Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
3. „Ueber die Einsamkeit“ - Johann Georg Zimmermanns Monumentalwerk aus dem Jahr 1784/85 - Einsamkeit als Lebenselixier – Die Gestimmtheit im deutschen Barock – Inklination zur Melancholie[1]?
Johann
Georg Zimmermann war ein Zeitgenosse Rousseaus. Er wurde 1728 im
schweizerischen Brugg geboren und starb 1795. Seinerzeit ein hoch angesehener,
europaweit bekannter Arzt, wurde Zimmermann später von Katharina der
Zweiten von Russland, in deren Dienste er stand, für seine vielfachen Meriten
geadelt. Einer seiner Patienten war auch der einsame Denker von Sanssouci, Friedrich der Große. Ferner war Zimmermann ein besonders produktiver Schriftsteller und,
typisch für die Zeit der Aufklärung in Europa, ein noch leidenschaftlicherer
Populärphilosoph. Als Intellektueller von Rang pflegte der Schweizer Kontakte
zu anderen Geistesgrößen seiner Zeit, unter anderen zu seinem Landsmann Lavater,
zu C. M. Wieland, und Friedrich Nicolai.
Zimmermann kam also viel herum, war
ein Menschenfreund, gesellig und somit alles andere als ein Eremit in dunkler
Spelunke – und doch neigte er zum Leben
in der Abgeschiedenheit. Einsamkeit – das war für Zimmermann mehr als eine existenzielle Haltung. Sie war
ein Wesenszug, eine Grunddisposition, die schon früh da war, sein Leben
bestimmte und mit dem Alter zunahm, ohne recht weichen zu wollen. Bereits als
Kind fühlte er sich einsam, ausgestattet mit einem natürlichen Drang zur „Stille und Eingezogenheit“. In späteren
Jahren lebte Zimmermann dann oft selbstisoliert. kontemplativ, gezwungen
manche Schicksalsschläge zu überstehen. Nicht viel anders als sein berühmter
Landsmann Rousseau oder der kauzige Vikar Robert Burton seinerzeit in London, der beim Verfassen
seiner groß angelegten Anatomie der
Schwermut, nicht zuletzt bedingt durch die Auseinandersetzung mit der
niederziehenden Materie, von Jahr zu Jahr melancholischer wurde, litt J. G. Zimmermann unter den Heimsuchungen seiner „Hypochondrie“ und unter zunehmenden Wahnvorstellungen. Sein letzter Wunsch
bestand darin, „allein“ sterben zu
dürfen. War auch dieser engagierte Aufklärer aus der Schweiz ein Melancholiker,
eine weitere Koryphäe der Einsamkeit
wie mancher andere Dichter oder Komponist seiner Nation - wie C. F. Meyer, Gottfried Keller, Robert Walser oder Othmar Schoeck, um nur einige
Namen zu nennen? In der Tat: Viele Werke Zimmermanns können als wahre „Werke der Einsamkeit“ gelten - aus ihr heraus verfasst und über sie.
3.1. Von den „Betrachtungen über die Einsamkeit“ zur Abhandlung „Von der Einsamkeit“ – Thema mit Variationen
Zimmermann hat dieses Existenz-Motiv, das, wie kaum ein
anderes, sein eigenes war, fast mystisch umkreist. Im Jahr 1756 veröffentlicht
er ein erstes Büchlein zum Thema, „Betrachtungen über die Einsamkeit“. Es
sind reflektierte Beobachtungen und Selbsterfahrungen. Das konkrete Leben in
der Kleinstadt Brugg steht dabei im Mittelpunkt – analysiert aus der kritischen
Perspektive eines skeptischen Aufklärers der, gleich Zeitgenosse Jean-Jacques
Rousseau der biederen Gesellschaft seiner Zeit
misstraut. 1773 gibt J. G. Zimmermann die Abhandlung „Von der Einsamkeit“
heraus, ein Werk, in welchem der seelenkundige Arzt die menschlichen An-Triebe zur Geselligkeit einerseits
und zur Einsamkeit andererseits
untersucht. Dabei verspottet er, dem satirischen Geist der Aufklärung verpflichtet
und auch stilistisch an Voltaires „Candide“
oder „Zadig“ ausgerichtet, die Eremiten aller Zeiten und Couleur. Erst
im Jahr 1784/85 erscheint schließlich sein eigentliches Hauptwerk zur großen
Sujet „Ueber die Einsamkeit“,
ein Monumental-Opus vor allem an
Ausdehnung. Mit seinen 1600 Seiten ist es wohl das umfangreichste Einzelwerk,
das je über dieses Thema geschrieben wurde. In der der Kontinuität seiner
Vorarbeiten stehend, enthält dieses Gelehrten-Buch
die Essenzen persönlicher und künstlerischer Einsamkeit-Erfahrungen, die der
Arzt und Schriftsteller J. G. Zimmermann zum Wohle aller weitergeben will. Seine
Bestrebung besteht darin, wie bereits im eudämonistischen Denken der
griechischen Antike weit verbreitet, seinen Mitmenschen zu mehr Lebensfreude zu
verhelfen: „Ein Buch über den Wert der
Einsamkeit deucht mir ein nicht unbeträchtlicher Beitrag zu einer praktischen
Untersuchung über menschliche Glückseligkeit.“[2]
Gemäß der Intention des Autors soll sein Werk eine Art Lebensberater[3]
sein, praktische, existenznahe Hilfe anbieten, Probleme meistern und zugleich
auch eine Anleitung zum Glücklich-Werden darstellen. Epikurs pragmatisch-utilitaristische
Denkweise, jede Philosophie müsse dem Leben dienen, schwingt mit, wenn
Zimmermann den Nutzen seiner Schrift hervorkehrt, die er
als eine „Lebenslehre mit dem
Allheilmittel der Einsamkeit“, versteht, ja als eine Lebenskunde, „zugänglich, für jedermann begreiflich und
im Leben brauchbar.“ Nach aufmerksamer Lektüre soll ein Leser von diesem
Buch später sagen können, „es habe ihn
aufgeklärt, gebessert, beruhigt.“ So klingt die wissenschaftsgläubige
Stimme der Aufklärung in der Ausformung eines humanistischen Geistes, der
helfen will, obwohl die Wissenschaft „Psychologie“
noch in ihren Kinderschuhen steckt und noch mehr als hundert Jahre brauchen
wird, bevor die seelenkundlichen Ansätze der Antike und des Mittelalters
methodisch ergründet und empirisch gefestigt werden können. Zimmermanns
Bestrebung, praktische Lebenshilfe leisten zu wollen, einen Ansatz, den der
ausgebildete Psychologe Karl Jaspers später auch in seiner Existenz-Philosophie
umsetzen sollte, entspricht dem Geist der Populärphilosophie
der Zeit und dem allgemeinen Anliegen der Aufklärer, den lange im Dunkel der
Unwissenheit gehaltenen Menschen von Vorurteilen, Obskurantismus und
Mystizismus zu befreien.
3.2. Die Ursachen von wahrer und falscher Einsamkeit - Müßiggang, Menschenhass, Weltüberdruss und Hypochondrie
In seiner Einteilung der
wahren und falschen An-Triebe zur Einsamkeit, die dann auch folgerichtig zu
Formen wahrer und falscher Einsamkeit
führen, folgt Zimmermann der Tradition, indem er Essenzen aus dem
rezipierten Schriftgut mystischen und religiösen Ursprungs paraphrasiert. Da
Zimmermann mehr Arzt ist als Denker, wird bei ihm die
medizinisch-pathologische Sicht der Phänomene im Vordergrund stehen,
ausgerichtet an den Fragestellungen, was
ist gesund beziehungsweise was macht
das soziale Individuum, den gesellschaftlich eingebetteten oder isolierten Menschen, krank. Negative Triebkräfte sind für Zimmermann unter anderen Müßiggang, Menschenhass
und Weltüberdruss; vor allem aber „Hypochondrie“[4],
ein Sammelbegriff der Zeit, der oft undifferenziert und verschwommen gebraucht
wird, auch als Synonym der Melancholie
oder für deren Umschreibung, ja praktisch für alles herhalten muss, was mit
seelischer Erkrankung assoziiert wird. Ein weiteres Negativum ist die Schwärmerei[5],
wie sie bei Eremiten, Anachoreten und
Mönchen anzutreffen ist. Sie beruht
auf kranker Imagination und führt zu
einer zügellosen „Fliegsamkeit der
Phantasie“. Statt zu wahrer Gottsuche und wahrhafter Gottgemeinschaft, also
zu eigentlicher religiöser Einsamkeit und wahrer Mystik zu gelangen, führt sie
den Strebenden und letzte Erkenntnis Suchenden in die Wirren des Mystizismus.
Diese falsche anachoretische Einsamkeit
wird Zimmermann - als engagierter Moralprediger der Aufklärung
mit einem Hauch Polemik - gar als „Verbrechen
gegen die Menschheit und als ärmliche Huldigung für den Himmel“[6]
bezeichnen.
Falsche
Einsamkeit zieht eine Reihe negativer Erscheinungen nach sich,
besonders Misanthropie und Melancholie. Hingegen gewährt die wahre Einsamkeit alles, was das
Individuum im Leben erstrebt: äußere und
innere Freiheit und Unabhängigkeit, Schaffensruhe, Selbstgenuss, Naturgenuss,
Herzens- und Charakterbildung, Seelenerhebung, Schulung des Geistes in jeder
Beziehung und schließlich Selbstvollendung. Während falsche Einsamkeit also der Hölle gleichkommt, bedeutet wahre Einsamkeit den Himmel – das
Paradies auf Erden!
3.3. „gesellige Einsamkeit“ - eine „contradictio in adjecto“?
Zimmermann unterscheidet, je nach Situation, eine Serie
verschiedener Erscheinungsformen und Typen wahrer, kreativer Einsamkeit – bis
hin zur paradox anmutenden Konstruktion der „geselligen
Einsamkeit“, eine „contradictio in
adjecto“, die wohl die lebensgenießerische Haltung des Rokoko-Menschen
bezeichnen soll! Ein Wolfgang Amadeus
Mozart,
der, trotz gesellschaftlicher Einbindung, ein
Unverstandener, ein zutiefst vereinsamter Künstler war und sicher nur
deshalb den weiten Radius von höchster Freude und bitterstem Schmerz in geniale
Musik umsetzen konnte, könnte diesem Typus des Gesellig-Einsamen entsprochen haben.
Im elisabethanischen
England hatte Vikar Robert Burton mit seinem ähnlich konzipierten Werk über
Melancholie viele aufnahmebegeisterte Leser erreicht. Er wirkte auch nach, vor
allem auf Romantiker von Rang wie Byron. Doch wo liegen die Meriten des Schweizers J.
G. Zimmermann?
Die Forschung kehrte
bisher zwei Punkte hervor: Seine tiefe Wesensschau der schöpferischen Einsamkeit und ihre Bedeutung als höchster Form
einsamen Lebens sowie die Erkenntnis von der tiefen Notwendigkeit, diese
schöpferische Einsamkeit mit menschlicher Gemeinschaft und gesellschaftlichem
Umgang auf fruchtbare Weise zu vereinen[7]. Das
ist nicht gerade viel. Und ganz neu ist das auch nicht.
Die „schöpferische Einsamkeit“ ist spätestens seit Petrarca eine konstante Größe. Dann hat Jean-Jacques Rousseau,
der zweite große Apologet der Einsamkeit,
als anachronistischer Anachoret verlacht und verspottet, hat diese
Existenz-Form vor und neben
Zimmermann erneut aufs Podest gehoben. Und auch die
Anregung, die Früchte der Einsamkeit der Gesellschaft nicht zu enthalten, ist bereits
seit Seneca und anderen Stoikern bekannt. Zimmermanns
Arbeit ist zusammenfassender Art. Was er im frühchristlichen Schrifttum
Cassians, bei Meister
Eckhart, Seuse, Thomas von Aquin und schließlich auch bei dem Zeitgenossen Jean-Jacques Rousseau an Erkenntnissen zur Einsamkeit- und
Melancholie-Diskussion vorfand, hat Zimmermann zu einer Synthese verdichtet. Das Ganze wurde
dann im Geist seiner Zeit und für diese essenziell aufbereitet weitergereicht. Zimmermanns Opus Maximum ist ein leidenschaftliches
Plädoyer für das adäquate Leben in schöpferischer, aktiver Einsamkeit und
somit ein weiterer großer Gestus, der auf die Bedeutung der Einsamkeit als
existenzielle Situation und als bedeutendes Motiv für kommende
Dichtergeneration hinweist.
[1] Eines der besten
Bücher, die überhaupt zur Thematik geschrieben wurden, legt vor: Schings,
Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung,
Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18.
Jahrhunderts, Stuttgart 1977. Schings, zu dessen Thesen ich noch mich
differenziert äußern werde, konzentriert sich in seinem Werk, ausgehend von den
Theorien der Melancholie seit der Antike, primär auf die Zeit der Auflärung und
geht dabei auch auf J. G. Zimmermann ein, S. 217ff.
[2] Zitiert nach:
Maduschka, Leo: Das Problem der Einsamkeit im 18.
Jahrhundert im besonderen bei J.G. Zimmermann, Weimar 1933. S. 104.
[3] Populärwissenschaftliche Schriften in der langen
Tradition von den Ansätzen der Existenzbewältigung bei Epikur bis hin zu Karl
Jaspers‘ existenzphilosophischen Programm, findet man auch
heute zuhauf vor, zum Teil von Unberufenen verfasst, oft bereit, das „Problem“ Einsamkeit rücksichtslos zu
vermarkten
[4] Vgl. Kants Beschreibung der
„Grillenkrankheit“ weiter unten.
[5] J. G. Zimmermann beschreibt mit
dem Ausdruck „Schwärmerei“ das oben
thematisierte Acedia-Phänomen.
[6]
Maduschka, Leo: Das Problem der
Einsamkeit im 18. Jahrhundert im besonderen bei J.G. Zimmermann, Weimar 1933. S. 107.
[7] Ebenda, S. 114.
Leseprobe aus: Carl
Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und
Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu
Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
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Carl Gibson
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Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
|
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik
europäischer Geistesgeschichte und anthropologische
Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine
qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur,
Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino,
Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da
Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau,
Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ –
Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der
Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit
der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch
nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel
könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche
Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue
Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen
Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große
Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet –
richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch
gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach
Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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