Auszug aus Lenaus Gedicht
„Weihnacht“,
Savonarola-Epos
»Die Zeit
des Mitleids und der Güte,
Das ist
die stille kühle Nacht,
Wenn über
die versengte Blüte
Mit
seinem Thau der Himmel wacht.
Die Zeit
des Mondes und der Sterne,
Das ist
die ungestörte Zeit
Des Heimwehs
nach der stillen Ferne
Aus
diesem Thal voll Schmerz und Streit.
Und war
dein Herz am heißen Tage
Auch mit
den Brüdern wild und rauh,
So kühlt
es dir zu milder Klage
Die Nacht
mit ihrem Thränenthau.
Dann
kehrt zu seinem Heiligthume
Das sturmverschlagne
Herz – und glaubt;
Dann
richtet die geknickte Blume
Der Liebe
auf ihr müdes Haupt.
Dann drängt
es dich den Haß zu heilen,
Der
kränkend deine Seele traf,
Und
schnell zum Feinde hinzueilen
Und ihn
zu wecken aus dem Schlaf,
Und dem
Erstaunten und Gerührten
Zu sagen,
daß den herben Groll
Die Thränen
dieser Nacht entführten,
Und daß
er auch dich lieben soll.
Wenn Nachts
im Wald die Vögel schweigen,
Und wenn
das Wild im Dickicht ruht,
Und wenn
kein Windhauch in den Zweigen,
Dann
hörst du einsam nur die Flut;
Du siehst
den Quell zu Thale rinnen,
Er schimmert
hell im Mondenschein,
Du denkst:
»Ich muß wie er von hinnen,
Wär' ich
wie er, so hell und rein!«
»Er
treibt auf Erden seine Wogen
Und eilt
ins heimathliche Meer,
Und ist,
wie er einst ausgezogen,
So rein
bei seiner Wiederkehr!«
Und wenn
du Nachts am Waldesquelle
Dein sinnend
Haupt wehmüthig senkst,
Und bei
der klaren Silberwelle
An deinen
trüben Wandel denkst;
Was kann
die Trauer dir bezwingen
Im
stillen Wald am Quell so klar?
Was hörst
du aus den Wassern singen
Für
Lieder, tröstend wunderbar?
Was hat
den Balsam deiner Wunde,
Und
deinem Schmerze Ruh gebracht?
Es ist
die süße Friedenskunde
Aus einer
längstvergangnen Nacht.
O Nacht des Mitleids und der Güte,
Die auf Judäa niedersank,
Als einst der Menschheit sieche Blüte
Den frischen Thau des Himmels trank!
O Weihnacht! Weihnacht! höchste Feier!
Wir fassen ihre Wonne nicht,
Sie hüllt in ihre heil'gen Schleier
Das seligste Geheimniß dicht.
Denn zöge jene Nacht die Decken
Vom Abgrund uns der Liebe auf,
Wir stürben vor entzücktem Schrecken,
Eh wir vollbracht den Erdenlauf. –
Der Menschheit schmachtendes Begehren
Nach Gott; die Sehnsucht tief und bang,
Die sich ergoß in heißen Zähren,
Die als Gebet zum Himmel rang;
Die Sehnsucht, die zum Himmel lauschte
Nach dem Erlöser je und je;
Die aus Prophetenherzen rauschte
In das verlassne Erdenweh;
Die Sehnsucht, die so lange Tage
Nach Gotte hier auf Erden gieng,
Als Thräne, Lied, Gebet, und Klage:
Sie ward Maria – und empfieng.
Das Paradies war uns verloren,
Uns blieb die Sünde und das Grab;
Da hat die Jungfrau Ihn geboren,
Der das Verlorne wiedergab;
Versöhnung unsrer Schuld erwarb,
Erloschne Sonnen angezündet,
Als er für uns am Kreuze starb.
(…)
Auszug aus Carl Gibson, Essays zur Einsamkeit und Melancholie,
hier die Kapitel zu Girolamo Savonarola.
Girolamo Savonarola – Vorläufer der Reformation
hier die Kapitel zu Girolamo Savonarola.
Girolamo Savonarola – Vorläufer der Reformation
War Girolamo Savonarola ein Melancholiker?
Am 23. Mai 1598 wurde Girolamo Savonarola im Zentrum von Florenz gehängt und anschließend auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem er mehrere Tage auf brutalste Weise gefoltert worden war, ohne zu gestehen oder zu widerrufen. Aus der Sicht seiner Henker, des dekadenten, machtblinden wie inkompetenten Borgia Papstes Alexander VI und seiner Handlanger, war er ein Herätiker und Schismatiker, nicht anders als, um nur einige illustre Namen zu nennen, der große deutsche Mystiker Meister Eckhart vor ihm und Giordano Bruno nach ihm.
Heute ist gewiss, was man damals schon vermutete: Es war ein eiskalter Justizmord im Geiste der Inquisition. Das Todesurteil stand schon fest, bevor die Beschuldigungen und Vorwürfe überhaupt geprüft worden waren. Es war eine bewusste Exekution, die aus klerikalen wie machtpolitischen Gründen herbeigeführt wurde.
Doch wer war Hieronymus Savonarola, dieser einsame Asket und melancholische Charakter, wirklich?
Die Meinungen über die mehr von Charisma als von Fanatismus erfüllte Persönlichkeit, die Königen trotzte, geniale Geister der Zeit in ihren Bann zog, unter ihnen geniale Naturen wie Michelangelo, Sandro Botticelli und Giovanni Pico della Mirandola, die dem Papsttum den Krieg erklärte, sind nach wie vor kontrovers und klaffen weit auseinander. Für einzelne Betrachter ist Savonarola - schon aus ideologisch- dogmatischen Gründen - ein wild gewordener, lebensfeindlicher Dominikaner, ein obskurer Prediger des Untergangs, ein falscher Prophet und Scharlatan, einer, der den humanistischen, kunstgetränkten Geist der Renaissance zugunsten eines primitiven Christentums abwürgen und in Florenz eine Theokratie, einen Gottesstaat, errichten wollte.
Für andere Interpreten hingegen repräsentiert Savonarola den großen Nachfahren von Jan Hus und gilt als der Präreformator der Kirche schlechthin, der Vorläufer Luthers und Calvins, der politische Visionär und Einiger Italiens, der überzeugte, innere, wahrhaftige Christ.
Von Luther selbst stammt ein Ausspruch, er verehre Savonarola wie einen Heiligen.
Das negativistische Savonarola- Bild hat weit gehend weltanschauliche Ursachen. Das Programm ist so angelegt, dass es, je nach der eingenommenen Perspektive, notwendigerweise polarisieren muss. Andererseits beruht es auf Unkenntnis seines nur spärlich bekannten, nur in geringem Maße ins Deutsche übertragenen Werkes und der komplexen historischen Zusammenhänge der Renaissancezeit wie auch auf der Übersteigerung des Ästhetischen in der Wertung. Ein Beispiel für das Letztere liefert Goethe, der bekanntlich zum gesamten Christentum auf Distanz ging, wo er auf das bekannte Gespräch zwischen Savonarola und dem sterbenden Lorenzo de Medici, dem Prächtigen, zu sprechen kommt. Der große deutsche Heide und leidenschaftliche Bewunderer der Renaissancekunst ergreift dabei die Partei des freigeistigen Kunstförderers, ohne nach zeitspezifischen, sozialen und politischen Implikationen zu fragen: „Diesem großen, schönen, heiteren Leben setzt sich ein fratzenhaftes, phantastisches Ungeheuer, der Mönch Savonarola, undankbar, störrisch, fürchterlich entgegen und trübt pfäffisch in die dem mediceischen Haus erbliche Heiterkeit der Todesstunde.“
Goethe orientiert sich in dieser eindeutig überspitzt polemischen Charakterisierung an der Überlieferung des Pico della Mirandola, deren Glaubwürdigkeit – bei allem Respekt vor Pico charakterlicher Integrität – doch nicht selten angezweifelt wird. Pico, ein viel bewunderter Philosoph der Zeit und prominentes Mitglied der platonischen Akademie in Florenz, jüngerer Freund Lorenzos und später überzeugter Anhänger Savonarolas, berichtet: Savonarola, auf Wunsch des Fürsten an sein Sterbebett gerufen, soll für die Erteilung der Absolution folgende Bedingungen gestellt haben:
„Erstens müsst Ihr bereuen und wahre Zuversicht in Gottes Gnade empfinden“.
Lorenzo stimmte zu.
„Zweitens müsst Ihr Euren auf üblem Weg errungenen Reichtum aufgeben“.
Darüber dachte der Fürst zunächst nach, stimmte dann aber zu. Schließlich soll Savonarolas letzte Forderung in dem Satz kulminiert haben:
„Drittens müsst Ihr dieser Stadt die Freiheit wiedergeben.“
Der Prächtige soll sich darauf hin enttäuscht abgewandt haben und ohne Absolution gestorben sein.
Der Dichter Nikolaus Lenau folgt in seinem Savonarola-Epos ähnlichen, vielleicht auch identischen Quellen. Sein Savonarola fordert von Lorenzo, der, aus der Sicht des historischen Savonarola, trotz aller Milde und Philanthropie, doch auch den Typus des Despoten, ja Tyrannen, verkörpert:
Lorenzo! gib die Freiheit wieder,
Der Republik ihr altes Recht,
Das uns gekämpft, geschmeichelt nieder
Dein übermüthiges Geschlecht!
Auch bei Lenau scheitert der erpresserisch anmutende Versuch, der – streng gewertet - unmoralisch ist, aber bei Savonarola der höheren Idee einer demokratischen Struktur geprägt von politischer Freiheit untergeordnet wird. Lorenzo stirbt ohne Segen.
Angelo Poliziano, der Humanist und Dichter, Erzieher von Lorenzos Kindern, hat eine andere Sterbesituation übermittelt. Nach seinem Bericht soll Lorenzo das Festhalten am Glauben, Besserung und mutige Todesbereitschaft zugesagt haben. Daraufhin soll er im gemeinsamen Gebet mit Savonarola und mit dessen Segen von dieser Welt geschieden sein.
Nach einer Aussage von Lorenzo de Medici, dem Prächtigen, soll dieser in Savonarola den einzigen wahren Mönch gesehen haben, den er in seinem Leben fand.
Wird bedacht, dass Michelangelo, Botticelli, Pico und andere herausgehobene Persönlichkeiten der Zeit der gleichen Faszination erlagen, die der existenziell überzeugende Altruist ausübte, dann erscheint Lorenzos Haltung plausibel. Daraus spricht eine hohe Wertschätzung des einfachen Geistlichen, der, nachdem er schon einige Jahre in einem florentinischen Kloster verbracht hatte, auf Pico della Mirandolas Intervention hin endgültig nach Florenz gekommen war. Savonarolas Wirken als charismatischer Prior von San Marco, ja sein Wirken in Florenz überhaupt, wäre ohne eingewisses Wohlwollen Lorenzos nie möglich gewesen. Lorenzo zog es vor, ihn zu dulden, obwohl es gute Gründe gab, Savonarola aus den Mauern der Stadt zu verbannen.
Vier große Vorläufer der Reformation in Europa umsäumen das Luther-Denkmal in Worms -
einer der Prä-Reformatoren ist:
Girolamo Savonarola.
Reformator Savonarola - Kritik von Christentum und Gesellschaft aus der Einsamkeit Klosterzelle heraus
Früher Ruf nach geistig-sittlicher Erneuerung und nach politisch-sozialen Reformen
Früher Ruf nach geistig-sittlicher Erneuerung und nach politisch-sozialen Reformen
Savonarola, 1452 in der bedeutenden norditalienischen Stadt Ferrara geboren, war der zweite dieses Namens, der die Italiener aufhören ließ. Bereits sein Großvater, Michael Savonarola, war ein in humanistischen Kreisen Europas gut bekannter und gern zitierter Arzt und Schriftsteller. Als guter Kenner der Antike vermittelte er seinem Neffen, auf dessen besondere Begabungen er früh aufmerksam wurde, die lateinische Grammatik. Als konsequenter Christ weckte er in ihm den Sinn für religiöse Innerlichkeit, Moralität und Wahrhaftigkeit.
Schon Michael Savonarola soll die Kleriker seiner Zeit ermahnt haben, von der Heuchelei abstand zu nehmen und konsequent jene Wertvorstellungen konkret zu leben, die sie in ihren Predigten verkünden. Damit war im Wesen bereits das reformatorische Programm vorgezeichnet, das sein Enkel Girolamo Savonarola zum Lebensinhalt erheben sollte:
das Reformieren der katholischen Kirche über die Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte des Christentums.
Nachdem Girolamo Savonarola die Ausbildung der sieben freien Künste abgeschlossen hatte, verlies er das wohlbehütete elterliche Umfeld im Ferrara und suchte, ohne seine Eltern von seinen Plänen unterrichtet zu haben, den Weg in die mönchische Einsamkeit in der Abgeschiedenheit.
Mit der Aufnahme in einem Dominikanerkloster in Bologna, verbunden mit der Hoffnung, auf diese Weise seinen eigenen Weg unabhängig gehen zu können, entschied sich der Novize - fern von gesellschaftspolitischen Ambitionen - zunächst nur für das Gott geweihte Leben in stiller Einkehr. Aus den späteren Briefen an Vater und Mutter geht hervor, dass er bewusst ein einsames, weltabgewandtes Leben anstrebte, um über Meditation und Gebet zur inneren Einkehr zu gelangen, um so zur seelischen und geistigen Besinnung zu finden. Als Erklärungsversuch seiner Antriebe ließ er dem Vater ein Manuskript zu kommen; es trägt die Überschrift „Weltflucht“ und dürfte von Petrarcas gleich lautendem Werk inspiriert sein.
Doch anderes als Petrarca, der, wie weiter oben erörtert, seinen Weg zur Wahrheit in der philosophischen und künstlerischen Auseinandersetzung sucht, konzentriert sich der junge Savonarola, dem Dichten und Philosophieren noch nicht ganz abgeneigt, auf die Weisheiten und Lösungsansätze der Bibel, speziell auf das Neue Testament sowie auf die Bücher der alttestamentarischen Propheten. Weltflucht war für Savonarola, dem - wie seinen Vorbildern Dante und Petrarca – ein Hang zur Melancholie nachgesagt wird, ein Eintauchen in Abgeschiedenheit und Einsamkeit, ein asketisches Leben in der kargen Zelle eines Mönchs bis hin zum gottgewollten Märtyrertod.
Vertiefte Bibelstudien prägen diese monastische Lebensphase, ferner Exegese und Meditation über Bibelsentenzen. Nahezu alle seine Erkenntnisse bezog Savonarola aus seinen bis in die mystische Versenkung gesteigerten Auseinandersetzungen mit der Heiligen Schrift. Aus den Botschaften reiften Gewissheiten heran, die dann an der bestehenden Realität überprüft wurden. Was war vom wahren Geist des Christentums, wie er auch der Bibel sprach, in der Zeit der Mediceer und Borgias noch übrig?
Wer nach den Gründen sucht, die eine frühe Politisierung des Dominikanermönchs einleiten, wird sie in einem frühen Gedicht Savonarolas vorfinden. Es trägt die alles bezeichnende Überschrift
„De ruina mundi“, - Vom Verderben der Welt
und atmet die Luft Petrarcas, der als unverkennbarer Spiritus rector im jungen Girolamo weiter wirkt . In diesem Pamphlet zeichnet der Glaubensbruder Meister Eckharts das Bild einer verkehrten Welt, einer Welt, deren Werte auf dem Kopf stehen und in welcher nicht mehr Gott regiert, sondern der Leibhaftige.
Das Gute ist unten, das Böse oben. Alle Sitten sind verkommen – und mit ihr die für die Erhaltung der Werte zuständige katholische Kirche. Die ganze Welt der Christenheit – ein Sodom und Gomorra?
Oder nur ihr Nabel – Rom und der Vatikan?
„Wenn ich die Welt hier seh so bös verkehret,
und ausgegeben ganz, und ausgeleeret,
gar alle Tugend, jede schöne Sitte.
(...)
das Szepter ist gefall’n in Räuberhände;
Sankt Peter naht sich seinem Ende;
Dort wird verprasset Raubgut, ungezählt:
Mich wundert nur, wie noch der Himmel hält.
Siehst du denn nicht den spöttischen Verschwender,
(...)
Merk auf den Kuppler wohl, den Knabenschänder
in Purpur – weh! Ein eitler Blender;
der Haufen folgt ihm und die Blinden schwärmen!
Mußt du nicht auch in bittrem Ekel härmen,
dass dieses schwelgerische Schwein sich freut,
man deine hohen Lobgesäng’ ihm beut,
entwendet von Jasagern, die da mitgenießen –
dieweil die Deinen sind von Land zu Land verwiesen.
Glückselig heutzutag, der lebt von Raub
Und besser satt wird von der andern Blut
(...)
So einer wird die Ehr der Welt verderben,
der Bücher, Schriften nimmt, voll Büberei, in Acht,
Aus jeder Schlechtigkeit ein trefflich Handwerk macht.
Die Erde neigt sich so bedrückt dem Laster zu,
dass nie allein sie abtun mag die Bürde:
zugrund’ geht Rom, Haupt ihr und Würde
(...)
und jedermann bemüht sich, die Wüste auszubreiten:
Vorüber sind die frommen, sind die keuschen Zeiten.
(...)
Mein Lied, o lasse niemals dich betören
dass an dem Purpur du dich hieltest feste;
Flieh hohe Hallen und Paläste
und sorge, dass dein Wort nur wen’ge hören:
denn aller Welt wirst du den Frieden stören.
„Die Wüste wächst – Weh dem, der Wüsten birgt“, wird Nietzsche, der große Kirchenkritiker der neuesten Zeit, viel später ausrufen.
Angewidert vom Wertfall in der Christenheit wird er dann auch aus der Einsamkeit der Wüste der Verwüstung Einhalt gebieten und zur Umkehr und Neuwertung ausrufen: Umwertung aller Werte.
Savonarola liefert das historische Vorspiel dazu – als Agierender mit der gesamten Vita und zunächst mit dem entrüsteten Pamphlet, das auf dem Hintergrund einer inneren Wahrhaftigkeit entstand. Neben den zahlreichen lyrischen Anlehnungen an Petrarca, die darauf verweisen, dass sich der junge Savonarola sehr intensiv mit dem paradigmatischen Vorbild seines lange exilierten Landsmanns auseinandergesetzt hat, fällt auch die geistige Nähe des einsamen Dominikanermönchs zu dem antiklerikalen Dichter auf. Wie Petrarca die Missstände am Papsthof und in der Papstresidenz Avignon geißelte, so kritisiert Savonarola von Bologna und später von Florenz aus das dekadente Papsttum in Rom.
Rom wird für ihn zum Symbol des Niedergangs, während die Christenheit von Florenz aus, wo das eigentliche Herz Italiens schlägt, reformiert werden soll.
Bezeichnend ist, dass in diesem Gedicht, welches vermutlich um 1472 entstanden sein dürfte, klerikale Zustände in Rom gebrandmarkt werden, die noch nicht in die Amtszeit des berüchtigten Borgiapapstes fallen.
Nietzsche sollte später in einem Anfall von hypertropher Polemik gegen das moralisierende Christentum und gegen die Reformation im „Antichrist“ die Zeit des Borgia als das Leben auf dem Papstthron verherrlichen und in seiner Umkehr, die Werte erneut auf den Kopf stellen. In Wirklichkeit war die Zeit der Borgias, des Vaters wie des Sohnes Cesare, ein absoluter Höhepunkt moralischer Dekadenz, nicht aber ihr Anfang und auch nicht ihr Ende.
Auch die Zeit davor, die Michael Savonarola und sein Enkel Girolamo bewusst erleben, war nicht sittlicher. Mord, Raub, Betrug, Rache und Machtmissbrauch aller Art gehörten zum Alltag. Nicht anders als zur Zeit Caligulas und Neros, wo jeder jeden umbrachte, der ihm bei der Ausübung der Macht gefährlich werden konnte, die eigenen Blutsverwandten, die Mütter, Väter und Kinder nicht ausgenommen, war jedermann dem Tod geweiht. Wer die Macht innehatte, ob geistlich oder weltlich, versuchte es, diese um jeden Preis und auf Kosten anderer durchzusetzen, seit Machiavelli sogar unter pseudolegitimer Außerkraftsetzung moralischer Kategorien mit staatsphilosophischem Segen.
So wurden ganze Fürstentümer geboren und vernichtet. Der nicht unwichtige Aspekt, dass die Renaissancezeit nicht nur eine geistige Wiedergeburt des antiken Geistes darstellt, sondern als gesellschaftspolitisch brutale Zeit gelten muss, wird gerade von jenen vergessen, die in der Renaissance nur eine Kunstepoche sehen. In ihrer Neigung zur Idealisierung des Ästhetischen werden die Aspekte des trivialen, politischen Alltags nahezu ignoriert.
Eine Welt, die keine sittliche Struktur aufweist, ist wert, dass man ihr entflieht. Die Einsamkeit der vier Zellenwände bietet ein solches Asyl und ermöglicht die Rettung der eigenen Seele in einer bedrohenden Umwelt.
Noch schlimmer ist, dass auch die moralische Instanz der rücksichtslosen Außenwelt in sich verkommen ist. Deshalb reagiert der junge, von der Reinheit der christlichen Lehre und des wahren Christenmenschen durchdrungene Savonarola mit massiver Enttäuschung auf seine Zeit in welcher die Hüterin der Moral, die Amtskirche versagt hat.
Seneca und Petrarca klagten mit Vehemenz an – Girolamo Savonarola folgt ihrem Exempel. Dabei sehnt er sich nach der natürlichen Ursprünglichkeit des Urchristentums, des Christentums der Märtyrer, nach dem einfachen christlichen Leben, nach Menschlichkeit und zwischenmenschlicher Solidarität, nicht nach Reichtum, Purpur, Prunk und Pomp, die er als eitel und nichtig ansieht – vanitas vanitatum vanitas auch hier.
Dem gesellschaftskritischen Gedicht von dem Ruin de Welt, in welchem die Rolle der moralischen Ordnungsmacht Amtskirche bereits einbezogen ist, folgt ein weiteres Pamphlet über den tatsächlichen Ruin der Kirche,
„De ruina Ecclesiae“
oder „Sang vom Verderben der Kirche“, aus dem Jahr 1475, in welchen die Sehnsucht nach Erneuerung auf einer höheren Ebene artikuliert wird:
„Du keusche Magd, wohl darf ich es nicht wagen,
Doch stimm ich ein in deine bittern Klage.
Wie bist du doch so fern den selgen Zeiten,
Da sich die Märtyrer dem Tode weihten!
Der Heil’gen Kirche schwand in Himmelsferne
Und harret unser in dem Reich der Sterne.“
Der jugendliche Savonarola, der sich jetzt schon in der Tradition frühchristlicher Märtyrer sieht, jener im Kolosseum den Löwen Geopferten, lässt die Kirche selbst, allegorisch als hehre Mutter apostrophiert, die Wurzel des Unheils bezeichnen. Es ist dies die – seit Lorenzo Valla als plumpe Fälschung erwiesene – Konstantinische Schenkung, mit welcher in der Abwendung vom Geistigen und der Zuwendung zum Materiellen der Niedergang des römischen Katholizismus begann:
„Da nahm die hehre Mutter meine Hände
Und führte weinend mich in öd Gelände
Und sprach zu mir: „Als einst zu Rom einzogen
Des Reichtums und der Weltlust wilde Wogen,
Da fing Verderben an und alles Leiden,
Und Kummer nahte mir von allen Seiten.“
In dem Gedicht findet Savonarola noch keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation. Doch bald darauf wird er seine drei Thesen formulieren:
Die Kirche ist krank - sie muss reformiert werden - sie muss bald reformiert werden.
Das geeignete Forum zur Umsetzung dieses gewaltigen Programms nach Hus und vor Luther sollte er in Florenz finden, auf der Kanzel im Kloster San Marco, zu dessen Prior man ihn wählen wird.
Nach seiner Auffassung war Florenz mit seinen begabten und freiheitlichen Bürgern der Ort, wo ein neues Jerusalem entstehen konnte. Deshalb sollte gerade von Florenz aus der kranke Organismus der Kirche kuriert werden. Der einfache Geistliche Savonarola hatte dafür nur ein Mittel zur Verfügung:
das freie Wort – das Wort Gottes.
Savonarola war ein virtuoser Prediger, immer in der Lage, seine Zuhörer zu faszinieren und für seine Sache zu gewinnen. Dabei kam es ihm nicht darauf an, als Populist die Zustimmung und Anhängerschaft in den breiten Bevölkerungsschichten der damals etwa einhunderttausend Einwohner zählenden Stadt Florenz zu erreichen, denn als politischer Theoretiker war Savonarola davon überzeugt, dass, gerade in Florenz, eine kompetente, juristisch unabhängige Bürgerelite regieren soll. Dahinter stand die historische Erfahrung, dass es in einer Gesellschaft immer mehr Schlechte als Gute geben wird und die Masse stets von Autokraten einfach manipuliert werden kann.
Savonarola, der alles andere als politisch naiv war, setzte - als ihm die Macht zufiel - vielmehr auf die Einsicht der Bildungsbürger, der Aristokraten und selbst der Künstler, die er für seine neuen politischen und gesetzgeberischen Reformideen zu begeistern suchte. In seinem Eifer für das zu errichtende Jerusalem verstieg er sich gelegentlich in kühne Visionen und Prophezeiungen.
Er drohte, ganz im Geiste der antiken Zuckerbrot und Peitsche-Taktik der Römer, mit Heimsuchen, Katastrophen, Untergangszenarien und himmlischer Rache, für den Fall, das die Bürgerschaft Florenz seinem Appell nicht folgen würde.
Er rief zur Umkehr auf und zur Buße nach dem Motto:
Poenitentiam agite!
Er wollte die sittliche Erneuerung, die Zementierung der Moral und die Ausrottung der Dekadenz um jeden Preis. Das Ziel war jedoch nicht, wie oft behauptet eine Theokratie, ein geistliches Staatsgebilde mit einem Mönch an der Spitze, sondern eine Republik, die sich am Regierungssystem der Republik Venedig orientierte, ohne jedoch an der Position des Dogen festzuhalten.
Savonarola erstrebte eine Stadt, deren Bürger sich einer sittlichen Erneuerung unterwerfen, zur Beichte gehen, sich seelisch reinigen, die alten Rivalitäten und Feindschaften vergessen und auf dieser Grundlage eine ethisch orientierte und auf das Gemeinwohl bedachte Gesellschaft gründen.
Um diesen geheiligten Endzweck zu erreichen, scheute auch nicht davor zurück, immer wieder auf die Rache Gottes zu verweisen, denn dieses Instrument war seine einzige Waffe, und Florenz und seinen Bürgern, die er für die besten und klügsten in Italien hielt, mit Strafen und Untergang zu drohen.
In seinem Eifer für die gute Sache unternimmt er es, in einem Atemzug, alle geistigen Gegner seiner Ziele und der Sache des wahren Glaubens, die Antike, den Humanismus, die Astrologie, ja selbst die Philosophie insgesamt anzugreifen. In der Predigt
„Ein Herz und ein Seele im Herrn“ aus dem Jahr 1993 wettert Savonarola:
„Geh fort nach Rom und durch die ganze Christenheit; in den Häusern der großen Prälaten und der großen Herren befasst man sich mit nichts als mit Dichtung und Redekunst. Geh nur hin und sieh: du wirst sie finden, humanistische Bücher in der Hand – und tun so, als vermöchten sie mit Vergil und Horaz und Cicero die Seelen leiten.“
Unmittelbar darauf folgt der Angriff auf die pseudowissenschaftliche Astrologie, die von Geistern wie Ficino immer noch toleriert, von Pico, Lorenzo de Medici, vor allem aber von Leonardo abgelehnt und vehement bekämpft wurde.
„Willst du sehen, wie man die Kirche durch die Hand von Astrologen regiert? Es gibt keinen Prälaten und keinen großen Herrn, der nicht irgendwelchen vertrauten Umgang mit irgendeinem Astrologen hätte, der ihm auf den Punkt genau die Stunde vorhersagt, zu der er ausreiten oder irgend etwas anderes tun oder unternehmen soll. Und es würden die großen Herren keinen Schritt über den Willen der Astrologen hinaus tun.“
Savonarola war selbst ein strenger Determinist, überzeugt, ein Werkzeug des göttlichen Willens zu sein, das Gott gebraucht und das er – ohne Rücksicht auf die Person und ihre Verdienste - auch wegwirft. Eine Festlegung durch die Astrologie, an der selbst noch Kepler festhielt, aber war ihm suspekt. Die kontroversierte Astrologie bot ihm, dem versierten Redner und gründlichen Kenner der Scholastik, besonders der Werke des Thomas von Aquin, die Möglichkeit, die Philosophie an sich anzugreifen und die alte Frage zu thematisieren, ob die Theologie die Magd der Philosophie sein solle oder ungekehrt.
„Auch unsere Prediger haben die Heilige Schrift beiseite gelegt und sich der Astrologie und der Philosophie ergeben und diese predigen sie auf den Kanzeln und machen sie zur Königin; und die Heilige Schrift behandeln sie wie eine Magd, denn sie predigen Philosophie, um gelehrt zu erscheinen, und nicht, weil sie ihnen dazu diente, die Heilige Schrift auszulegen.“
Die übermäßige Beschäftigung mit dem heidnischen Schrifttum, speziell mit Platon und dem wiederentdeckten Aristoteles, die von Ficino und Pico sehr erfolgreich betrieben wurde, ärgerte den Dominikaner, weil sie die Gelehrten vom Christentum ablenkte.
Savonarola, der aus der Einsamkeit seines Klosterdaseins heraus bei Anlehnung des gesamten ästhetischen Bereichs massive Gesellschaftskritik betreibt, zieht sich als Theologe und Denker immer mehr zu den Wurzeln des Urchristentums zurück, wo er die letzte Wahrheit vermutet.
Viele weitere Predigten und Abhandlungen, manche von ihnen aufgrund ihrer hohen Brisanz indexiert, oft in Latein, kaum gedruckt und weitgehend unbekannt, konkretisieren Savonarolas Vorstellungen von einem wahren christlichen Leben und einer wahrhaftigen christlichen Kirche. Eine dieser Schriften ist das bereits 1496 ausgearbeitete Werk
„De Simplicitate vitae christianae“,
in Deutsch: Von der Einfalt des christlichen Lebens oder, moderner übersetzt, Von der Einfachheit im Christenleben.
Die zentrale Aussage Savonarolas darin lautet: das christliche Leben ist schlicht und einfach, ohne überflüssigen Prunk und Reichtum.
Die Kirche ist – ganz im Geist des Franz von Assisi - für die Armen da, nicht um Reichtümer aller Art anzuhäufen und Paläste zu errichten.
Was im Religiösen zählt sind zentrale humane Werte wie Innerlichkeit und Nächstenliebe:
„Ihr habt viele überflüssigen Kelche und Paramente, viele Kreuze und Gefäße von Gold und Silber. Sagt mir: warum schmilzt man sie nicht ein und warum gibt man sie nicht den Armen? Sicher lieben die Sakramente das Gold nicht und haben keinen Bedarf dafür. Unsere Väter hatten Kelche aus Holz; aber damals hatten die Kelche aus Holz Priester aus Gold; und jetzt haben die Kelche aus Gold Priester aus Holz.“
Das ist brisanter Sprengstoff. Savonarola erkennt auch, dass die Bettelorden über ihr Ziel hinausschießend der Habgier verfallen, zu viele Almosen einsammeln und sie für eigene Zwecke einsetzen, statt sie den Armen zu geben; er stellt fest, das Armut junge Mädchen veranlasst, sich preiszugeben, das selbst Klosterfrauen zu Luxus neigen, wogegen die Heilige Schrift eindeutig ist:
„Man wird sicherlich an keiner Stelle finden, dass Christus uns befehle, Kelche und Paramente von Gold zu machen und großartige Kirchen – wohl aber, dass wir die Armen nähren“.
Das alles sind eindeutige, klare, soziale wie revolutionäre Aussagen, die allesamt sehr diesseitsbezogen und realpolitisch sind.
Christus am Kreuz - immer noch gültige Mahnung,
das "wahre Christentum" umzusetzen.
Von Savonarola zu
Machiavelli - Kritik des Papsttums und der Tyrannis
Vom Willen zur Macht und der Schwermut der Tyrannen -
Kritik des Borgia-Papsttums und Zurückweisung der Tyrannis
Negative Melancholie - der Tyrann als Melancholiker.
Der oft diffamierte und angefeindete Savonarola war keineswegs ein naiver Visionär. Hinter der Sache Gottes, der alles untergeordnet wurde, standen stets sehr konkrete Vorstellungen von einer neuen, demokratisch orientierten Verfassungsreform in Florenz und in fernerer Zukunft, die Vision eines geeinten italienischen Nationalstaates von Sizilien bis in die Alpen.
Während andere aus der Einsamkeit heraus und fern vom gesellschaftlichen Dialog Kunstwerke schufen, widmete sich Savonarola im Gespräch mit den Mitbürgern der gesellschaftlichen Umgestaltung. Dabei entwickelte er den Ehrgeiz, eine demokratische Verfassung durchzusetzen, die dem Wohl der Stadt Florenz und dem Allgemeinwohl seiner Bürger diente, legte aber keinen Wert darauf, sich persönlich in das politische Alltagsgeschäft einzumischen.
Savonarola wollte keine Macht für sich, obwohl er sie haben konnte. Er war eine „moralische Instanz“ und zu keinem Zeitpunkt bereit, diese Position zu gefährden. Dazu war er zu klug. Zwei Jahre nach dem Tod Lorenzos des Prächtigen und der Vertreibung seines weniger vom Glück begünstigten Sohnes Piero aus Florenz wurden die politischen Ansätze des Dominikanerpredigers Realität. Dank seiner Autorität gelang es Savonarola, seine Sympathisanten für drei Jahre an die Regierung zu bringen. Er blieb als einflussreicher Kopf seiner Erneuerungsbewegung im Hintergrund.
Florenz erhielt unter Savonarolas Einfluss eine neue, recht demokratische Verfassung, die sich am Regierungssystem der Republik Venedig orientierte. Venedig war seinerzeit das einige annähernd demokratische Staatssystem auf dem Gebiet des heutigen Italien. Der Süden, das Königreich Neapel, wurde von dem gefährlichen Despoten spanischer Abstammung Ferdinand beherrscht, während in der Mitte der Kirchenstaat bis in die Romagna hin wucherte und im Norden, im Herzogtum Mailand, der Usurpator Ludovico Il Moro die Zügel der Macht in der Hand hielt, bis Mailand von den Franzosen unter Karl VIII. erobert und annektiert wurde. Savonarola setzte sich also auch als politischer Reformator durch, war aber nicht in der Lage, die Macht in diesen turbulenten Zeiten, die von zahlreichen politischen Intrigen und Grabenkämpfen geprägt war, auf längere Sicht zu festigen und zu erhalten. Das Wort Gottes und der Glaube an das Gute reichten nicht aus, um profane Waffen zu ersetzen.
Ein anderer Einsamer aus Florenz, Niccolo Machiavelli, der in der Einsamkeit des Landlebens vor den Toren der Stadt seinen „Principe“ verfasste, und schließlich aus dem Fenster eines Patrizierhauses der öffentlichen Verbrennung Savonarolas auf dem Scheiterhaufen zusehen sollte, notiert in seinem bekanntesten Werk die leicht zynischen, aber treffsicheren Worte:
„Moses, Cyrus, Theseus und Romulus wären nicht imstande gewesen, ihre Einrichtungen lange gültig zu erhalten, wenn sie unbewaffnet gewesen wären, wie es in unserer Zeit Frau Girolamo Savonarola war. Er fand bei seinen gesetzlichen Neuerungen den Untergang, als die Menge aufhörte, an ihn zu glauben; er hatte kein Mittel, diejenigen, die an ihn glaubten, zu halten, und keines, um die Zweifler zum Glauben an ihn zu zwingen.“
Savonarola wollte keinen autokratischen Gottesstaat, keine klerikale Diktatur fundamentalistischer Prägung, aufgebaut auf militärische Macht und innenpolitischem Terror. Vielmehr erstrebte er eine geistige Revolution, eine Veränderung des Bewusstseins und der Werte.
Obwohl er in seinen vehementen Plädoyers für die Sache Gottes gelegentlich weit über das Ziel hinaus schoss und zum zeitspezifischen Mittel der verbalen Drohung und Einschüchterung griff, um das Bewusstsein der Massen auf seine höheren Ziele hin zu lenken, war er kein blinder Fanatiker, sondern im Grunde seines Wesens ein humaner Mensch, dem nichts Menschliches fremd war, gar ein „Humanist“. Von anderen als Humanisten beschimpften Geistern seiner Zeit unterschied er sich nur durch die Zurückweisung des sinnlichen Lebens im pseudoepikureischen Sinn und der Missachtung der Welt des Schönen und Angenehmen im Bereich der bildenden Kunst und der Musik.
Für seinen aufmerksamen Zeitgenossen Machiavelli, der manche Predigt im Kloster von San Marco verfolgte, stellte er den Typus des unbewaffneten „Propheten“ dar, der scheiterte, weil er die zynischen Gesetze der Macht und Machterhaltung nicht respektierte.
Machiavelli, der zeitweise ohne politische Aufgaben, vorwiegend mit staatsrechtlichen Studien beschäftigt, ein äußerst bescheidenes, einsames Leben führte, in der Hoffnung, die Medici, die ihn politisch lahmgelegt hatten, würden ihm doch noch eine Stellung zukommen lassen, hatte vielfache Gelegenheit, den Prior von San Marco in Florenz zu erleben, ihn predigen zu hören, und speziell seinen klarsichtigen Ausführungen über die Tyrannis zu folgen, zu deren Repräsentanten er auch die Familie der Medici zählte. Es ist sogar denkbar, dass Machiavelli zumindest in den erfolgreichen Jahren des Charismatikers der Anhängerschaft Savonarolas angehörte, weniger aus religiöser Überzeugung, sondern vielmehr aus staatspolitischer Einsicht, denn die Wertschätzung Savonarolas blieb selbst nach dessen Hinrichtung erhalten.
1497 verfolgte Machiavelli mehrere Predigten Savonarolas als Zuhörer und berichtete darüber – im Auftrag oder freiwillig – nach Rom, wohl in die unmittelbare Umgebung seines Widersachers, des Papstes Alexander VI., der Savonarola zuerst mit einem Schweigeverbot belegt hatte und ihn schließlich auch exkommunizieren sollte.
Mordanschläge auf Savonarola waren mehrfach gescheitert.
Machiavelli berichtet:
„Er predigt wieder, weil die neue Signoria zu wählen war und er schon den Scheiterhaufen roch. Die Stadt nämlich, seinen Ungehorsam gegen den Papst erfahrend, und seiner Prophezeiungen, die nichts anderes als Unheil enthielten, bis zum Überdruss müde, fing an, sich gegen ihn zu wenden. Deshalb wollte er sein schlimmes Los hinausschieben.“ (DH151)
An andere Stelle schreibt er an den florentinischen Geschäftsträger in Rom ,Recciardo Becci:
„Als ...er sah, dass er seine Gegner in Florenz nicht mehr zu fürchten brauchte, hat er dem Mantel gewechselt, und da er nicht mehr nötig hat, seine Partei durch Verwünschung ihrer Gegner und durch Erregung der Furcht vor einem Tyrannen einig zu halten, so tut er nunmehr keine Erwähnung mehr von einem Tyrannen oder der Lasterhaftigkeit der Gegner, sondern sucht alle gegen den Papst aufzuregen und gegen ihn und seine Abgeordneten aufzuwiegeln.“ (155)
Die Wesenheit des Borgia Papstes konnten seine Zeitgenossen mit zwei Begriffen erfassen:
Simonie und Sodomie.
Der Borgia war durch Stimmenkauf auf den Thron Petri gelangt und hatte sich dort als Verwalter eines Hurenstalls, als Knabenschänder, Wüstling und Giftmischer einen Namen gemacht, bevor er – mit allen Mitteln der Kirche – zur Vernichtung des einfachen Dominikanerpredigers Savonarola ansetzte.
Von Vater Borgia, der zu seiner ebenso berüchtigten Tochter Lucrezia ein inzestuöses Verhältnis pflegte und seinem Spross Cesare war seinerzeit bekannt, dass der Papst das nicht tue, was er sage und Cesare, nie sage, was er zu tun gedenke.
Wer sich mit dem Borgia-Clan anlegte, hatte Repressalien zu befürchten, auch in Florenz.
Eben aus diesem Grund bröckelte die Solidarität der Florentiner mit Savonarola, weil die Bedrohung durch Rom schwerer wog und mehr verunsicherte als die angedrohten Heimsuchungen Savonarolas, die all jene treffen sollten, die sich vom rechten Weg entfernen.
Machiavellis Briefaussagen sind deshalb tendenziös, weil er den genauen Text der Predigten, die überliefert sind, kannte, und weil er sehr genau über die tatsächlichen parteipolitischen Verhältnisse in Florenz Bescheid wusste. Die „Arrabiati“, die sogenannten Rabiaten, Anhänger der Medici und konservative Aristokraten, die allesamt seit Savonarolas Neuordnung der politischen Verhältnisse in Florenz sehr viel verloren hatten, wollten den Status quo ante, die Restauration der früheren Besitzstände und somit den Sturz Savonarolas, was den Interessen des Rodrigo Borgia entgegenkam.
Machiavelli verfolgte die tragische und verhängnisvolle Entwicklung als Beobachter ohne die Möglichkeit einer Intervention. Vielleicht erkannte er darin sogar eine persönliche Chance. Jedenfalls bleibt sein Bild von Savonarola, mit dem ihn doch viele substanzielle Gemeinsamkeiten verbinden, wohlwollend positiv. Das haben auch neuere Forschungen zur Thematik, im Gegensatz zu eher oberflächlichen Ansätzen früherer Arbeiten, eindeutig bestätigt. Inzwischen dürfte auch wissenschaftlich gesichert sein, dass Savonarolas Ausführungen zur Staatstheorie Machiavellis Schriften nachhaltig inspiriert und oft auch direkt beeinflusst haben. Dafür sprechen verwandte Textstellen im „Principe“ und in anderen Werken Machiavellis.
Da Bruder Girolamo Savonarola in seinem kurzen, aber sehr intensiven Leben vielfache Aktivitäten entfaltet hat, fällt es kaum auf, dass auch er ein Einsamer war, ein einfacher Mönch, der in der kargen Zelle im Gebet versunken seinen Weg zu Gott suchte; ein Anachoret, der in mystischen Phasen Visionen hatte, und der im rationalen Zwiegespräch mit Gott Lösungen suchte für die Welt, in der er lebte. Nur richteten sich seine Totengespräche nicht auf die Heiden der Antike, sondern auf die Botschaften der Propheten im Alten und im Neuen Testament.
Savonarolas Umgang mit der Einsamkeit ist dem Einsamkeitserlebnis Ciceros vergleichbar. Beide ziehen sich in ein stilles, abgeschiedenes Refugium zurück, in die karge Zelle, ins Studierzimmer, entwerfen sich dann aber um so extensiver in der öffentlichen Rede auf dem Forum, im Plädoyer des Anwalts oder auf der Kanzel, wobei die „res publica“ Ciceros bei Savonarola noch um die Sache Gottes erweitert wird.
Cicero argumentiert diesseitsbezogen, während Savonarola über das „hic et nunc“ der Gesellschaft die „lex divina“ als „lex aeterna“ der Zukunft im Auge hat. Savonarola schätzte zwar das Leben in der Abgeschiedenheit, weil es ein Leben der Reinheit, der Selbstbesinnung und der religiösen Innerlichkeit bedeutete, aber er huldigte ihm nicht in der Ausschließlichkeit, wie das zeitweise sein lyrisches Vorbild Petrarca bei Avignon betrieb.
Savonarola sah im einsamen Leben auch kein Existenzmodell für seine Mitmenschen. In einer seiner Predigten zur florentinischen Politik aus dem Jahr 1494 heißt es schon zum Auftakt ganz explizit:
„Da der Mensch ein soziales Lebewesen ist, das einsam nicht zu leben vermag, ist es notwendig gewesen, dass die Menschen sich untereinander vereinigten und zusammenfanden, in Städten oder Flecken oder Dörfern, und einen gegenseitigen Zusammenschluss für die gemeinsamen Bedürfnisse aller durchführten.“
Damit greift Savonarola auf das aristotelische Paradigma zurück, auf die Definition des Menschen als ein „zoon politikon“, als ein gesellschaftliches Tier und stimmt somit einem heidnischen „Naturphilosophen“ –wie er Aristoteles nennt – in diesem Punkt zu.
Der Mensch ist auf die Gesellschaft angewiesen und kann ohne die Einbindung und ihren Schutz nicht existieren. Die beste Regierungsform ist nach Savonarolas ethischer Überzeugung die Regierung und Leitung des Staatsgebildes durch ein Haupt, mit dem zentralen Zusatz: wenn dieses Haupt gut ist.
„Aber wenn ein solches Haupt böse ist, gibt es keine schlechtere Regierungs- und Herrschaftsform als diese, indem ja das Schlechteste der Gegensatz des Besten ist.“
Dies aber ist die Tyrannis, eine jener entarteten Regierungsformen, welche schon in der Antike, vor allem seit Platon, verabscheut und bekämpft wird.
Savonarola beschreibt den Tyrannen in seinen sehr klaren Ausführungen zur Staatstheorie, deren letzte Fassung aus dem Jahr 1498 stammt, also kurz vor seiner Ermordung abgeschlossen wurde. Sein Tyrannen-Bild orientiert sich an den Gewaltherrschern seiner Zeit, an Ferdinand von Neapel, Ludovico Il Moro, dem Mäzen Leonardos in Mailand, an Cosimo de Medici, an Cesare Borgia, besonders aber an Lorenzo de Medici, den Savonarola mit anderen Augen betrachtet als die Schöngeister, Literaten, Philosophen und Künstler um ihn und an den er viel schärfere ethische Maßstäbe anlegt als an den offensichtlichen Verbrecher Cesare Borgia, der es, wie es Machiavelli bezeugt, schaffte, nahezu alle seine politischen Gegner umzubringen.
Für Ficino, Pico, Angelo Poliziano war der Erlauchte, der Sohn der Sonne, in erster Linie ein großer Freigeist, der Förderer Michelangelos und der Schönen Künste, der geschickte Diplomat und erfolgreiche Geschäftsmann; für Savonarola hingegen war er der Erbe und Fortführer einer Dynastie von selbstherrlichen Fürsten, die seit Cosimo mit Gewalt an die Macht gekommen war, die Terror ausgeübt, politische Gegner ermordet und Missliebige in die Einsamkeit der Verbannung geschickt hatte.
Ungeachtet seiner Nähe zur Welt der Künste und der Akademie, seines Dichtertums sah er in Lorenzo dem Erlauchten einen im politischen Alltag rücksichtslosen Despoten, der die eigenen Bürger mied, dafür Fremde bewirtete und für diese rauschende Feste veranstaltete, ein Machtmensch, der sich das nahm, was er wollte und dabei zahlreiche Menschen ins Unglück stürzte, einen Principe, der sich vielleicht nur als Kunstmäzen betätigte, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
In seiner Unterscheidung von Gut und Böse fragte Savonarola nie danach, wer einer war, sondern immer nur, wie einer lebte. Der Lebenswandel, die Taten zählten, bei Papst Alexander VI. ebenso wie bei Lorenzo di Medici.
Savonarola schreibt in seinen staatstheoretischen Ausführungen, die als Kommentare und Verdeutlichungen seiner oft entstellt wiedergegebene Predigten angesehen werden können, zu diesem Thema:
„Tyrann ist der Name eines Menschen von üblem Lebenswandel, des schlechtesten unter allen andern Menschen, der mit Gewalt über alle herrschen will, und besonders, wenn er sich vom Bürger zum Alleinherrscher aufgeschwungen hat. Darum ist als erstes zu sagen, dass er hochmütig ist, indem er sich über seinesgleichen erheben will, vielmehr über die, die besser sind als er, und über die, denen er unterworfen zu sein verdiente: und daher ist er neidisch und betrübt sich über den Ruhm anderer Menschen, und besonders seiner Mitbürger; und er kann es nicht leiden, andre loben zu hören, wenngleich er es oftmals verhehlt und mit Qual im Herzen zuhört; und er ist froh, wenn der Nächste geschmäht wird, so sehr, dass er jedermann getadelt wissen möchte, damit er allein glorreich dastünde. Und wegen der schweren Wahngedanken, Depressionen und Ängste, die stets innerlich an ihm nagen, sucht er Genüsse wie Medizin für seine Niedergeschlagenheit: und darum findet sich selten – oder vielleicht niemals – ein Tyrann, der sich nicht wollüstig den fleischlichen Genüssen hingibt. Und weil er ohne eine Menge Geld nicht auf die Dauer imstande ist, sich die Vergnügungen zu verschaffen, die er wünscht, muß er folgerichtig in ungeordneter Weise nach Besitz begehren: daher wird jeder Tyrann zum habsüchtigen Räuber, denn er reißt nicht nur die Herrschaft an sich, die dem ganzen Volk gehört, sondern er nimmt auch das Gemeindevermögen weg, noch zu dem dazu, was er von den einzelnen Bürgern begeht und wegholt, mit dunklen Geschäften, auf verborgenen Wegen und manchmal ganz offensichtlich. Und aus diesem folgt, dass der Tyrann alle Sünden der Welt im Keim in sich trägt.“
Thomas von Aquin hatte die „Acedia“ oder Tristitia als die Hauptsünde ausgemacht, Verfehlungen, aus denen alle anderen Sünden hervorgehen. Savonarola, der die Schriften des Scholasten gut kennt, namentlich die „Summa theologiae“, lehnt sich in diesem Punkt an Thomas an und identifiziert den Tyrannen als den Träger dieses sündhaften Keims.
Der hier von Savonarola beschriebene Tyrann, als dessen Prototypen in der römische Geschichte vor allem Caligula und Nero gelten können, ist der Melancholiker überhaupt, dem letztendlich nur der Wahn bleibt.
Dieser sündhafte, mit allen Lastern der Welt ausgestattete Tyrann, zieht sich in die Einsamkeit der Macht zurück und verfällt in ihr im Misstrauen und Weltekel der Vereinsamung, der krankhaften Melancholie, hinter welcher nur noch Verzweiflung und Wahn lauern.
Das Los aller Diktatoren und Usurpatoren bis hin zu den finstern Gewaltherrschern totalitärer Systeme im 20. Jahrhundert ist letztendlich der Verfall in weltabgewandtes, die Realitäten verkennendes Irresein. Tyrannen, Usurpatoren und Diktatoren der Neuzeit werden mit zunehmender Isolation von Wahnvorstellungen regiert, die oft Verbrechen in kaum noch nachvollziehbaren Dimensionen auslösen.
Neben einer Fülle negativer Eigenschaften vereint dieser Typus des Melancholikers eine Reihe charakteristischer Symptome in sich:
Depressionen, schwere Wahngedanken, Ängste und die Niedergeschlagenheit, alles Merkmale, die aus psychopathologischer Sicht das Phänomen der Melancholie umschreiben. Hinzu kommt der Aspekt der Wollust.
Wie schon Ficino am Fall des Epikureers Lukrez darlegte, versucht der Melancholiker sein Leiden zu überwinden, indem er sich übermäßig in die Fleischeslust stürzt.
Savonarola appelliert hier teils an ein weiteres schattenhaftes Lorenzobild, das dieser im Bewusstsein seiner Zeitgenossen verkörperte,
„libidinoso e tutto venereo“,
nämlich das des Wollüstigen,
des Wüstlings, der sich – als „usurpatore della roba“ - zur bloßen Triebbefriedigung - und ohne Rücksicht auf den betroffenen Menschen – mit Gewalt das nimmt, was er begehrt - teils schwebt ihm das noch verwerflichere Bild des Borgia Papstes vor, des Päderasten Alexander VI. –
„lussurioso in ambo“.
Beide Herrscher, der weltliche Fürst ebenso wie der geistliche Führer, haben eine hohe moralische Vorbildfunktion inne, der sie nicht gerecht werden.
Bei Borgia, den Savonarola noch in seiner letzten Predigt indirekt als Sohn der Wollust bezeichnet, ist dies aber um so schlimmer, da er nicht nur eine politische Einheit, ein Fürstentum oder einen Staat repräsentiert, sondern das geistige Oberhaupt der gesamten Christenheit darstellt.
Mit der hier eindeutig vorgenommenen Festlegung des Tyrannen auf die Melancholie verschiebt sich die Melancholieauffassung der Zeit stark ins Negative. Als Negativcharakteristikum stellt sie einen neuen Aspekt dar.
Melancholie ist jetzt nicht mehr das Kennzeichen des genialen Individuums, kein Phänomen, das man auch noch lieben und verherrlichen kann, sondern das Stigma des Tyrannen, des Diktators, des Verbrechers.
Der Gewaltherrscher erscheint nun als der große Einsame, der, je mehr in der Hierarchie der Machtvervollkommnung steigt, umso weltfremder und einsamer wird.
Mit der Verknüpfung von Negativmelancholie und Tyrannis ist ein Typus definiert, den die Literatur der kommenden Jahrhunderte noch stärker herausarbeiten wird. Beginnend mit den großen Einsamen Shakespeares führt die Gestaltung des Themas bis in die französische Literatur des 20.Jahrhunderts, die sich im geistigen Umfeld der Existenzphilosophie ausbilden wird.
Das positive Gegenbild zu dem dekadenten Gewaltherrscher könnte Savonarola in einem Herrschertyp erkannt haben wie ihn Mark Aurel, der Philosoph auf dem Thron, verkörperte; in einem Kaiser oder Principe, der unter Beherrschung seiner eigene Affekte eine ethisch fundierte Regierungsform umsetzt.
Thomasso Campanella, ein weiter Dominikaner und Zeitgenosse Giordano Brunos – wie Savonarola und Bruno stigmatisiert, verfolgt und für lange Jahre in den Kerker geworfen – nutzte sein Leben in der Einsamkeit um in seinem Sonnenstaat „Città del sole“ eine christlich-kommunistische Utopie zu entwerfen, eine Staatsform, die von erhabenen Priesterphilosophen geleitet wird. An der Spitze dieses Staatsmodells sollte ein idealer Papst stehen, ein Oberhirte der Christenheit, und somit eine moralische Instanz, die sich vom wohl berüchtigtsten Papst der Renaissancezeit, von dem lasterhaften Borgia, in extremer Positivität abhob. Im „Jesuitenstaat“ Paraguay wurde dieses Modell bis zu einem gewissen Grad praktisch umgesetzt.
Die katholische Kirche hält am Prunk fest - auch ein halbes Jahrtausend nach Savonarola und der Reformation, ungeachtet der Armut in der Welt.
(Im Bild: Altar der Wieskirche in Bayern)
Savonarolas Märtyrer-Tod auf dem Scheiterhaufen der Inquisition - war er ein Vorbild für Giordano Bruno und Galileo Galilei?
Frate Girolamo kannte aber auch noch eine andere Form der Melancholie, eine individuelle und existenzielle. Schließlich war er sowohl als charakterlicher wie als religiöser Melancholiker mit den negativen Auswirkungen der Phänomene gut vertraut.
Die beiden Predigten seiner letzten Tage und Stunden
„Miserere mei, Deus“ und „In te, Domine, speravi“
zeugen davon.
In den letzten Tagen vor seiner Ermordung durch seine päpstlichen Henker und ihre Helfershelfer aus der florentinischen Bürgerschaft, tauscht der Prior die einsame Zelle im Kloster von San Marco gegen eine noch einsamere Gefängniszelle ein, die, wie ihm bald bewusst ist, seine Todeszelle sein wird.
Systematisch gefoltert, physisch wie psychisch gequält und gedemütigt, durchlebt Reformator Savonarola in der engen, dunklen Haftzelle eine Reihe von existenziellen Grenzsituationen, in denen sich tiefe Heimsuchungen von Melancholie, Verlassenheit und naher Verzweiflung einstellen.
Was nach außen hin heroisch erscheint, ist in Wirklichkeit ein fast übermenschliches Erleiden von Seelenqualen zwischen schmerzlicher Verzweiflung und hoffnungsvoller Errettung.
Der Leidensweg Savonarolas gleicht in vielem der Passionsgeschichte Christi, in der das menschliche Leiden bis hin zum individuellen Tod archetypisch eingefangen ist.
Wie Jesus Christus folgt er seiner Berufung,
lehrt das Wort Gottes,
stiftet Frieden,
bannt Unheil in Florenz,
brandmarkt die Laster,
entfernt die Schurken von den Zentren der Macht,
will den Tempel reinigen – und bezahlt dafür mit
Stigmatisierung,
Verleumdung,
Exkommunikation,
Kerkerhaft und Martyrium.
Auch er wird von seinem Volk, seiner Anhängerschaft verlassen werden.
Und selbst seine Getreuen, die bis zuletzt loyal zu ihm stehen, werden in nicht in den Tod begleiten können.
Selbst die letzten Stunden Savonarolas in der Kerkerzelle, auf den zur letzten Gewissheit gewordenen Tod wartend, sind dem Golgatha-Erlebnis am Kreuz vergleichbar.
Golgatha – das ist letztes und tiefstes Erleben und Durchleiden von Einsamkeit, von extremer Verlassenheit,
in Todesangst und von Anflügen von Verzweiflung.
In solchen Situationen, wo alles Irdische unwichtig wird, formuliert der große Reformator vor Luther seine Klage, die er in christlicher Demut als „mea culpa, mea maxima culpa“ zur – an sich unbegründeten – Selbstanklage steigert, denn seine Sache war stets uneigennützig die Sache Gottes:
„Unselig, wie ich bin, verlassen von jedermanns Hilfe, der ich den Himmel beleidigt habe und die Erde!
Wo soll ich hingehen?
An wen mich wenden?
Zu wem flüchten?
Wer wird mit mir Erbarmen haben?
Ich wage nicht, die Augen zum Himmel zu erheben, denn gegen ihn habe ich schwer gesündigt. Auf der Erde finde ich keine Zuflucht, denn ich bin ihr zum Ärgernis geworden. Was soll ich also tun?
Werde ich verzweifeln?
Gewiß nicht.
Gott ist barmherzig, mein Erlöser ist voll väterlicher Liebe.
Wohlan, Gott allein ist meine Zuflucht. Er wird sein Werk nicht verachten, wird sein Bild nicht von sich jagen. Zu dir also, du liebreicher Gott, flüchte ich und komme ganz in Schwermut und voll Schmerz, denn du bist allein meine Hoffnung, du allein meine Zuflucht.
Aber was soll ich dir sagen, da ich ja nicht die Augen zu erheben wage? Ich werde Worte des Schmerzes vergießen und deine Barmherzigkeit anflehen und sagen:
Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.“
Womit hatte der aufrichtige Christ, den es nach einer geläuterten Kirche und einem vereinten Vaterland verlangte, gegen den Himmel gesündigt? Als er ein Wunder provozieren wollte, indem er – wohl schon in Antizipation der drohenden Verbrennung auf dem Scheiterhaufen - durch einen Korridor lodernder Flammen zu gehen versprach, dann aber doch zögerte und allzumenschlich zurück schreckte, zweifelte er damit auch an Gott?
Die Selbstzweifel, dem Feuermeer heil zu entkommen und das symbolträchtige Zurückweichen verwiesen auf fehlendes Gottvertrauen und waren deshalb gleichbedeutend mit sündhaftem Verhalten.
War das ein Akt von Hybris, der bestraft werden musste?
Savonarola, der in jeder Situation Gott vertraut hatte im Bewusstsein, nur ein Medium, nur ein Instrument des göttlichen Willens zu sein, war einmal der Schwäche erlegen, indem er – fern von egoistischen Absichten- das Blatt für die „res publica“ von Florenz noch einmal wenden wollte. Nach dem Scheitern als politisch Handelnder, als Gläubiger und als Mensch stellte sich totale Verzweiflung ein, die ins Metaphysische ausgedehnt wurde. Doch war nicht auch Jesus in einer ähnlichen Verzweiflungslage, als er letztendlich anklagend ausrief:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“?
Wer alles gegeben hat, um die hehrsten aller Ziel zu erreichen, darf diesen leisen Vorwurf formulieren – selbst an die Adresse Gottes, dessen tiefere Pläne nicht durchschaut werden können.
Das Schuldigwerden und das Scheitern sind Wesenheiten der menschlichen Existenz – in vielen Formen. Savonarola ist sich dieser vermeintlichen Sünde und Schuld bewusst. Als geschulter Dominikaner weiß er, dass die von Zweifeln genährte „Schwermut“ aus scholastischer Sicht einer Hauptsünde gleichkommt, aus der alles Böse emaniert. Es ist die berüchtigte Accidia oder Tristitia, nur anders ausgelöst.
Er steht zu dieser sündhaften Haltung in Schwermut und bekennt sich zu ihr – in Demut. Deshalb ist die innig erlebte Vereinsamung ebenso echt wie das Gefühl der Verzweiflung.
Nur der Prior von San Marco wird nicht verzweifeln. Er wird sich noch einmal aufbäumen und in nahezu übermenschlicher Anstrengung die körperlichen Folter ertragen;
er wird als Märtyrer ausharren und als solcher den letzten einsamen Gang beschreiten – den Weg in den Tod.
Savonarola, der während den folgenden Misshandlungen weder gesteht noch widerruft, ist vom Bewusstsein erfüllt, aus dem Tal des Elends in die Welt des Lichts hinüber zu schreiten. In seinem letzten großen Dokument „In te, Domine, speravi“ steht das Gefühl der letzten Einsamkeit, der tiefen Melancholie, als existenzielle Traurigkeit im Mittelpunkt.
Es ist wiederum nicht die Acedia der frühchristlichen Eremiten, die vom Mittagsdämon herrührt oder die bei Thomas von Aquin und Bonaventura abgehandelte Tristitia, die der Langeweile entspringt, sondern es ist existenzielle „Traurigkeit“, die dann aufkommt,
wenn die gesamte Sinnstruktur der Existenz einbricht,
wenn das irdische Leben sinnlos wird – im Angesicht der Vergänglichkeit und des Todes:
„Die Traurigkeit hält mich belagert; mit großem, starkem Heer hat sie mich umgeben; sie hat mein Herz besetzt; mit Lärm und Waffen, bei Tag und Nacht lässt sie nicht ab, gegen mich zu kämpfen.
Meine Freunde sind in ihrem Lager und sind mir Feind geworden.
Alle Dinge, die ich sehe, alle Dinge, die ich höre, halten mir die Banner der Traurigkeit entgegen.
Das Gedenken an die Freunde macht mich traurig; die Erinnerung an meine Söhne drückt mich nieder; die Betrachtung des Klosters und der Zelle foltert mich; die Meditation über meine Studien tut mir weh; der Gedanke an meine Sünden drückt mich sehr; und wie denen, die Fieber haben, alles Süße bitter scheint, so verkehrt sich mir alles in Schmerz und Traurigkeit.
Sicher, große Last auf dem Herzen ist diese Traurigkeit; sie ist ein Schlangengift, eine todbringende Pest: sie murrt gegen Gott, lässt nicht ab zu lästern, treibt zur Verzweiflung.
Ich unglücklicher Mensch, was soll ich tun?
Wer wird es sein, der mich aus ihren gottesräuberischen Händen befreit?
Wenn alles, was ich seh und höre, ihren Feldzeichen folgt und gegen mich kämpft – wer wird dann mein Schützer sein?
Wer wird mir helfen?
Wohin soll ich gehen?
Auf welche Weise kann ich fliehen?
Ich weiß, was ich tun werde. Ich will mich den unsichtbaren Dingen zuwenden und sie gegen die sichtbaren setzen. Und wer wird Hauptmann und Führer eines so erhabenen und so schrecklichen Heeres werden?
Es wird die Hoffnung sein, die dem Unsichtbaren zugehört. Die Hoffnung, sag ich, wird sich der Traurigkeit entgegenstellen und sie besiegen.“
Melancholie gegen Hoffnung?
Augustinus hatte diese Qualen des Zweifelns und Verzweifelns durchlebt in den „Soliloquien“ festgehalten. Petrarca hat sie dann in Rückbesinnung auf das Vorbild Augustinus in seinem „Secretum“, in der Schrift von der Weltverachtung, wieder aufleben lassen. An diese Tradition der Auseinandersetzung mit der Melancholie und ihrer Begleitphänomene knüpft nun Savonarola wieder an und versucht sich über die Traurigkeit und Verlassenheit hinweg zu setzen, indem er auf göttliche Rettung hofft.
Der überhand nehmenden, alles zerstörenden Melancholie setzt er den Glauben an einen christlichen „deus ex machina“ entgegen, auf dessen endgültige Rettungstat er hofft:
Seine Hoffnung – das ist der liebende Gott der Christenheit.
Die letzten Tage des Martyriums in der Todeszelle sind ein Nacherleben des Passionsganges Christi vom Weg hinauf zum Ölberg bis hin zur Kreuzigung auf der Schädelstätte.
Selbst Jesus muss den Willen des Vaters hinnehmen und das letzte Verlassensein ertragen, dem ein Mensch ausgesetzt werden kann – die Gottverlassenheit, die einer absoluten Verlassenheit im Irdischen gleichkommt.
Jesus fügte sich und nahm das Wollen des Vaters an in einem einsichtigen wie schmerzvoll resignativen:
„Dein Wille geschehe“,
jedoch ohne zu verzweifeln. Der leidensfähige Dominikaner folgt ihm darin mit übermenschlicher Kraft und mit der fatalistischen Fügung alttestamentarischer Propheten, die himmlische Unterstützung gefunden hat. Die Aufrichtigkeit, eine Eigenschaft, die sich durch das gesamte Leben Savonarolas zieht und aus all seinem Predigten spricht, bestimmt auch die letzten Stunden seines Seins. Er scheut es nicht, von seinem maßlosen Schmerz zu sprechen, der in tiefer Traurigkeit gipfelt, in der giftigen, todbringenden Pest, die gegen Gott murrt und lästert und den Leidenden bis zur Verzweiflung treibt. Doch er widersteht ihr, wie er bisher allem widerstanden hatte, was ihn bedrohte:
die Schweigepflicht,
die Exkommunikation,
die Folter - im Zurückgriff auf den letzten Wert, auf den unerschütterlichen Glauben an Gott.
Als ihn ein verbrecherischer Papst ohne Grund exkommunizierte, wusste sich Savonarola zu wehren. Wie sein Ordensbruder Meister Eckhart in Avignon antrat, um seine Thesen zu rechtfertigen, dann aber spurlos verschwand, ohne dass seine Rechtfertigungen bekannt geworden wären, wie sein Anhänger Graf Pico della Mirandola antrat, um die Verdammung seiner 900 Thesen mit der neuen Schrift „Heptaplus“ zu rechtfertigen, um dann Jahre in Verbannung zu leben und schließlich, so vermutet man, als Anhänger Savonarolas vergiftet zu werden, so wehrte sich Savonarola heroisch selbst gegen die Exkommunikation.
Sein Landmann und Ordensbruder Giordano Bruno wird ihm im gleichen Bewusstsein hundert Jahre später auf den Scheiterhaufen der Inquisition folgen
und dabei die Worte aussprechen, die auch von Bruder Girolamo stammen könnten:
„Majori forsan cum timore sententiam in me fertis quam ego accipiam“ –
Mit größerer Furcht wohl sprecht Ihr mir das Urteil, als ich es empfange.
Das geht noch über die Bewusstseinseinhaltung der frühchristlichen Märtyrer hinaus, die in den Löwengruben Roms für ihren Glauben ihr Leben lassen mussten.
In seinen Predigten zum Exodus, die der Vatikan auf den Index gesetzt hat, schmettert Savonarola dem Kirchenfürsten genau das entgegen, was dieser am wenigsten geneigt ist zu hören und zu begreifen.
Seine Apologie ist die eines reinen Bewusstseins mit der zentralen Aussage:
auch ein Papst kann irren!
Denn irren ist menschlich – und auch ein Papst ist ein Mensch.
Darüber hinaus entstehen Irrtümer auf falschen Denkvoraussetzungen oder falschen und gefälschten Informationen. Dass Päpste irren, beweist nicht zuletzt die Geschichte, die festhält, dass ein Papst die Erlasse seiner Vorgänger abgeändert und aufgelöst hat.
Savonarola bleibt bis zu seiner letzten Stunde ein heroischer Mensch, ein Märtyrer des Glaubens, an dem er ungeachtet all der Folterqualen in einer bewundernswerten Willensleistung festhält. Diese Haltung, sein konsequentes Leben und Wirken sowie sein über seine Zeit hinaus strahlendes Werk machen aus Savonarola eines jener großen Individuen, die der Geist der Renaissance hervorgebracht hat – Individuen, die weite Strecken ihres schaffensreichen Lebens Einsame waren.
Hundert Jahre nach dem kühl inszenierten Justizmord an dem Dominikanermönch Savonarola, der als großer Visionär seiner Zeit weit voraus war, folgte ein weiterer Justizmord.
Die tragische Geschichte schien sich in der Tat zu wiederholen.
Wieder loderte ein Scheiterhaufen auf italienischen Boden. Doch diesmal nicht auf der Piazza del Popolo in Florenz, sondern auf dem Campo dei Fiori, im Herzen der Ewigen Stadt Rom. Und wieder griffen die Flammen der Inquisition nach einem Denker gegen seine Zeit, nach einem Visionär, der an die Göttlichkeit der Natur und an die Unendlichkeit des Weltalls glaubte, nach einem Freigeist, der sein Leben dem freien Denken, der freien Forschung und freien Lehre gewidmet hatte, nach einem Philosophen und Schriftsteller, der nur das freie Wort verkündet hatte – und dafür wie sein Ordensbruder Savonarola vertrieben, exkommuniziert und schließlich als Schismatiker und Herätiker verbrannt wurde, nachdem man schon seine Werke dem Feuer geopfert hatte. Während diese auf den Stufen des Sankt Peter verglühten, züngelten die Flammen nach seinem nackten, lebenden Körper – so endete Giordano Bruno – ein weiteres Menschheitsgenie in obskurer Zeit.
Nach einem rastlosen Leben auf einsamer Wanderschaft, das ihn, den faustischen Menschen der Spätrenaissance, nach der Flucht aus dem Kloster über Paris und Oxford nach Wittenberg führte, wo er vorübergehend eine Heimat fand, geriet er – als Lutheraner verdächtigt - in Venedig in die Fänge der Inquisition, aus denen es für ihn kein Entkommen geben sollte.
Auch Bruno, dem Bewunderer des Kopernikus und Zeitgenosse Galileis, blieb es nicht erspart, die lichte Klosterzelle in ein finsteres Kerkerloch eintauschen zu müssen.
Giordano Bruno verbrachte bis zu seiner Aburteilung und Exekution ganze acht Jahre in extremer Isolation, in der Einsamkeit eines Turms nahe der Engelsburg, dem Zufluchtsort der Päpste, nur einen Steinwurf vom Herz der Christenheit entfernt, um für Gedanken und Überzeugungen zu büßen, die er nicht widerrufen wollte. Savonarolas letzte Aufzeichnungen sind erhalten – und mit ihnen sein leidvoller Kampf gegen die Melancholie. Von den Qualen Brunos in achtjähriger Zwangseinsamkeit aber ist nichts überliefert.
Golgatha - "Es ist vollbracht".
Martyrium für eine Idee - wahrhaftiges Christentum.
(Bild: Im Kerner-Haus, Weinsberg)
Mehr über
Nikolaus Lenau
unter
Interpretationen zur Dichtung Lenaus in meinem Werk:
Carl Gibson,
Lenau. Leben - Werk - Wirkung.
Heidelberg 1989, 321 Seiten.
Dieses viel zitierte Standardwerk der Lenau-Forschung ist -
laut World Cat Identities und neben einer Studie des Freud Schülers Isidor Sadger über das Liebesleben Nikolaus Lenaus -
das weltweit am meisten verbreitete Werk
über den Spätromantiker und Klassiker der Weltliteratur Nikolaus Lenau .
Der leider viel zu früh verstorbene Germanist und Nietzsche-Forscher Prof. Dr. Theo Meyer erkannte in diesem Werk
"einen Markstein der Lenau-Forschung.
Es ist überhaupt die prägnanteste Lenau-Monographie. es dürfte zum Besten gehören, was über Lenau überhaupt geschrieben worden ist."
Das Werk, das mir, dem Autor bisher noch kein Einkommen generiert hat, wurde in acht Teilauflagen gedruckt.
Die Leinen-Ausgabe ist seit vielen Jahren vergriffen.
Ein Restbestand der kartonierten Ausgabe liegt - ungeachtet anderer Meldungen im Internetbuchhandel - noch vor und kann beim Winter Verlag, Heidelberg bezogen werden.
Trotzdem ist eine grundlegend überarbeitete Neu-Edition dieser Monographie angesagt,
da die Werke und Briefe Lenaus inzwischen in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegen.
Carl Gibson, Werke
©Carl Gibson
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