diktion des Lyrismus - kann jedoch nicht länger als der sonst eingeforderte „Selbstüberwinder“ aufgefasst werden.
Hier ist tatsächlich das tragische
Scheitern am Selbstsein im faustischen Sinne gemeint.
Obwohl Nietzsches
„Zarathustra“ als die antistatische Existenz schlechthin konzipiert wurde, die,
ungeachtet eindeutiger Prioritäten, eigene Lehren vielfach in Frage stellt, war es nicht möglich, diese negativ
interpretierbare Perspektive in den großen mythopoetischen Entwurf zu
integrieren, da das Gesamtkonzept dadurch gefährdet worden wäre. Nietzsche entschied sich wohl deshalb für ein
eigenständiges Gedicht.
Im Grunde seines Wesens
ist Nietzsche ein Extremdenker und Extremfühler. Das kann
aus der signifikanten Thematisierung und Problematisierung des Phänomens
Einsamkeit klar gefolgert werden. Nietzsche pflegt einen streng rationalen
Zugang zum Phänomen, er durchleuchtet die typischen Strukturen, und er
funktionalisiert die Einsamkeit – vor allem in „Zarathustra“ – ähnlich wie seine Vorgänger. Gleichzeitig findet
Nietzsche aber auch einen subjektiven Zugang zum Phänomen. Die individuell und
existenziell erfahrene Einsamkeit erscheint in allen ihren Höhen und Tiefen;
einerseits wird die letzte und absolute Einsamkeit als das Positivum
schlechthin verklärt, andererseits neigt Nietzsche auch dazu, die Abgründe des
Phänomens zu erhellen. Mystische Glückseligkeit und tiefmelancholische
Verzweiflung, existenzielle Erfahrungen, die in ihrer subjektiven Dimension den
Bereich des Unaussprechlichen tangieren, erscheinen deshalb verschlüsselt und hermetisch. Die
eigentliche Tragweite der existenziellen Erfahrung kann nicht rational
erschlossen, sie kann nur geahnt werden. Ein großartiges Beispiel dafür ist
folgendes weltbekanntes Gedicht:
„Vereinsamt
Die Krähen
schrein’n
Und ziehen
schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es
schnei’n
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du
starr,
Schaust rückwärts ach!
Wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die
Welt – entflohn?
Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten
stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du
bleich,
Zur
Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach
kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel,
schnarr’
Dein Lied im
Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck’ du Narr,
Dein blutend Herz
in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
Und ziehen
schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es
schnei’n,
Weh dem, der keine Heimat hat!“
„Vereinsamt“
ist geradezu das programmatische Gegenstück zu „Die Sonne sinkt“. Dieselbe existenzielle Exponiertheit des
Individuums, das Sein in der Grenzsituation, die, unter günstigeren
Bedingungen, ein mystisches Aufgehen in die Einsamkeit ermöglicht, schlägt hier
radikal um. Die bereits in dem Dithyrambus „Zwischen
Raubvögeln“ sich anbahnende Transposition
ins Negative kommt hier zur Erfüllung – das positive Phänomen „Einsamkeit“ metamorphosiert zum Negativphänomen „Vereinsamung“.
Die Struktur dieses
Phänomens lässt sich erhellen, wenn man Nietzsches Bildern folgt. Schon im ersten
Ausschnitt erscheint die Natur – wie in Lenaus Herbstlyrik – in ihrer Angst
suggerierenden Bedrohlichkeit bestückt mit Todes-Symbolik: schreiende Krähen
fliehen schwirren Flugs in die Geborgenheit der Stadt. Das im Selbstgespräch
sich befindende Individuum, das sich in derselben exponierten Situation
befindet wie die Kreatur, sehnt sich nach einem ähnlichen - metaphysischen -
Ruhepunkt.
Doch da die konkrete,
anonyme Stadt - nach allen gemachten und durchlittenen Erfahrungen - nicht mehr
als „Heimat“ empfunden werden kann,
wird die aufkommende Sehnsucht metaphysisch ausgeweitet. Die metaphysische Geborgenheit des Menschen, das intakte Verhältnis zu
einem höheren Sinn-Objekt, ist der ersehnte Wert – doch diesen gibt es nicht
mehr. Das nunmehr auf sich selbst gestellte Individuum hat – durch
Reflexion, durch Philosophie, durch den konsequenten Werdegang zum Freigeist –
das einst naiv begründete Verhältnis zu einer metaphysischen Instanz, zu Gott,
unwiederbringlich verloren. Nun steht es allein, vereinsamt, verlassen und ohne
jeden Trost vor dem Nichts.
Das Leben ist ein Sein im
Leiden. Die sinnentleerte Welt gleicht einer lebensfeindlichen Wüste, die
genauso totbringend ist wie die klirrende Kälte des Winters. Das Ich ist an
einem absoluten Nullpunkt angelangt – Es steht, in einer von „Verzweiflung“
bestimmten „Horror vacui-Situation“,
also unmittelbar vor dem endgültigen Scheitern. Doch dazu lässt es der Lyriker
und Denker Nietzsche nicht kommen. Wie sein lyrisches wie
melancholisch-existenzielles Vorbild Nikolaus Lenau, der in seinem
markanten Gedicht „Herbstentschluß“
eine ähnliche Nullpunktsituation problematisiert, um das Leben an sich trotzdem
fortzuführen[67],
besinnt sich auch Nietzsche, der den schnellen Freitod als Zeichen der Schwäche
interpretiert und deshalb ablehnt, auf die aus seiner eigenen Philosophie
resultierenden positiven Ansätze des Weiterleben-Müssens. In einem
entschiedenen „Amor fati“ wird das
Schicksal, so wie es ist, angenommen und letztendlich bewältigt. Die starre
Statik der Situation, das Ableben im Eis des Winters, wird durch ein
dynamisches Element, durch das in die Zukunft verlegte Wandern-Müssen,
gesprengt, auch wenn das „Wandern“, also das Weiterleben, nicht mehr romantisch
verbrämt erscheint, sondern – vielfach vorbereitet bei Lenau – als Zwang, als
Fluch! Es geht wieder aufwärts. Der „Freigeist“ - Nietzsche hatte das Gedicht ursprünglich im Entwurf so überschrieben, wird sich
selbst zum Befreier. Vereinsamung, bezeichnenderweise auch ein Charakteristikum
des freien Geistes, impliziert zwar Leiden, ja maximalstes Leiden, ist aber
nicht gleichbedeutend mit existenziellem Scheitern.
[1] Nicht erörtert werden in diesem Abschnitt Nietzsches
Ausführungen zur Melancholie als „Schwermut“,
ein häufig auftretetendes, facettenreich und ausdifferenziert gestaltetes Thema,
das sich leitmotivisch durch die gesamte Zarathustra-Dichtung zieht.
[2] Maßgebend für Nietzsche-Forschungsarbeiten ist die Kritische Gesamtausgabe, kurz KAW, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1967ff.
[4] Kritische
Gesamtausgabe, KGW, herausgegeben von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1967ff. Vgl. dazu Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 1, S. 281.
[5] Ebenda,
S. 339.
[8] Ebenda, S. 6.
[9] Ebenda, S. 7.
[10] Ebenda, S. 8.
[12] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KAW, VI, 1, S. 16 („Endlich
aber wurde es Nacht, und ein kalter Wind blies über den Einsamen.“) Bzw. S. 203. („Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Einsamsten.“)
[13] Ebenda, S. 129.
[15] Ebenda, S. 61.
[16] Ebenda.
[17] Ebenda, S. 62.
[18] Seneca, Vom glücklichen Leben. Auswahl aus seinen Schriften.
Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Stuttgart,1978. S. 202.
[20] Ebenda, S. 74.
[21] Ebenda, S. 76.
[22] Ebenda.
[23] Ebenda, S. 77.
[24] Ebenda, S. 78.
[25] Ebenda.
[26] Ebenda, S. 96f.
[27] Ebenda, S. 101.
[28] Ebenda, S. 104.
[29] Ebenda, S. 203 bzw. S. 138. Dies ist auch ein Beiname
Buddhas.
[30] Ebenda, S. 128.
[31] Ebenda, S. 129.
[32]
Ebenda. (Von den berühmten Weisen)
[33] Ebenda, S. 132.
[34] Ebenda, S. 136.
[35] Ebenda.
[36] Ebenda, S. 189.
[37] Ebenda.
[38] Ebenda.
[39] Ebenda, S. 190.
[40] Ebenda.
[41] Ebenda, S. 191.
[42] Ebenda, S. 227.
[43] Ebenda.
[44] Kießling,
Hildegard: Die Einsamkeit als lyrisches Motiv
bei Rainer Maria Rilke, Jena 1935. Ferner: Bollnow, Otto
Friedrich: Rilke, Stuttgart 1951. Und:
Holthusen, Hans Egon: Rilke, Hamburg 1958.
[47] Ebenda, §25
[49] Ebenda, §443.
[51] Musarion-Ausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, Bd. 4, 186. Vgl. dazu Lenaus Aussage in „Herbstentschluß“: „Trübe Wolken, Herbstesluft,/
Einsam wandl’ ich meine Straßen“.
[52] Ebenda, Bd. 19, S. 329.
[53] Vgl. dazu Zarathustras Würdigung des Seiltänzers, der
die Gefahr zum Beruf gemacht hat. Nietzsches Philosophie selbst ist überall
dort „gefährlich“, wo er Tabus angeht, wo er kühne, durchaus zum Missbrauch
geeignete, Visionen entwirft, wie etwa bei der Konzeption des Übermenschen.
[54]
In diesem Sinne ist auch Albert Camus Aussage zu verstehen: „Nietzsche mit seinem äußerst eintönigen äußeren Leben
ist der Beweis dafür, dass das in der
Einsamkeit entwickelte Denken an sich ein gewaltiges Abenteuer ist.“
Albert
Camus,, Tagebücher, 1935-
1951.
[55] Ebenda, Bd. 14, S. 350.
[57] Ebenda.
[58] Ebenda, Bd. 19, S. 331f.
[60] KAW, VI, 3, S. 393f.
[61] Ebenda, S. 340
[62]
Vgl. dazu auch die Studie: Harper, Ralph: The seventh solitude. Man's Isolation in
Kierkegaard, Dostoevsky, and
Nietzsche. Baltimore, 1965.
[64]
Ebenda, S. 395. (Vgl. dazu auch den Ausruf Hölderlins, in :“Der Tod des Empedokles“: „Weh! einsam einsam! einsam!“)
[65] Ebenda, S. 387.
[66] Ebenda, S. 388.
[67] „Daß wir unseren
letzten Gang/ Schweigsam wandeln und alleine, /Daß auf unsern Grabeshang / Niemand
als der Regen weine!“[67]
NL, SWB, I, S. 54.
Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
Deutsche Digitale Bibliothek:
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Carl Gibson
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Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
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Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
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Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik
europäischer Geistesgeschichte und anthropologische
Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine
qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur,
Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino,
Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da
Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau,
Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ –
Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der
Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit
der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch
nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel
könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche
Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue
Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen
Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große
Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet –
richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch
gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach
Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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