Amnesty … an der Kette!?
Listen!?
Irrungen, Wirrungen und starre Statuten
Listen!?
Irrungen, Wirrungen und starre Statuten
Nach einem klassischen Frühstück mit jenen ominösen Würstchen, an denen bisher nach kein England-Reisender vorbei kam und deren Geheimrezept noch besser gehütet wird als das einer prickelnden Kokalimonade, begann am frühen Nachmittag der ernsthafte Part der Reise: Gespräche über Menschenschicksale standen an.
Wir trafen uns in der Zentrale der Menschenrechtsorganisation. Mit am Tisch saßen meine Gastgeberin, die ihren Ausgehabend gut überstanden hatte und der Osteuropakoordinator von Amnesty International. Zunächst erörterte ich die Abläufe in Bukarest und Temeschburg, nicht ohne die symbolische Unterstützung des Vereinigten Königreichs über ihre Botschaft in Bukarest ausdrücklich zu würdigen. Mein Englisch war zwar immer noch nicht viel besser als damals in der Mission, als ich union noch wie onion ausgesprochen hatte, doch es reichte aus, um Essenzen zu vermitteln.
Gemeinsam gingen wir den umfangreichen Namenskatalog durch, den ich im Vorfeld der Reise aus dem Gedächtnis erstellt hatte. Die schon von Giordano Bruno praktizierte und kultivierte Mnemotechnik ist ein gutes Mittel, Gehirnaktivitäten zu stimulieren und das Erinnerungsvermögen zu trainieren. In der Zelle, wo mir Bleistift und Papier verweigert worden waren, hatte ich viel Zeit damit verbracht, das mentale Speichern einzuüben. Dabei bildete sich die Fertigkeit aus, über logische Verknüpfungen, so genannte Eselsbrücken, möglichst viele Namen oder Fakten zu memorieren und diese für lange Zeit im Gedächtnis zu verankern. Die erstellte Liste war das greifbare Endprodukt der Methode. Listen!? Mitten im tosenden Holocaust hatten der deutsche Unternehmer Schindler und der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg Listenerstellt, die unzähligen Verfolgten des Nationalsozialismus das Leben retten, Lebenslisten, wo andere Verbrecher in Berlin und Moskau nur an Todeslistenarbeiten!
Hier gedachte ich an Schindler und Wallenberg anzuknüpfen mit einer Liste, die Ähnliches bewirken sollte. So etwa hatte ich mir das bereits in der Zelle ausgemalt und im blinden Glauben an die Moralität des Westens den Verfolgten einiges versprochen im Vertrauen darauf, die demokratische Gesellschaften Westeuropas würden mir dabei behilflich sein, mein Versprechen auch einzulösen. Mit der langen Namenreihe konfrontierte ich nun meine Gesprächspartner und erzählte zu jedem Namen und Fall eine individuelle Geschichte. Um möglichst überzeugend zu berichten, zog ich alle Register meines autodidaktisch angeeigneten Ostblock-Englisch. Von Fall zu Fall verwies ich auf die offizielle Verurteilung und erläuterte die tatsächlichen Hintergründe der Haft einzelner Personen, die vom Regime bewusst kriminalisiert worden waren. Meine Absicht war, die Häftlingshilfeorganisation dazu zu bewegen, möglichst viele der auf der Liste vermerkten Fälle, die aus meiner Sicht eindeutige Opfer darstellten, als politisch Verfolgte anzuerkennen, sie zu adoptieren und ihr Schicksal öffentlich bekannt zu machen. Manch einer der so genannten Republikflüchtlingewar nicht wegen der angestrebten illegalen Grenzüberschreitung verurteilt worden, sondern wegen Beamtenbestechung. Anderen unterstellte man Unterschlagung, um die unbefriedigenden Produktionsergebnisse zu rechtfertigen oder illegale Bereicherung. Anderen, wie dem blonden Bäckersjungen aus der Nachbarschaft, unterstellte man überhaupt nichts mehr - und verurteilte sie nur so: weil es dem Staat so gefiel - jenem Unrechtsstaat, der über seine Schreibtischtäter und Handlager in allen Bereichen der Exekutive das tat, was er wollte.
Einige Pseudoverurteilungen versuchte ich anzusprechen und zu verdeutlichen. Doch meine Argumentation fand kein richtiges Gehör. Zu meiner herben Enttäuschung interessierten von den vielen Namen auf der Liste, die für mich, den Eingeweihten, mehr waren als bloße Namen und Nummern, nur einige besonders markante Fälle. Die Hilfsorganisation sah sich ausformalen Gründen gezwungen, nur eindeutige Opfer aufzugreifen, um einige von ihnen für eine mögliche Adoption vorzusehen. Es waren in der Regel nur Personen, die aus weltanschaulichen und religiösen Gründen offiziell verfolgt wurden, so genannte Gesinnungshäftlinge, Leute wie mein Zellenkumpan Lae, der Baptist! Ein umfassenderes Engagement wurde gleich mit der Begründung abgelehnt, die gezielte Kriminalisierungder anderen Häftlinge auf der Liste könne objektiv nur schwer nachgewiesen werden und sei kaum zu vertreten.
Zunächst reagierte ich verblüfft, dann geschockt und mehr und mehr ungehalten. Aus meiner Sicht war das ein kleiner Skandal. Denn mit dieser äußerst zurückhaltenden Haltung wurde das Mittel der Kriminalisierung endgültig sanktioniert. Ohne locker zu lassen, rollte ich die Problematik noch einmal auf und zog, um den Staatsbetrug auf den Punkt zu bringen, den eigenen Fall als Beispiel heran. Hatte ich, der doch nun physisch hier saß und - munitioniert mit Dokumenten aller Art - berichtete, nicht selbst eine halbjährige Haft hinter mir, die für eine fiktive Anschuldigung ausgesprochen worden war, für ein Vergehen, für einen Verstoß - nur für welchen? Was hatten wir eigentlich getan, was gegen geltende Gesetze verstoßen hätte? Wogegen hatten wir konkret verstoßen? Die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter saßen hilflos da, einsichtig zwar, aber in den Statuten von Amnesty International gefangen. Gefangen! Es klang paradox und war paradox, wenn nicht gar absurd? Stoff für Ionesco? Ich hätte ihm berichten sollen! Amnesty International, die Gefangenen-Hilfsorganisation, lähmte sich selbst und legte sich selbst an die Kette!
So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten! Die Freiheitwar nicht in der Lage, die Gerechtigkeitdurchzusetzen. Obwohl durchschaut, durfte die Lüge weiter wirken. Darin erkannte ich wieder einmal das Versagen des Westens.
War das nicht symptomatisch für den Gesamtzustand der Welt? Und war es auf völkerrechtlicher Ebene bei der UNO viel anders? Galt die Ethik der Völker noch etwas? War es endgültig aus mit den Idealen der Freiheit und Humanität sowie der Moral? Hatte Cioran doch Recht - und das große Heer der Skeptiker und Pessimisten vor ihm? Waren wir, um mit dem Immoralisten Nietzsche zu sprechen, jetzt tatsächlich jenseits von Gut und Böse angekommen?
Allmählich setzte sich der Eindruck fest, diese jungen Engländer, die mir weitaus naiver erschienen als ihre realitätsbezogenen Kollegen in Paris, verstünden die wahren Verhältnisse im Ostblock nicht ganz. Sie wirkten zum Teil überfordert, nicht anders als mancher deutsche Hochschulprofessor, der nur die Einmaligkeit des Nationalsozialismus hervorhob und dabei die Millionen Opfer des Stalinismus vergaß. Zwischen der grauen Theorie im Elfenbeinturm und dem tatsächlich Erlebten bestand immer schon eine riesige Diskrepanz. Das schlechte Gewissen regte sich: „Wir müssen genau hinsehen, wen wir adoptieren! Leider! Wir können nicht jeden als politisch verfolgt aufnehmen, sonst werden wir unglaubwürdig“ wiegelte jetzt auch Nyula ab. Mir, dem noch mittelbar Betroffenen, fiel es schwer, solchen Rechtfertigungen zu folgen. Ging es denn hier um die Imagepflege einer Organisation, um Selbstzweck? Oder sollten Verfolgte zumindest moralisch unterstützt werden? Was machte es aus, wenn ein paar Namen mehr auf der Liste der Entrechteten, Stigmatisierten und freiheitlich Deprivierten auftauchten?
„Es muss doch Mittel und Wege geben, den Gefangenen hinter dem Eisernen Vorhang irgendwie moralisch beizustehen und zu helfen! Viele aus ihren Reihen hoffen auf Amnesty International, genauso so wie sie auf Jimmy Carters Amerika setzen und auf die freien Demokratien des Westens! Ihre Organisation hat sich nun einmal dieser Aufgabe angenommen. Und es gibt keine andere. Deshalb orientiert sich das Hoffen der Verfolgten in eine Richtung, hierher nach London!“ konterte ich vorwurfsvoll, entrüstet über die Tatsache, dass die Auswahl von Menschenschicksalen nicht viel anders gehandhabt wurde als das stock picking an der benachbarten Börse im Financial District.
„Dann müssen Sie eben eine Organisation gründen, die nach anderen Statuten agiert! Sie können sich dann dieser Justiz-Irrtümer annehmen!“ entgegnete mir der junge Beauftragte leicht arrogant. Das war dann doch zuviel. Mir verschlug es die Sprache. Mit einem dicken Kloß im Hals, raffte ich die ausgebreiteten Zettel auf einen Haufen, bedankte mich förmlich für das Gespräch und schlich enttäuscht davon.
Als Nick mir vor einem Jahr im Cismigiu-Park von Amnesty International vorschwärmte und von seiner noblen Absicht, selbst eine Koordinationsgruppe der Hilfsorganisation in Bukarest ins Leben rufen zu wollen, sprach er von Heiligen und von irdischen Engeln. Von der Engstirnigkeit enger Satzungen in Engelandhingegen berichtete er mir damals nichts. Manche Erfahrungen mussten selbst gemacht werden, bevor man sie glaubte.
Gerade im Begriff, das Gebäude für immer zu verlassen, erreichte mich Nyula, die mir hinterher geeilt war, auf der Treppe. So einfach könne ich doch nicht davonlaufen, es gäbe doch noch manches zu besprechen. Auch solle ich noch einen Tag anhängen und noch einmal bei ihr im Cottage übernachten, schlug sie vor. Etwas Menschlichkeit war wieder da. Wie sollte ich regieren? Spontan, ohne an die harte Couch und an die Segnungen der englischen Gastronomie zu denken, die wieder auf mich zukamen, wenn ich zusagen würde? Da mein Rückflug nach Frankfurt aber sowieso erst spät am Folgetag erfolgen sollte, ließ ich mich gern überreden und blieb.
Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur
in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,
Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel
Auszug aus: Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit
Symphonie der Freiheit
Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur
Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung
in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:
"Symphonie der Freiheit"
bzw.
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band
"Allein in der Revolte".
Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel
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