Carl Gibson im Banat, 1976
Banater Symbiose und Koexistenz:
Wie Deutsche mit Rumänen und Zigeunern friedlich zusammenlebten -
Aus der neuesten Geschichte der Gemeinde Sackelhausen im Banat, beschrieben von Carl Gibson
„Allein in der Revolte, 2013,
Hintergrund zur aktuellen Diskussion:
Der Pictor
und andere Kapitel aus der Geschichte der Gemeinde Sackelhausen, Sacalaz, im Banat,
beschrieben von Carl Gibson
in „Allein in der Revolte, 2013,
Da das Erscheinen des Buches (- das ist der zweite Band der „Symphonie der Freiheit“, 2008) durch den Verleger um 5 Jahre verzögert wurde und erst nach juristischer Intervention erschien, das Buch, aus dem Herta Müller abgeschrieben hat, publizierte ich weite Teile des Werkes online, auf meinem US-Blog.
Die Bücher zur Geschichte Rumäniens sind in Rumänien wenig verbreitet – und da dort kaum noch einer deutsch lesen kann, wurden sie auch nicht angemessen rezipiert.
Das Wikipedia-Porträt von „Sackelhausen“, das heute unter „Sacalaz“ existiert,
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C4%83c%C4%83laz
habe ich vor vielen Jahren hier in Deutschland angelegt!
und meine Homepage
habe ich in dieser Form viele Jahre aufrecht erhalten und bezahlt, damit die „deutsche Identität“ ein historisches Gesicht hat und jeder erfahren kann, wie die Deutschen im Banat lebten – quasi als bewussten und gezielten „Gegenentwurf“ zu den pseudo-literarischen Zerrbildern Herta Müllers, die – über kommunistischen Helfer von hier und dort – aus dem „Banat“ eine „Hölle auf Erden“ gemacht hat.
Dazu sowie zu den Plagiaten liegen weitere Bücher aus meiner Feder vor – die gesamte Materie ist noch nicht aufgearbeitet.
Charaktere tummelten sich viele vor unserer Haustür. Das enigmatischste und faszinierendste unter diesen Originalen aber war ein rumänischer Maler, der sich nur ein paar Häuser weiter als Mieter einquartiert hatte. Fast alle „Einheimischen“ wohnten in ihrem eigenen Haus. Kaum einer kannte das Wort „Miete“. Nur der Kunstmaler musste monatlich seinen Obolus entrichten, ächzend, wenn er denn überhaupt Geld hatte. Sonst musste eines seiner wenigen Gemälde herhalten … und bald seine ganze Sammlung. Keiner wusste, wo er herkam. Aus dem Norden stammte er angeblich her, aus der fernen Moldau, genauer aus der Gegend von Voroneti mit dem berühmten Kloster und dem einzigartigen Blau der Kirchenmauern, das ich später noch bestaunen sollte. Was ihn in das tausend Kilometer südwestlich gelegene Banat verschlagen hatte, gerade nach Sackelhausen, war unbekannt. Ein kleines, dürres Männlein war dieser Künstler mit schmalem Gesicht und ungepflegter Künstlermähne, eine unscheinbare Gestalt, den kaum jemand beachtete, wenn er ihn nicht kannte. Doch die wenigen, die ihn wirklich persönlich kennengelernt hatten, schätzten ihn auch, nicht nur, weil er ein Original war, sondern auch um seiner Kunst willen und der seltenen, leisen Lebensphilosophie dahinter. Kaum einer von uns Kindern hatte je seinen richtigen Namen gehört – weit und breit war er nur der Pictor. Er gehörte zum Straßenbild, noch mehr zu meiner Ecke. Wenn er nicht hinter der Staffelei stand und arbeitete, oft diszipliniert wie ein Industriearbeiter in der Fabrik oder auf der Baustelle, saß er krumm eingeknickt im Laden auf dem Pult in einer Ecke nah am Fenster. Von dort aus beobachtete er die Außenwelt und sah den Kunden zu, die kamen und gingen. Wenn Geld da war, spendierte er uns Kindern gelegentlich etwas – oder er ließ sich die auf einer Schnur aufgereihten Lose reichen und versuchte sein Glück: „Necistigator“ stand oft darin zu lesen, „Leider nicht“! Wenn ihm andere keine Enttäuschung bereiteten, dann sorgte er schon selbst für Rückschläge und Desillusion.
Dass unser Pictor, der bürgerlich Ilie Vasu hieß, ein Stigmatisierter war und wie ein Gebrandmarkter lebte, fiel nur wenigen auf, eigentlich nur denjenigen, die ihn über Jahre aus nächster Nähe erlebten, im Atelier und im späten Siechtum bis zum elenden Ende. Das Kainsmal, das ihn zum Gezeichneten machte, zum Verstoßenen aus der Dorfgesellschaft wäre zu erahnen gewesen, wenn man ihn genauer beobachtet hätte, doch schwer zu erkennen. Denn die Brandnarbe an der linken Schläfe wusste er geschickt zu verdecken, indem er stets eine große, dunkelblaue Baskenmütze tief über die linke Gesichtshälfte zog. Das musste so sein, dachten die meisten. Eine Schrulle, eine Marotte? Sein Äußeres war unverwechselbar einmalig. Es machte ihn zum besonderen Original unter anderen und rückte ihn unmerklich in die Nähe der Künstler am Montmartre, die er vielleicht verehrte. Das Mal, das er selbst im Schlaf zu kaschieren pflegte, war sein Geheimnis – und noch geheimnisvoller waren die Umstände, die ihm das Zeichen beschert hatten. Selbst ich sah die Narbe nie richtig, obwohl ich ihn manchmal, aus dem Schlaf gerissen, noch nicht zurechtgemacht erlebte. Was war dahinter? An ein tragisches Geschehen soll das Zeichen erinnert haben, vielleicht auch an eine ferne Schuld, die ihm wohl peinlich war wie das Stigma im Gesicht, denn er sträubte sich, über beides zu sprechen. Zeitlos wirkte er und war ein lebendes Rätsel, das er auch blieb, bis zu seinem Tod. Jahrelang sprang ich in seinem Atelier herum und nahm auf meine Weise an seinem tristen Dasein teil und Anteil, an einem asketischen Leben, das ein neuzeitliches Flagellantentum war mit selbst gewählter Kasteiung und Sühneleistungen für undurchschaute Schuld. Wann, wo, wie war er schuldig geworden? In was hatte er sich verstrickt? Leiblich-sinnliche Genüsse bedeuteten ihm nicht viel. Und der Schöne Schein? Das interessenlose Wohlgefallen? Auch die große Liebe, so schien es, lag längst hinter ihm. Die Angebetete war tot. Tägliche Nahrung, für andere ein Wohlgefallen, eine Lust, war ihm unwichtig. Er lebte nicht von grauem Brot allein, sondern existierte, so schien es mir, genährt und bestimmt von geistigen Dingen, hinstrebend zu einem höheren Sein. Aus der Spießersicht von nebenan aber lebte er, wie die Leute zu spotten pflegten, fast ausschließlich von Fischkonserven, von den Sardinen in Öl und von den Heringen in Tomatensoße, die ich ihm oft und gerne aus dem Laden besorgte. Wie andere Hungerleider auch qualmte er billige Filterzigaretten. Gelegentlich trank er etwas Alkohol, Weinbrand zum Vergessen, als Stimulans vielleicht und Inspiration? Kaum einer kümmerte sich um ihn, kaum einer verstand sein asketisches Sein, sein Martyrium, seine Selbstaufopferung für die Kunst und für nicht ausgesprochene Ideale. War das ein Leben, fragten sich die Leute. Sein Umfeld registrierte vieles, was er tat, nur mit Verachtung. Gerade die Braven blickten überheblich auf ihn herab. Mich scherte der Spott der Leute wenig. Schließlich waren es die gleichen Biedermänner, die mich, den schlimmen Jungen, zur Raison riefen. Im Atelier, das ein Freiraum war, und in seiner ungezwungenen Umgebung fühlten wir Kinder uns wohl, ja heimisch, noch deutlicher als zu Hause. Im Haus des Pictors waren wir frei – wie nur noch bei Hans, zwei Häuser weiter nebenan. Als der Pictor Jahre später umziehen musste, wurde er gerade dort aufgenommen – die Sphären der Freiheit fielen zusammen. Ungewöhnlich war das und eine große Ausnahme im Ort, die manchen Moralisten die Nase rümpfen ließ. Weshalb nahm unser angesehener Dorfbäcker Janny einen Gestrauchelten auf, einen namenlosen Gestrandeten, einen zum Tode Kranken? Aus einem Sinn für Anstand und Würde? Aus Nächstenliebe vielleicht? Darauf kamen die Kirchgänger nicht. Sie lästerten nur weiter und verhöhnten den Gefallenen, bis er dahinsank. Dass der Pictor ein Schaffender war, zugleich ein Gastfreund antiker Prägung mit offenem Haus und einem offenen Herz für uns Kinder, das sahen die Biedermänner nicht.
https://carlgibsongermany.wordpress.com/2011/01/20/freigeistiger-maler-in-kunstfeindlichem-umfeld/
Oft, wenn ich im Atelier weilte, sah ich ihm beim Malen zu, neugierig und interessiert zugleich, denn auch ich wollte einmal ein Bild malen, ein Gemälde, gewaltig und faszinierend wie der Erzengel am Kirchenaltar. So erlebte ich den Schaffenden am Werk – und sah, wie mit ein paar Strichen auf weißer Leinwand ein Kunstwerk konzipiert wird, wie ein Werk entsteht, Strich für Strich, wie aus Konturen Formen entstanden. Aufmerksam verfolgte ich, wie Ölfarben auf die Palette gepresst wurden, wie er die Farben mischte. Begeistert durfte ich zusehen, wie aus drei Grundfarben nach den Gesetzen einer enigmatischen Farbenlehre viele neue Farben entstanden, die Farbenpalette des Regenborgens. Dann beobachtete ich, wie der Maler den Holzrahmen bespannte, mit fester Leinwand, wie er den Hintergrund weißte, wie er dann eine Madonna aus dem Nichts hervorzauberte, mit ein paar Strichen, und wie er die leuchtenden Farben auftrug, Schicht für Schicht, bis ein herrliches Frauenbildnis erstrahlte, nein, keine Heilige, kein Engel: Eine sinnliche Madonna kam da zum Vorschein, lächelnd wie Mona Lisa, nur natürlicher mit prallen Brüsten, mit rosafarbenen Wangen und liebreizendem Gesicht.
Ilie, der Pictor, malte hauptsächlich dann, wenn er in Stimmung war, wenn er wirkliche Schaffenslust verspürte. War die Gestimmtheit gegeben, dann gelang das Werk, dann wurde Kunst daraus. Dekorative, sinnliche Frauengestalten, teils im zarten Negligé festgehalten, venusartige Göttinnen für diskrete Auftraggeber wie „Die drei Grazien“ von Raffael, die er virtuos von einer rumänischen Briefmarke herunter kopierte, waren sein Spezialgebiet, seine Klassiker überhaupt. Wurden sie, wie er es formulierte, mit Lust in harmonischer Verfassung gemalt, überzeugten sie auf Anhieb. Wenn sie aber notgedrungen aus materiellen Zwängen entstanden, nur weil sich der verachtete Korpus meldete oder der Magen knurrte, wirkten sie bescheidener. Malen war leider oft nur ein Mittel zum schnellen Gelderwerb, viel zu selten Selbstzweck. Not, das fiel selbst Kinderaugen auf, schafft nicht immer große Kunst – und manchmal verhindert sie sie auch gänzlich. Düster melancholisch, übel gelaunt und mürrisch konnte er sein, wenn er abliefern sollte, was noch nicht geschaffen war. Dann blieb es beim Kunsthandwerk. In solchen Fällen signierte er seine Arbeiten nicht und lieferte uns wie seinen Interpreten den Hinweis darauf, vom Wert dieses Gemäldes selbst nicht überzeugt zu sein. Die innere Wahrhaftigkeit war ihm wichtig. War die Identifikation mit seiner Kreation nicht gegeben, so lehnte er das Bild ab – und das, obwohl auch er überleben musste. Genauso wie dem Dichter manchmal ein großes Gedicht gelang, öfters aber nur ein galanter Reim, so war es auch in der Malerei und in der Komposition. Höhen und Tiefen wechselten sich ab – der Mensch war nun einmal keine konstante Größe, noch weniger der sensible Künstler, der Stimmungen und Gestimmtheiten viel intensiver spürte als der Durchschnittsmensch auf der Straße in den profanen Dingen. Das Fehlen der Signatur fiel uns irgendwann auf und beschäftigte uns rege. Stand der Pictor nicht zu seinem Oeuvre? War er gar kein richtiger Kunstmaler, sondern nur ein Kirchenmaler, ein Epigone, ein Anstreicher gar oder ein Scharlatan wie manche meinten? Das Nachdenken über seine Kunst warf Fragen auf, Fragen, die oft unbeantwortet blieben. Keinen Sinn hatten wir Kinder damals für existenzielle Aspekte, für die Notwendigkeit, Gemälde und Porträts verkaufen zu müssen, um von Kunst leben zu können. Wir sahen auch nicht, dass er gegen den eigenen Willen und künstlerische Überzeugung ein Auftragsmaler sein musste, der weitgehend den schlechten Geschmack seiner Kunden zu befriedigen hatte. Von Geldnot getrieben und vom schlechten Geschmack seiner Auftraggeber auf kitschige Motive festgelegt, verzichtete er weitgehend auf eigene Wege, Neuansätze oder Interpretationen und beschränkte sich hauptsächlich auf die Darstellung des Gegenständlichen.
Stillleben malte er gern, einen Teller mit reifen Früchten aus dem Garten, mit Äpfeln und Birnen, einen Strauß Kornblumen oder den roten Klatschmohn aus unseren Fluren – farbig strahlend, klassisch konventionell, einmal mehr, einmal weniger vollendet. Einzelobjekte und Motive wurden kopiert, ohne immer anspruchsvoll umgesetzt zu werden. Später, in den Jahren seines Dahinsiechens, schrumpfte sein Repertoire zusehend. Dem guten Geschmack angepasst, reduzierte es sich auf stereotype Landschaften in Öl mit dunklen Tannen, blauen Bächen, Schneegebirge und dem ewig röhrenden Hirsch. Ferner kamen Auftragsporträts und Frauenbildnisse hinzu. Die rotbackig kitschigen, schmucküberhäuften Zigeunermadonnen von strotzender Vitalität mit breit ausgeschnittenem Dekolleté in prall leuchtenden Farben wurden weiter anfertigt, fast von der Stange, weil sie gut zu verkaufen waren. Schließlich brachten die weltlichen Madonnen etwas Farbe in das Alltagsgrau und einen Hauch Lebensfreude. Nur das Glück blieb aus im Atelier des Pictors.
Gelegentlich, wenn der Geldbeutel arg zusammengeschrumpft war, betätigte er sich auch als Kirchenmaler und Restaurator in dem orthodoxen Kirchlein der rumänischen Glaubensgemeinde wie auch in unserer mächtigen katholischen, Sankt Michael geweihten Kirche. Wenn die Ölgemälde, die den Passionsgang Christi darstellten, in unserem Gotteshaus zu sehr nachdunkelten und die Einzelheiten der Leidenstafeln kaum noch zu erkennen waren, half er mit etwas Firnis nach und ließ die Farben wieder hell leuchten. Das Leiden Christi auf Golgotha wurde wieder sichtbar; aber auch die Grazie der Engelsgestalten, die – von höherer Leidenschaft erfüllt – über den irdischen Dingen schwebten. Worin er wohl aufging? In der Schönheit angeschaut mit Augen? Oder im Leiden, das ein Teil seines Wesens war? Seine Motive entnahm der Asket nicht etwa der freien Natur, den öden Schilfgestaden am Ortsrand, die ein Lenau besungen hatte oder der üppigen Vogelwelt im nahen Hain, die uns vor der Nase herumschwirrten als Hinweis auf die Großzügigkeit der Schöpfung, sondern fast ausschließlich von Ansichtskarten, die er in einem Schuhkarton verwahrte. Beim Durchsehen dieser Vorlagen stieß ich zu meiner damals großen Verblüffung erstmals auf frivol erotische Darstellungen in künstlerischer Verfremdung, auf derbe Motive, die sich mir erst später erschlossen. An tiefer gehende Einzelgespräche mit dem Pictor kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Doch weiß ich noch, dass er, das Opfer der Moralisten drum herum, kein Moralapostel gewesen ist, der uns mit Lebensweisheiten abgespeist hätte. Belehrend war seine Art nicht. Er war ja auch kein Schulmeister, sondern ein armer Künstler und Schlucker im selbst gewählten Leiden. Wenn er trotzdem damals schon auf mich wirkte und das weitgehend indirekt intuitiv, doch nachhaltig, dann deshalb, weil er ein Freigeist war, ein Individuum zwischen den Nationen, einer, der sein Leben lebte, seinen Existenzentwurf, auch als Stigmatisierter, als Gestrauchelter und Gescheiterter. Nichts von alledem erfasste ich damals im Alter von fünf bis elf Jahren bewusst. Auch der Pictor war Milieu – er war ebenso ein Teil des prägenden Milieus meiner Kindheit wie die Zigeunerkinder vor unserer Haustür in ihrem spezifischen Sein. Wir nahmen an, dieses auch negativ ausstrahlende Umfeld würde uns nicht tangieren, gar beeinflussen und determinieren. Diese Annahme war falsch – sie alle beeinflussten uns doch, unterschwellig und intuitiv, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollten. Ohne dass es mir groß aufgefallen wäre, spürte ich seinerzeit die Faszination der Künstlerexistenz, die von dem Original, dem Picteur ausging. Er lebte wie ein Künstler, sorgenfrei, glaubte man, in Wirklichkeit aber ernst und trist. „Ars longa vita brevis“, stöhnte er manchmal, wenn nicht alle Blütenträume reiften, Worte die auch Kunstkenner Goethe nicht verschmäht hatte. Der bei uns in dieser Form selten anzutreffende Habitus, dieses trotzige, frei gewählte „Anderssein“, musste imponieren und prägen, weitaus mehr als seine Malerei.
Als Mensch lebte der Maler ziemlich zurückgezogen. Die Einsamkeit schien sein Element zu sein – und das Schaffen aus der Einsamkeit heraus, wie es Caspar David Friedrich oder der noch einsamere Vincent van Gogh praktizierten. Er verehrte Michelangelo und Leonardo – und lebte auch wie Michelangelo in Armut und Verzicht. Einige seiner Andeutungen, die selbst uns Kinder gedanklich beschäftigten, vermittelten den Eindruck, die exzessiv gelebte Askese sei eine Art Selbstkasteiung, ein verspätetes Flagellantentum und eine Form von Bestrafung oder gar eine Sühnehandlung für eine Schuld, die in der Vergangenheit dieses enigmatischen Menschen zu vermuten war. „Vielleicht bestrafe ich mich selbst“ rechtfertigte er sich eines Tages so nebenbei, als ihn ein kluger Zeitgenosse mit wohl gemeintem Rat auf einen neuen Pfad bringen und ihn zu einem besseren Leben bekehren wollte. Diese Haltung beeindruckte uns Kinder, weil das Phänomen der Selbstbestrafung neu für uns war. Von Sadisten hatten wir schon gehört, doch kaum etwas von Masochisten, von Leuten, die sich aus unergründbarem Anlass selbst quälen oder von Märtyrern der Kunst, die das eigene Glück für die Kunst hingeben. Sich selbst ans Kreuz zu schlagen, sich selbst zu opfern wie Lenau und andere Adepten des „L’ art pour l’art“ – Prinzips, das hatte uns noch keiner beigebracht.
Einsamkeit und Armut im Leben des Pictors waren selbst gewählt – und dies in einer Welt, die allgemein diesen Zuständen zu entfliehen trachtete. Der Pictor war andererseits auch ein geselliger Philanthrop, erfüllt von Freude an unserer frühkindlich naiven, moralisch noch weitgehend unverfälschten Sicht der Dinge. Narren, Berauschte und Kinder standen der Wahrheit bekanntlich näher als Dichter und Philosophen. Und weil wir Kinder waren, verehrte er uns Kinder. Da er außerdem ein großzügiger Mensch war, einer ganz nach meinem späteren Geschmack, der von anzuhortender Materie nicht viel hielt, ließ er die Moneten kreisen und belohnte unsere kleinen Botendienste königlich. Das oft bitter verdiente Geld zerrann in seinen Fingern wie Sand. Wir aber freuten uns über den unerhofften Segen, da wir von Haus aus nicht unbedingt reichlich mit Taschengeld versorgt wurden. Wir Kinder fanden Gefallen an dem Kauz, vielleicht weil er in seiner Seele noch ein Kind war, ein Träumer, ein Fantast, der die schnöde Erwachsenenwelt ablehnte: Nur das „Dolce far niente“ oder ein „Laissez- faire“ – das waren keinesfalls die Tugenden des Dorfes. Nichtstun, das Leben verrauchen und vergeigen – die Welt verachten, indem man darüber stand und die Spießer nicht ernst nahm? War das nicht die Brücke, zu den noch fauleren und noch mehr verachteten Zigeunern am Dorfrand? Der Pictor exerzierte uns dieses Anderssein vor, ohne eine Moral daraus zu schmieden. Er lebte einfach sein Leben. Und dieses Freisein ging ihm über alles. Für die recht konventionelle, an sich kunstfeindliche und weitgehend von kleinbürgerlichen Werten bestimmte Außenwelt war die Erscheinung des verschlossenen Malers oft nicht mehr als ein exotischer Zufall, eine Laune der Natur, die nicht besonders beachtet werden musste. Er war ein Kontrastbild, von dem man sich milde lächelnd, überlegen absetzte. Eine Provokation oder gar ein Stimulans, über die eigenen, selbst gelebten Werte nachzudenken, war er aus der Sicht der Ignoranten nie.
Kaum jemand wusste etwas anzufangen mit dieser Individualität. Nur Dorfbäcker Janny, der Vater meines langjährigen Spielkameraden Hans, mein früher Mentor und indirekter Erzieher, konnte als Freund des Malers gelten. Als Einziger nahm er sich später des Malers noch an, als dieser unrettbar einem Siechtum verfiel, als Krankheit, Elend wie schwere Not sein traurig gewordenes Leben zu beenden drohten. Nachdem der Pictor seine Mietwohnung hatte verlassen müssen, war es eben Janny, der ihn von der Straße auflas, um ihn über Jahre im eigenen Haus zu beherbergen, mit zu betreuen und mit zu versorgen, ohne Begründung, ohne Rechtfertigung nach innen oder außen – nur aus Nächstenliebe, aus Pietät, aus Mitleid und Mitleiden, kurz aus Menschlichkeit. Janny war kein Kirchgänger, aber ein Christ. Aus eigener Erfahrung wissend, was Entbehrung bedeutet, sicherte er dem über Jahre Dahinsterbenden die notwendigsten Dinge zum Überleben; selbst in der letzten Lebensphase noch, als der unaufhaltsame, physische Niedergang einsetzte und der Pictor zum Schatten verkommen vor unseren kindlichen Augen wegzusterben begann.
Janny war ein Handelnder, ein Mann der Tat, nicht der Worte. In unserer egomanischen, stets auf den eigenen Vorteil bedachten Gesellschaft war er zudem eine erstaunlich humane Ausnahmeerscheinung, ein seltenes Beispiel an Altruismus in dem oft spröden, allzu nüchternen und unmusischen Umfeld. Als Kind der bitteren Nachkriegszeit, in der er selbst viel Elend erlebt hatte, wusste er das Menschliche richtig zu werten und sozial umzusetzen. Janny, dem ich selbst viel an erzieherischen Impulsen verdanke und dessen gelebtes Vorbild für mich sehr wichtig sein sollte, war übrigens einer der seltenen Geister weit und breit, der neben der unverwechselbaren Individualität des Menschen auch dessen Kunstfertigkeit und Werke würdigen konnte. Gleiches gesellt sich zu Gleichem, sagt man. Der Pictor, so arm er auch war und so bescheiden er auch lebte, faszinierte auf seine Weise. Gleichgesinnte zog er an – sie kamen oft und gern, über Jahre. Einsamkeit und Geselligkeit wechselten. Rumänischen Intellektuellen aus der Region bot sein Atelier einen geistigen Mittelpunkt, einen Freiraum. Die Werkstatt wurde zur Begegnungsstätte, zum Ort der Zusammenkunft und des Gesprächs. In der Konversation erholte er sich von der stillen Einkehr in der Spelunca und fand zu neuen Ideen. Der geistige Disput – ein Born der Inspiration. Die unterschiedlichsten Charaktere fanden sich ein. Erfolgreiche wie Versager. Gelegentlich spielten sie Schach. Sonst redeten sie viel über Kunst, Literatur und Zeitgeschehen, wobei der kleine Junge von nebenan, mittendrin war, unauffällig wie das zottelige Hündchen Rex, ohne viel von dem zu verstehen, was da so leidenschaftlich impulsiv wie intensiv diskutiert wurde. Da ich erst einfache Sprachstrukturen der rumänischen Landessprache beherrschte und noch weit davon entfernt war, den Sinn sachspezifischer Terminologien zu erfassen, war es mir unmöglich komplexeren Themen zu folgen. Auch hörte ich viele Namen, die mir nichts sagten. Trotzdem registrierte ich die Wucht der Gespräche, das Feuer der Dialoge, das romanische Pathos, die aufrichtige Teilnahme, die Entrüstung, die exzessive Mimik und die Gestik der Redenden, die wirkten wie Schauspieler auf der Bühne. Was war echt? Was war falsch? War der Schauspieler, der in jede Rolle schlüpfen konnte, nicht zugleich der geborene Lügner? Das ernste Stirnrunzeln, noch mehr die lebendige Rhetorik ließen mich erahnen, wie wichtig das Erörterte wohl sein müsse.
Ein ewiger Student fand sich häufig ein, ein ernstes Langgesicht mit breitem, schwarzem Schnurrbart, ein angehender Jurist, der einmal Staatsanwalt werden wollte … oder auch Anwalt in einem Staat, wo es mehr anzuklagen gab, als zu verteidigen. Er schien sich einzuüben in der Kunst der Plädoyers. Ein Lehrer stieß zum offenen Kreis … Und manchmal kam auch ein gefallener Engel zu Besuch. Der Exot namens William war ein verarmter Unternehmersohn, ein Überlebenskünstler, der sich, seitdem das Vermögen dahin war, mit Fahrradreparaturen über Wasser zu halten wusste. Das Violinspiel beherrschte er auch, ja er konnte sogar virtuos aufspielen, wenn man ihm eine Fiedel reichte und einen Schnaps dazu. Dann rief er die entschwundenen Tage zurück und ihr zerstobenes Glück in Tönen – mit ihr die Nostalgie und trieftraurige Melancholie einer „Welt von gestern“.
Geister fanden sich – trotz aller Armut und Entsagung. Und uns Kindern blieb der Eindruck des mittelbar Erlebten: der intellektuelle Gesprächskreis, eine Form der zwischenmenschlichen Zusammenkunft, die sich wohltuend von den immergleichen Kartenspielrunden der Männer im Dorf unterschied; ebenso die Vorstellung von einem frei gewählten Anderssein, das sich ganz wesentlich von unserer bieder geordneten Wertewelt abhob. Der Pictor – das war ein alternativer Existenzentwurf, ein individuelles Modell, das mir schon deshalb behagte, weil ich selbst gegen gängelnde Regeln war. Für die Braven, Guten und Gerechten im Dorf aber war dieser Andere, Andersdenkende und Andershandelnde nicht mehr als ein andauerndes Ärgernis, ein Dorn im Auge, ein schmerzhafter Pfahl im Fleisch, der immer wieder aufrüttelte, die eigenen Werte infrage stellen zu müssen.
Der Kunstmaler Ilie Vasu eckte an, weil er so ganz und gar nicht dem Standard seines Umfelds entsprach und der Auffassung seiner Mitmenschen, wie man zu leben hat. Doch anstatt nach einem tieferen Verstehen des Anderen in seinem Anderssein zu suchen, begnügten sich die meisten Leute damit, hochmütig auf den halb Ausgestoßenen herabzusehen, ihn überheblich zu belächeln und sein gesamtes Sein ins Groteske zu ziehen. Den ausgekosteten Spott einzelner Spießgesellen verfolgte ich seinerzeit mit staunender Abneigung, nicht weil ich damals tiefer über Ausgrenzung nachgedacht hätte, sondern weil ich intuitiv mit dem scheinbar Schwächeren mitfühlte. Der gegen alles Geistige gerichtete Hohn der Borniertheit behagte mir auch deshalb nicht, weil stets eine tiefere Ungerechtigkeit in ihm mit schwingt. Kinder ahnen viel von dem, was sie noch nicht wissen können. Gerade jene Spießbürger, die am wenigsten von der Welt wussten und denen Kunst und Kultur kaum etwas bedeuteten, hatten mit Außenseitern ihre größten Schwierigkeiten.
Das Abweichen von der Norm, das „Verschieden-Sein-Wollen“, störte die Biederen mit ihren Gartenzwergen im Hof mehr, als sie es sich eingestehen wollten – denn die offensichtliche Gegenwelt in täglicher Konfrontation zerstörte die gottgewollte Harmonie einer scheinbar noch intakten Gesellschaft und gefährdete die Zufriedenheit des vollen Magens und des gesunden Schlafs. Nur wenige nahmen die Erscheinung dieses Nonkonformisten hin und akzeptierten den Lebensmodus des Außenseiters, dessen künstlerische Begabung und handwerkliches Können sonst gerne in Anspruch genommen wurden. Außenseiter wie der Pictor wurden fast generell als Provokation wahrgenommen, auch in der realsozialistischen Gesellschaft, als eine Art Affront, der die staatlich vorgegebene Norm infrage stellte. Gleichzeitig repräsentierten freie Individuen alternative Lebensformen, die, ähnlich der Wertegemeinschaft der Zigeuner, der etablierten Gesellschaftsstruktur krass entgegengesetzt waren. In den letzten Jahren vor dem bitteren Ende schrumpfte das sonst schon zierlich schüchterne Männlein zu einer Karikatur zusammen. Oft saß er dann in sich gekehrt kontemplativ, manchmal auch melancholisch sinnend, apathisch auf der Bettkante. Schwach hüstelte er vor sich hin. Zu sagen hatte er nichts mehr.
Der Zufall wollte es, dass ich seinen letzten Gang, genauer seine letzte Fahrt, miterleben sollte. Einsam und alleine verlief sie – fast so, wie er gelebt hatte. Nur er merkte nichts mehr davon. Der leibliche Rest des Malers, eine dürre, fast mumifizierte Leiche, lag im schwarzen Sarg des Totenwagens. Zwei schwarze Hengste mit schwarzem Federbusch geschmückt trabten durch die Kleine Kreuzgasse an unserem Haus vorbei. Verblüfft stand ich am Türchen des Bretterzauns, ohne zu ahnen, was da ablief. Es war düster, wie auf Golgotha – es regnete. Schauriger Nieselregen und noch schaurigere Fracht. Ein Graus. Nach einigen Augenblicken war der Totenwagen entschwunden – und mit ihm der Pictor, ein väterlicher Freund auf seine Weise, ein Original.
Gerade wollte ich kehrt machen und wieder ins Haus gehen, da sah ich eine Gestalt hinter dem Totenwagen herjagen durch Wind und Wetter – es war Janny, der Freund, auf dem Fahrrad durch den Regen strampelnd, entschlossen wie damals nach dem Stromschlag. Das Bild trieb die Scham in mir hoch und erinnerte mich spontan an den Tod Mozarts, den man ebenso teilnahmslos in einem Massengrab verscharrt hatte. Das Menschheitsgenie ohne Vergleich war vorausgegangen. Nun folgte ein unbekannter Künstler, nicht weniger tragisch. Keiner von den hundert Frommen der Gemeinde, die sonst dem Sarg folgten, begleitete den Aussätzigen auf seinem letzten Gang – bis auf Janny. Und auf seinem Grabeshang sollte auch keiner weinen als der Regen – melancholisch wie in Lenaus Gedicht. So war das Leben.
Wer unter mehreren Völkern aufwächst, wird zwangsweise mit dem permanenten Vergleich konfrontiert. Zufallsbedingt hatte ich jene strategische Ausguckposition inne, unmittelbar an der Quelle des zwischenmenschlichen Geschehens, ganz so, wie ich oft an unserem einzigen artesischen Brunnen saß, an der Ecke in der Schwarzwälder Gasse, den Blick auf das Kruzifix gegenüber gerichtet, auf das langsame Volllaufen der Wassereimer und Gießkannen wartend. Manchmal dachte ich über den Lauf des Wassers nach und darüber, dass alles im Fluss ist und ewig im Fluss bleiben wird, das Werden und Vergehen. Gelegentlich sah ich dem Treiben der Menschen auf der Straße zu und sann über das nach, was sie so zufällig sagten. Zeit war damals unwichtig. Das lange Leben lag noch vor mir, dunkel und offen. Trotzdem war ich froh, wenn keiner vor mir am Brunnen war, gar einer der gleich mehrere Gießkannen und Eimer zu füllen gedachte. Die sich weitgehend selbst überlassene Süßwasserquelle floss, da sie kaum noch gewartet wurde, von wuchernden Grünalgen gehemmt, immer langsamer, so als wollte sie mit ihrem schon absehbaren Versiegen andere Endzeitphänomene andeuten: den Untergang des Deutschtums in Rumänien, im Banat und im Siebenbürgen, wo seit achthundert Jahren deutsch gesprochen und gelebt wurde? Der Exodus vollzog sich bereits, tröpfchenweise. Nahe Verwandte, Schulkameraden, Nachbarn waren längst auf und davon. Hans zuerst, dann Erna, dann Annemarie … und andere, das fühlte jedermann unbestimmt, würden folgen.
Endzeitstimmung. Am Brunnen vor dem Tore … Schuberts Lieder vermehrte die Wehmut noch … Untergang wie in Thomas Manns Zauberberg … am Schluss. Lindenbäume gab es bei uns keine, dafür aber Akazien in großer Zahl mit spitzen Dornen, die an das karge Afrika erinnerten, aber auch mit lieblich duftenden, schneeweißen Blütentrauben, die wir Kinder herunter zupften und verschlangen wie Salat, ohne Rücksicht zu nehmen auf die kleinen, schwarzen Insekten im Nektar des Blütenbodens.
Der viel genutzte, heute leider schon versiegte „Alleinläufer“ war – ohne dass es einem aufgefallen wäre – ein „Ort der Begegnung“ gleich allen Marktbrunnen der Welt. Am Brunnen, am Born des Lebens, kamen die Menschen des Ortes zusammen, um sich das Lebenselixier zu holen, das Element, ohne das kein Leben möglich ist. Aber sie kamen auch nur, um miteinander zu reden. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Tier, ein „Zoon politikon“, nicht erst seit Aristoteles. Er will nicht allein sein, weil das Alleinsein nicht gut für ihn ist. Also zieht es ihn hinein in die Gesellschaft, an den Brunnen. Wer dann und wann doch einmal lange allein dasaß, am Alleinläufer, was kaum passierte, weil immer jemand vorbei kam, der mit einem sprach, der konnte auch träumen … manchen süßen Traum. Eine Gemeinschaft fand dort zusammen, im Mitsein, im Gespräch. Man musste nur hinzutreten – und schon war man mittendrin als Teil des Ganzen. Ausgegrenzt wurde niemand. Schließlich waren alle gleich, seitdem der Kommunismus eingekehrt und alles nivelliert hatte und die früher reichen Bauern ihre Felder und Ländereien hatten abgeben müssen – an den Staat, an die Volksgemeinschaft, wie es offiziell hieß, damals im Stalinismus, als die Bodenreform beschlossen und umgesetzt wurde, zum Nachteil der begüterten Deutschen im Banat, während die rumänischen Bauern ihre Güter teils behalten duften. Von der Ungleichheit, die die in Amerika verdienten Gelder noch vor dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten, war auch nichts mehr zu sehen. Die Viehställe waren ebenso leer wie die kaum erst erbauten Gewölbeweinkeller, die landwirtschaftlichen Maschinen waren beschlagnahmt – und nur noch die größeren Steinhäuser, Familiengruft und marmorne Grabsteine erinnerten an frühere Tage, an „bessere“, höhere Menschen. Der Geldsegen aus Amerika hatte die Menschen zeitweise sogar verdorben, sie hochnäsig gemacht. Es sei jetzt nicht mehr schön im Dorf, hatten einige gemeint, weil der Unterschied so groß geworden war zwischen Habenichtsen und Krösussen. Inzwischen hatten Krieg und Kommunismus die alte Ordnung wieder hergestellt. Alle besaßen alles – und alle hatten nichts. Alle waren wieder gleich nackt wie nach der Erschaffung des Menschen im Paradies … bis auf einige, die mit dem „roten Büchlein“, die doch etwas gleicher waren, als die Gleichen der egalitären Kommune. Fast alle im Dorf waren verarmt und mehr oder weniger bewusst in Ketten wie die Galeerensklaven auf Raabes „Schwarzer Galeere“. Und alle ruderten unmerklich im gleichen lecken Boot den tosenden Strudel hinab mit der Zeit und ihrem Ungeist. Der „Untergang des Abendlandes“ hatte längst eingesetzt, schon seit 1944, als die Wehrmacht von Temeschburg nahend sich über Sackelhausen zurückzog, Tausende von uns mitnehmend, „heim ins Reich“. Ja, der Untergang vollzog sich vom Osten her, mit dem Lauf der Sonne. Wir waren mittendrin im Exodus – nur hatten es einige von uns noch nicht bemerkt.
Nur zweihundert Meter straßenaufwärts, vor der Ladentür, das gleiche Bild wie am Brunnen. Doch nicht Geselligkeit und Durst, der Mangel ließ die Menschen zusammenströmen: „Habt ihr es schon gehört? Es gibt Hefe“. Bierhefe zum Brotbacken. Ohne diese „Hefe“ ging nichts, es sei denn, man hatte genügend Sauerteig angesetzt, der den Brotteig auch aufgehen ließ, selbst ohne Hefe. Die große Warteschlange bildete sich immer dann, wenn seltene Güter eingetroffen waren. Dann eilten alle herbei, Jung und Alt, in die Schlange, die eigentlich ein undisziplinierter Haufen war, um wenigstens etwas von den ewig knappen Produkten zu ergattern. Schlichte Bierhefe war eine solche Begehrlichkeit!
Realsozialistischer Mangel passte irgendwie zur Unzulänglichkeit der Menschen. Nichts war perfekt – weder die sozialistische Gesellschaft, die angeblich noch im Aufbau war, noch die mehr oder weniger fleißigen Arbeitsbienen drum herum, die die „Gesellschaft des Lichts“ errichten sollten. In der Regel waren es Erzeugnisse der Lebensmittelindustrie, die man in unserer weitgehend autarken Selbstversorgergemeinschaft nicht aus eigener Kraft produzieren konnte. Der Dorfladen im Eckhaus von Nea Marin, im Volksmund kurz „Kammer“ genannt, weil der Name der langjährigen Betreiber des Geschäftes – die stets freundlichen Leute hießen „Kammerer“ – vielen zu umständlich erschien, war ein Relikt aus der heilen „Welt von Gestern“, aus der Zeit vor dem letzten Weltkrieg, als es im Dorf noch viele Krämerläden gegeben hatte, darunter lange auch drei jüdische.
Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht im Laden gewesen wäre. Süßigkeiten lockten dort in großer Auswahl. Und nicht selten erledigte ich die Einkäufe meines Großvaters, des Pictors aus der Nachbarschaft oder die Aufträge meiner Mutter, die mich gelegentlich losschickte, um eine Fleischkonserve zu kaufen: Rindfleisch oder Schweinefleisch in eigenem Saft, das war etwas, womit man mit etwas gekochtem Reis schnell mal ein Reisfleischgericht herzaubern konnte. Not machte erfinderisch – und selbst mit etwas Mehl, Öl oder Schmalz konnte man tagelang überleben, wenn es denn sein musste und dabei sogar satt werden.
Das Produktangebot, das ich tausendmal vor Augen hatte, war recht ausgewogen und entsprach den Bedürfnissen der Menschen vor Ort, von denen die meisten noch die hohe Kunst der Selbstversorgung beherrschten. Rumänen und Zigeuner hingegen, die weniger konsequent wirtschafteten, konnten nahezu alles gebrauchen, was die Lebensmittelindustrie des Landes herstellte und was da in den großen Holzkisten, Jutesäcken und festen Regalen gelagert wurde. Wir Schwaben erwarben im Laden durchweg nur jene Güter, die wir selbst nicht herstellen konnten. Dazu gehörten Artikel des täglichen Bedarfs: Zucker, Reis, Bonbons, Schokolade, Fisch- und Fleischkonserven, Kekse, Waffeln und Kaffee-Ersatz. Bohnenkaffee war nahezu unbekannt wie vieles von dem, was man in westlichen Kolonialwarenläden verkaufte.
Großvater Ott aber, der als Soldat schon etwas von der Welt gesehen und in Wien bereits einen Braunen getrunken hatte oder einen Pharisäer mit Schuss, schätzte Bohnenkaffee über alles. Doch was macht ein Connaisseur und Bon vivant, wenn weit und breit keine Bohne aufzutreiben ist und der Lösekaffee aus Deutschland längst aufgebraucht war? Er gibt sich mit billigem Ersatz zufrieden und träumt von echten Genüssen. Da sonst nichts zu kriegen war, trank Großvater ein selbst gemischtes Gebräu aus gerösteter Zichorie-Wurzel und Gerste, das so ähnlich schmeckte wie richtige Kaffeebohnen. Wie oft besorgte ich ihm jene Packungen Ziguri und Enrilo? Manchmal benötigten wir in unserer sonst recht schweineschmalzlastigen Küche auch Sonnenblumenöl zum Kochen und Backen, ein seltenes Gut, das in einem alten, verbeulten schwarzen Dieselfass hergekarrt und dann mit einer antiquierten Blechpumpe in einen emaillierten Eimer gepumpt wurde. Von dort aus schöpfte es der nette Herr Kammerer – und nach seinem Tod seine nicht minder freundliche Gattin – den zäh fließenden Sonnenblumenextrakt heraus, um das Öl anschließend geduldig mithilfe eines großen Blechtrichters in die oft trüb ranzigen, wenig appetitlich anmutenden Ölflaschen einzelner Käufer zu füllen. Das alles war fast schon eine rituelle Angelegenheit der besonderen Art, die gerade kleine Jungs, die zum Spielen drängten, ungeduldig herumzappeln ließ.
Zigeuner setzten beim nahezu täglichen Einkauf ganz andere Prioritäten – und ihren Bestellungen zu folgen, war ein Vergnügen eigener Art, jedenfalls für mich: „Meeensch, Kammer, gib mir einen halben Liter Zuika, von dem alten! Dann noch ein paar Rippen, von diesen geräucherten, ein knappes Kilo vielleicht … einen Batzen Schweineschmalz … und zweihundert Gramm Marmelade. Dann krieg ich noch … Kekse, für zwei Lei etwa, von den viereckigen … und von den langen, gespritzten … für einen weiteren Leu … gefüllte Karamellbonbons … für den Rest aber … Mărăseşti …ohne Filter … und … ein Zündholz!“
Ein Zündholz? Fragte ich mich stutzig, was fängt man mit einem Zündholz an, wenn gar der Wind weht? Natürlich war eine ganze Schachtel gemeint. Schließlich mussten zwanzig Zigaretten angezündet werden … und man saß ja nicht immer am Lagerfeuer mitten in der Stube. Doch wie lange reicht eine Schachtel aus? Bis morgen? Und in der Tat. Am nächsten Tag war die gleiche Litanei wieder zu hören. Alles wurde wieder erworben, in gleichen Mengen. Basta! Fertig! Aus! Schnaps, Zigaretten – und Feuer: Damit war der Tag gerettet! Alles andere war unwichtig. So schien es. Die lange Einkaufsliste der Zigeuner änderte sich kaum. Nur die Kleinstmengen variierten, je nachdem, wie üppig der Taglohn ausgefallen war. Hatten sie Arbeit, gab es was zu essen; hatten sie keine, darbten sie oder versuchten sich irgendwo etwas zu borgen. Auch hier derselbe Ritus wie beim Ölpumpen. Den Zigeunern musste ein kleiner Schein zum Großeinkauf reichen. Der wurde dann in winzige Beträge aufgeteilt, nicht in Mengen. Dem Verkäufer, einem Kriegsversehrten, kam dann die höhere Denkaufgabe zu, die richtige Menge zu dem genannten Betrag herauszufinden. Eine Kunst für sich!
Oft stand ich staunend an dem den Raum teilenden Holzpult und fragte mich, weshalb denn alle Zigeuner gerade diese stinkenden Mărăseşti rauchten, die zweitbilligste Marke aus der untersten Schublade des Zigarettenangebots – und nicht die noch billigeren „Nationale“ oder die kaum teureren „Carpaţi“? Damals wusste ich noch nichts von jener Volksweise, in welcher der Ausspruch vorkommt: „Eine Mărăseşti im Zigeunermund“. Selbst eine Zigarettenmarke kann ein Identitätsmerkmal sein und eine Identität mit begründen wie die Zugehörigkeit des Fans zur Fußball-Klub-Gemeinschaft. Schnaps, Speck und Zigaretten – das war genug für das alltägliche Fest und für ein paar Stunden Lebensfreude. Auf die Substanz kam es an, nicht auf Akzidenzien, auf das Drumherum. Der Dorfladen hielt noch manches andere bereit, bis hin zu Losen, wo Leute wie unser „Pictor“ ihr Glück versuchen konnten. Auch der Zufall sollte seine Chance haben. Schließlich war die Welt aus einem Zufall heraus entstanden – und auch wir waren gerade da und nicht dort, weil die Macht des Zufalls, andere nannten es Schicksal, es so wollte.
Zeit war keine Kategorie. Kleine Jungs, wie ich einer war, hatten es immer eilig. All die anderen Leute aber, so schien es mir, Alte, Zigeuner, Hausfrauen, hatten unendlich viel Zeit. Trotzdem drängte sich eine immer wieder nach vorn in der Schlange, ungeniert und zu meiner Verblüffung stets mit dem gleichen dummen Spruch auf den Lippen: Macht Platz, lasst mich vor, Kinder, mein Reis brennt an! Kochte die gute Frau immer nur Reis, fragte ich mich gelegentlich. Da die Käufer sich weitgehend natürlich verhielten und frank und frei das aussprachen, was ihnen gerade einschoss, war es einfach, sie zu studieren; die heimischen Zigeuner mit ihrer Pidginsprache, den verballhornten Ausdrücken und den vielen dialektalen Eigenheiten ebenso wie die schwäbische Mundart der Donauschwaben, die in ihrem breiten, von fränkischen und pfälzischen Wortfetzen dominierten Dialekt die Inhalte dieser Nachrichtenbörse bestimmten. Ein fein kultiviertes Deutsch war unsere Mundart nicht. Jeder sprach so, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Und wie er redete, so war er meistens auch. Die Grobschlächtigkeit des Schwäbischen fiel mir bereits damals auf, und dies, obwohl es die eigene Mundart war. Manchmal erinnerte der derbe Dialekt an die karge Sprache der Cowboys aus den Groschenheften und sprachkargen Italo-Western, wo man gut mit ein paar Dutzend Worten auskam.
Waren die Erwachsenen in ihrem Element, unter ihnen nicht selten Leute, die zwei Weltkriege unmittelbar erlebt hatten, hörten wir Kinder andächtig zu und staunten, wie viel Weisheit und Lebenserfahrung aus mancher Sentenz sprach. Dabei wurde selbst uns Kleinen ein Faktum recht bald bewusst: Je geringer das Wissen des Einzelnen, desto radikaler war seine These.
Eine der Theorien, die im Zusammenhang mit dem ewig erörterten Thema „Deutschland“ und einer eventuellen Auswanderung dorthin in einem vehementen „Pro und Kontra“ erörtert wurde, wartete mit der Feststellung auf, in Deutschland gäbe es kein Brot auf dem Tisch – dort würden die Speisen ohne Brot verzehrt. Und worin bestand die Quintessenz der Botschaft? Ein Leben ohne Brot ist kein Leben – also ist es auch nichts mit Deutschland! Solches hörte ich und staunte nicht schlecht. Soviel Weisheit aus dem Mund eines alten Mannes, der ein leidenschaftlicher Brot-Esser war? Ohne Brot konnte er nicht satt werden. Die Abstrusität dieser scheinbar logisch anmutenden Syllogismen irritierte selbst das Bewusstsein eines Vorschulkindes und führte zu einer weiteren Destruktion der Erwachsenenautorität.
Vis- a- vis des Krämerladens waren ebenfalls Rumänen eingezogen, fromme Baptisten, die später, nach der Ausreise meiner Eltern in mein Geburtshaus umziehen sollten. Dort leben sie auch heute noch. Und unweit in der Nachbarschaft wohnten weitere sogenannte „Zigeuner“, deren genaue ethnische Herkunft nicht feststand, deren Namen aber russisch oder bulgarisch klangen. Zigeuner, das wurde mir langsam bewusst, waren in unseren Augen alle, die sich nicht explizit als Rumänen, Deutsche oder Ungarn ausgaben. Es waren eben die Anderen, Menschen jenseits eines imaginären Limes, Menschen, die im Alten Griechenland oder im Römischen Weltreich als Barbaren bezeichnet wurden – Barbaren im eigentlichen, im nichtpejorativen Sinn des Wortes.
https://carlgibsongermany.wordpress.com/2011/01/20/herr-%e2%80%9eso-ist-das%e2%80%9c/
Kaum ein paar Schritte von unserem Hof entfernt stand ein imposantes Eckhaus mit großem Festsaal, in welchem bei Festschmaus und Blasmusik nahezu alle Hochzeiten des Dorfes abgehalten wurden. Auch einer der letzten Dorfläden, inzwischen zugemauert, fand noch darin Platz. Rumänen hatten das Objekt erworben – ein älteres Ehepaar aus der Moldau mit ihrer bereits erwachsenen Tochter Aurica. Es waren bescheidene, freundliche Menschen. Der Hausherr, ein kleiner, unscheinbarer Mann mit kurzem Schnauzbart, hieß Marin. Er galt als geschäftstüchtig, ja bauernschlau, hatte aber ein gutmütiges, konziliantes Wesen. Im Gespräch mit anderen Ortsansässigen verhielt er sich stets verständnisvoll zustimmend. Seine jeden denkbaren Konflikt vorwegnehmende Einfühlsamkeit ging sogar soweit, nie ein Anliegen gleich abzulehnen oder gar brüsk zu verneinen. Er war der geborene Zuhörer, ein Geist, der stets bejahte – und das mit Recht! Schließlich konnte man alles so und anders sehen! Weshalb sollte man der Negativität das Wort reden, wenn man im gleichen Atemzug Positives Denken kultivieren und praktizieren konnte? Marins Lebensart war eben positiv und sie drängte ihn dazu, etwas vom guten Geist weiter zu geben. Wenn jemand irgendwie belehrend auf ihn einredete und dabei eine Weisheit nach der anderen zum Besten gab, pflegte Herr Marin nur zu staunen: „Ach, so isch des?“ Das war sein Dauerkommentar im eigenen Idiom. Wurde er aber mit diversen Überlegungen konfrontiert, dann sagte er fast nach jedem Satz mit betroffenem Ernst nur die Worte: „Ja, so ist das, ja, so ist das!“ Gewöhnlich verhielt er sich zustimmend – wie ein Psychologe, der gerade das positive Konditionieren seines Gesprächspartners zum Programm erhoben hat. Aus der zur Floskel reduzierten Aussage „So ist es“ entstand bald der entsprechende Spottname in Rumänisch, den ein Vorschulkind als solchen noch nicht durchschauen konnte. Ein Spottname? Was war das? Wie hätte ich daraufkommen sollen? Schließlich war nur zu vernehmen, wie die Leute ihn nannten. Und dieser stets verständnisvoll kopfnickende kleine Herr mit dem grauen Schnauzer im ovalen Gesicht wurde von allen nur „Aschai“ genannt, manchmal auch „Aschaeste“.
Als ich ihn eines Tages noch im Vorschulalter-Kauderwelsch naiv mit Herr Aschai anredete, genauso, wie ich es den Erwachsenengesprächen entnommen hatte, sah mich der gütige Alte etwas gekränkt an, um mir dann zu sagen: „Mein lieber Cari, nenne mich künftig bitte nicht mehr „Herr So-ist-das“! Nenne mich bitte einfach „Domnu Marin“ – oder „Nea Marin“, denn mein richtiger Namen lautet schlicht Marin! So heiße ich wirklich!“ Marin war der Vorname – und die Anrede „Herr Marin“ oder „Onkel Marin“ entsprach voll der üblichen Anrede im Banat, wo Erwachsene von Kindern und Jugendlichen noch ehrfurchtsvoll mit „Vetter Hans“ oder „Wes Gret“ angesprochen wurden.
Was konnte ich Herrn Marin entgegnen? Nichts! Konsterniert, da empfindlich getroffen, würgte ich den Kloß hinunter. Blamiert hatte ich mich und falsch benommen. Die Zurechtweisung saß, nur war ich mir keiner Schuld bewusst. Etwas Zeit musste vergehen, um zu begreifen, was die sanfte Ermahnung bezweckte. Ohne es zu wollen, hatte ich einen liebenswerten Mitmenschen verletzt; aus Unwissenheit – und nur, weil ich reinen Herzens unverblümt geredet hatte. Was wusste ein kleiner Junge von den Zweideutigkeiten der Sprache, von den Mehrdeutigkeiten der Worte in den Sprachen anderer Völker, von Hintergedanken, Boshaftigkeiten oder von der blanken Heuchelei der Menschen um mich herum. Bigotterie? Gab es das wirklich? Auch bei uns? Schließlich gingen doch alle in die Kirche, zur Heiligen Messe, zum Beichten und zum Speisen! Und die Sündhaftesten sangen am lautesten im Kirchenchor!? Der peinliche Vorfall, der mir vorkam wie die späteren Watschen und Ohrschellen meiner nicht immer zimperlichen Lehrer war ein erster Hinweis darauf, den erkenntnisreichen Segnungen der Erwachsenenwelt künftig noch mehr zu misstrauen und diese weitaus kritischer aufzunehmen.
Der gütige Herr Marin hatte sich oft Zeit für mich genommen. Er hatte Drachen mit mir gebaut aus feinen Holzlatten und blauem Papier. Gemeinsam hatten wir diese Drachen später im aufkommenden Wind steigen lassen. Ein Vergnügen, die zitternde Schnur zu halten und gegen den Wind anzukämpfen! So muss das Segeln funktionieren, kombinierte ich, immer hart am Wind! Nea Marin hatte mir von einer um Weihnachten in die verschneite Sowjetunion unternommenen Reise bunt illustrierte Märchenbücher mitgebracht mit neuen, kulturfremden Inhalten. Indische Volksmärchen enthielt das dicke Buch und viele Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die vom Leben armer Bauern berichteten, deren sehnlichster Wunsch ein gefüllter Reistopf war, mit einem Hähnchenschlegel darin. Erstmals vernahm ich etwas von Menschen fressenden Tigern, von alles niedertrabenden Elefanten, von Turbanträgern, schmuckbehangenen Prinzessinnen, von Säulenheiligen am Ganges, von Heiligen Kühen und Ratten, von Maharadschas und lumpenumhüllten Bettlern, Göttersöhnen, von Vishnu und von Buddha, von tausend Gottheiten dahinter – ebenso von anderen Sichtweisen und Werten. Das tägliche Brot der Inder war der Reis? Staunen erfüllte mich. Interkulturelle Unterschiede fielen auf – und neue, unbekannte Welten. Da war viel bildhafte Romantik und Fantasiereiche Kurzweil in den Märchen. Die pittoresken Ausmalungen ferner, exotischer Welten beflügelten die eigene Vorstellung. Das Unbekannte faszinierte doppelt und förderte das Interesse an fremden Kulturen. Wenn die allabendliche Märchenstunde anstand und Vater, in einer Küchenecke auf dem gemauerten Sparherd sitzend zum Vorleser wurde, übersetzte er mir die Inhalte aus dem Rumänischen. Gleichzeitig betätigte er sich als Zensor, indem er aus der Sammlung nur diejenigen Märchen auswählte und vortrug, welche die zarte Seele eines heranwachsenden Kindes am wenigsten zu belasten drohten. Ohne viel von theoretischer oder angewandter Psychologie zu verstehen, setzte Vater weitgehend intuitiv psychologische Kriterien an und sonderte die seelisch grausamen Geschichten aus, um so meinen unbelasteten Schlaf zu gewährleisten, frei von Albträumen, während Mutter sich geradezu konträr verhielt. Für sie waren die „Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm“ ein probates Mittel, das manchmal trotzige, eigenwillige Kind schnell zur Raison zu rufen, es in die Schranken zu weisen, während Vater, intellektuell versierter und an Lebenserfahrungen wesentlich reicher, vielmehr auf Trostspenden und Harmonievermittlung bedacht war. Nach ihrem pathetischen Vortag vergaß Mutter fast nie, „die Moral von der Geschichte“ nachdrücklich mit erhobenem Zeigefinger in Klartext zusammenzufassen, in der Regel mit einer gelinden Drohung verbunden und dem dazugehörenden Hinweis auf Strafe: „Siehst du, wenn die Kinder den Eltern nicht folgen, wenn sie nicht brav sind und tun, was man ihnen sagt, dann werden sie ausgesetzt im Wald wie „Hänsel und Gretel“ und in wilde Tiere verwandelt wie die „sieben Raben“. „Brüderchen und Schwesterchen“ ähnlich sentimental vorgelesen und nachträglich interpretiert, verursachte mir frühkindliche Albträume und brachte mich zum Weinen. Was wusste die Mutter von der Psyche des Kleinkindes? Nicht viel. Fast nichts.
Ein dickes Märchenbuch mit vielen Zeichnungen – das war ein schönes Geschenk! Auch sonst hatte Nachbar Nea Marin mich mit kleinen Präsenten überhäuft, mich mit Süßigkeiten verwöhnt, mit Kuchen und Torten, die von den zahlreichen Familienfeiern im Ballsaal stammten. Weshalb hätte ich diesen guten Menschen überhaupt kränken sollen, den väterlichen Freund, der mehr für mein kindliches Wohlbefinden tat, als die oft gleichgültigen Angehörigen und nahen Verwandten? Erneute Zweifel kamen auf. Also zweifelte ich eher am eigenen Milieu, dessen geistige Autorität langsam bröckelte und allmählich ins Wanken geriet, als an den manchmal argwöhnisch beäugten Rumänen von vis –à- vis.
Mein soziales Umfeld sollte noch mehr in eine chronische Schieflage geraten, als ich auf konkrete Wissensfragen oft falsche oder ausweichende Antworten erhielt – auch im Elternhaus, was mich sehr enttäuschte. Eine Konsequenz bestand darin, die lästige Fragerei bald ganz einzustellen. Für mich, den Knaben im Vorschulalter, zählte bald mehr und mehr die unmittelbare Erfahrung der Menschlichkeit im Alltag, ganz egal, woher sie kam, nicht die Äußerlichkeit oder das trennende Vorurteil. Schon früh kristallisierte sich dabei ein Phänomen heraus, das später im Leben vielfach bestätigt werden und bis zu meiner Ausreise Ende der Siebziger Jahre anhalten sollte: Von wenigen Ausnahmen, die es in allen Nationen gibt, blieb der im Alltag erlebte Rumäne eine konstante positive Größe; oft entgegenkommend, konziliant, freundlich, vor allem aber menschlich. Mit diesen Rumänen konnten wir auskommen, wie es damals hieß – und sie mit uns Deutschen. Es gab sie wirklich – die anständigen Rumänen, auch wenn manchmal am Stammtisch hasserfüllte Stimmen zu hören waren, die im Überdruss oder nach einer persönlichen Enttäuschung gleich das ganze Staatsvolk in Bausch und Bogen verdammten.
Im Gegensatz zu den sonst wesentlich temperamentvolleren Ungarn, die weder in Sackelhausen noch im Temeschburg meiner Zeit nationalistisch militant auftraten, konnte man mit den Rumänen vor der Haustür in der Regel und weitgehend konfliktfrei, ja sogar gut zusammenleben, wenn nicht noch ein ideologisches Element hinzukam, das die kommunistischen Scharfmacher einsetzten, um einen Keil zwischen Nationen und einfache Menschen zu treiben. Von Kindesbeinen an habe ich die nachbarschaftlichen Rumänen als sanfte und konziliante Menschen erlebt – ausgehend von Prototypen und Vorbildern wie Nea Marin und Fräulein Tănăsescu, die Lehrerin. Der abstrakte Rumäne hingegen, der nationalistisch ausgerichtete Chauvinist, Produkt einer stilisierten Geschichte, oft Ideologieträger und Funktionär, wurde bald zum bekämpfungswürdigen Gegner, ja sogar zum Feindbild, zumindest für mich in meiner bald aufkommenden sozialkritischen, antikommunistischen Polemik. Das Hineinwachsen in die Gesellschaft und die zunehmende Ideologisierung vollzog sich in diesem Spannungsfeld.
Schon als Kinder entwickelten wir die Mittel dazu: die Beobachtung, die Analyse und den immerwährenden Vergleich. Die späteren Sozial- und Geisteswissenschaftler unter uns mussten nicht lange nach einer Interpretationsmethode suchen. Sie waren schon geborene „Komparatisten“, von Anfang an. Wer zwischen mehreren Nationen und Kulturen aufwächst, wird später viel zu differenzieren haben – zwischen den Werten einzelner Nationen und zwischen Ideologien, zwischen demokratisch-pluralistischen und monostrukturiert -totalitären.
Hintergrund, Dokumentation, Auszüge und Blogbeiträge, die später in die Buchpublikationen aufgenommen wurden:
Zweiter Band der "Symphonie der Freiheit"
erschienen
Neuerscheinung:
Carl Gibson:
Allein in der Revolte
Ab sofort im Buchhandel und Online-Buchhandel:
http://www.amazon.de/Allein-Revolte--Eine-Jugend-Banat/dp/389754430X/ref=sr_1_4?s=books&ie=UTF8&qid=1362068743&sr=1-4
Carl Gibson, Allein in der Revolte.
Eine Jugend im Banat.
Carl Gibson: Gegen den Strom. Deutsche Identität und Exodus - Neu: Allein in der Revolte
http://roell-verlag.de/shop/article_978-3-89754-430-7/Gibson%2C-Carl%3A-Allein-in-der-Revolte%3A-Eine-Jugend-im-Banat.-Aufzeichnungen-eines-Andersdenkenden-%E2%80%93-Selbst-erlebte-Geschichte-und-Geschichten-aus-dem-Securitate-Staat.html?sessid=og5KWB3r0pvwbfGSXLaz33MJbJsMiHXsB0GCeK7TbSQAdYJCZcMeVOZEN03Spg3a&shop_param=cid%3D32%26aid%3D978-3-89754-430-7%26
Der längst überfällige zweite Band der
"Symphonie der Freiheit"
ist gerade erschienen -
unter dem Titel:
Carl Gibson, Allein in der Revolte
im J. Röll-Verlag Dettelbach.
Aus editorischen Gründen wurde der ursprünglich vorgersehe Titel:
abgeändert.
Foto: Privatarchiv Carl Gibson
Buchrückseite:
Foto: Privatarchiv Carl Gibson
Die Einzel-Titel bitte googeln
Geschichte des Banats,
Sackelhausen,
Temeschburg,
Alltag und Opposition während der kommunistischen Zeit in Rumänien erfahren will,
kann die einzelnen Kapitel online lesen,
Kommerzielle Verbreitung der Texte oder von Auszügen daraus jedoch nicht.
Foto: Carl Gibson
Leseprobe:
Online-Publikation
Teil I:
In dem im Mai 2008 publizierten Werk “SYMPHONIE DER FREIHEIT” wird die Geschichte der ersten größeren freien Gewerkschaft in Osteuropa “SLOMR” beschrieben.
den Weg zur freien Gewerkschaft SLOMR
sowie die Voraussetzungen und Bedingungen antikommunistischer Opposition während der Ceausescu-Diktatur.
Wer mein Werk "Symphonie der Freiheit" aus materiellen Gründen nicht erwerben kann,
der kann das Buch
auszugsweise trotzdem lesen:
Google und das Internet machen es möglich,
unter:
http://books.google.de/books?id=ykTjXDg8uycC&printsec=frontcover&dq=carl+gibson+symphonie+der+freiheit&source=bl&ots=uj9Z1AnzGy&sig=2QfvmREQUYtE-BmUnlAFwwpj7As&hl=de&ei=PYLvTJD1FtDxsgbI2f2DCw&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=9&ved=0CEYQ6AEwCA#v=onepage&q&f=false
Wichtig ist, dass die Inhalte,
namentlich die
Geschichte und Gründung der "freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger SLOMR" im Jahr 1979 in Bukarest und Temeschburg (Timisoara),
fast zwei Jahre vor "Solidarnosc" in Polen,
bekannt und -über die Forschung hinaus - diskutiert werden.
Nachtrag (18. 1. 2911):
In der Zwischenzeit hat sich einiges geändert.
Der vom Verlag ins Internet gestellte "Auszug" aus meinem Werk "Symphonie der Freiheit" ist in dieser Form nicht mit mir abgestimmt.
Die Textpassagen sind willkürlich ausgewählt,
bestenfalls zufällig, aber keinesfalls "repräsentativ" für das Gesamtwerk,
dessen zweiter Teil ( unter: Gegen den Strom) bereits im Herbst 2010 im gleichen Verlag hätte erscheinen müssen.
Nach dem Einblick in meine Securitate-Akte bei der CNSAS in Bukarest
wäre eine
Neuauflage der "Symphonie der Freiheit"
angesagt,
da teilweise neue Erkenntnisse, vor allem aber zahlreiche bisher noch unbekannte Daten und Fakten zum Oppositionsgeschehen während des Ceausescu-Kommunismus vorliegen.
Auch zu einer Neuauflage schweigt der Röll Verlag aus Dettelbach .
Buchbesprechung von Dieter Michelbach, in: Banater Post, November 2008.
Eine Variante dieses Artikels existiert auch unter: http://www.carlgibsongermany.wordpress.com/
Zur Konzeption und Genese eines politischen Buches in künstlerischer Form
Das war das Schicksal meines Werks über den Dichter Nikolaus Lenau.
Das betrifft mein 2008 erschienenes Buch „Symphonie der Freiheit“:
Twitter:
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Erinnerung an meine Herkunft, an Sackelhausen, an Temeschburg, an das Banat, an Familie und an gute alte Freunde, an echte Kameraden, an treue Wegbegleiter und an unzählige Bekannte – auch aus dem Kreis der Rumänen, deren Namen ich – nun nach 44 Jahren Abwesenheit – schon vergessen habe: alles ist vergänglich, doch manche Erinnerung bleibt: Carl Gibson, der nunmehr ein Zigeuner ist:
Fußball im Verein - Carl Gibson als "Fußballer"
und Teil der
"Mannschaft" in Sackelhausen (Sacalaz)
bzw. der UMT Temeschburg (Jugendmannschaft des Klubs)
aus derdortigen 2. Liga!?)
Im UMT - Stadion,
Temeschburg
Der dritte Spieler obere Reihe von rechts: das ist Carl Gibson.
Neben mir ein "echter Zigeuner"!
Ich erkenne ferner - neben meinen Klassenkameraden - vier Rumänen, einen rumänischen Trainer aus der Stadt Timisoara sowie auch einen guten Freund aus einer Mischehe, die selten war in Sackelhausen.
Die UMT, (Uzina Metalurgica? Timisoara), eine ganz große Fabrik, deren Produktionshallen ich nie betraten habe, machte es sich einfach:
weil sie keine eigene Jugend-Fußballmannschaft hatte,
noch Lust oder Zeit, eine aus dem Nichts aufzubauen,
wurde unsere "fertige" Mannschaft aus Sackelhausen
- als "Pitici" (Zwerge) übernommen.
Wir bekamen neue Trikots
und trainierten auf einem Asche-Platz neben dem gute Rasen.
Später in Sackelhausen! Auf dem "Sportplatz" am Ortsanfang in der Nähe des Bahnhofs.
Unten, der vierte Mann von rechts, das ist Carl Gibson.
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