Mittwoch, 16. Januar 2013

Ion Caraion - Die Jagd auf den toten Dichter und moralische Entrüstung, Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen, Leseprobe

Die Jagd auf den toten Dichter - 

und moralische Entrüstung


Heute, mehr als zwanzig Jahre nach Ion Caraions Tod im Exil, scheint sein Ruhm als Geist und Dichter weiter zu verblassen. Neue alte Dokumente sind in den Securitate-Dossiers aufgetaucht, die seine Informantentätigkeit angeblich bestätigen. Es sollen schwerwiegende Dinge sein, die ihn belasten und seine moralische Integrität in Frage stellen.

Caraion soll den schreibenden Kollegen Nicolae Steinhardt verraten haben. Und er soll einen Agentenlohn erhalten haben und sonstige Privilegien, um andere regimekritische Dichter und Schriftsteller aus seinem Umfeld auszuspionieren. Es fällt mir auch heute noch schwer, all dies zu glauben, nicht zuletzt deshalb, weil die rumänische Gauck-Behörde, die CNSAS, unglaubwürdig arbeitet, mehr hemmt und verschleiert als sie zu Tage fördert und enttarnt. Nach neuesten einschlägigen Veröffentlichungen schützt diese Einrichtung - ein fiktives Interesse der Staatsicherheit vorgaukelnd - sogar die Aktivitäten der inzwischen in SRI umbenannten Securitate.

Die Dokumente, die heute vorliegen, könnten aus vielen beschlagnahmten Manuskripten zusammenkompiliert worden sein wie eine Collage. Nichts von dem, was ich bisher zitiert fand, belastet Caraion eindeutig. Vieles ist zweideutig und, da es aus dem Kontext gerissen ist, sehr fragwürdig. Deshalb wundere ich mich, mit wie viel Lust und Überzeugung er von offensichtlich zu jungen Moralisten belastet wird, die selbst weder je etwas von ihm gelesen haben, noch über seine Gefängniserfahrungen angemessen urteilen können.

Caraion war als Dichter in einem totalitären Staat abhängig, erpressbar. Doch ein Verräter im eigentlichen Sinne war er kaum. Jedenfalls nicht aus freien Stücken! Natürlich hat er mit der Securitate kommuniziert. Doch ging es anders?

Auch ich hatte immer wieder mit ihren Mitarbeitern zu reden, selbst auf der Straße, ohne kontrollieren zu können, was nachher sie über mich in ihren Berichten festhielten oder was sie als Gerücht streuten. Der Mensch Caraion, den ich kannte, spricht gegen die Verdächtigungen und Unterstellungen sowie gegen eine gezielte Kooperation aus eigenem Antrieb. Was ist Dichtung? Was ist Wahrheit? Und was ist schlechthin gezielte Manipulation des Geheimdienstes?

Ist am Ende alles nur ein geschickter Schachzug der Gegner von einst, der Verantwortlichen aus den höheren Etagen der Securitate, die mit einem solchen Nebenkriegsschauplatz von den eigenen Untaten ablenken wollen?

Während die Berufsverbrecher der Securitate in Ruhe ihre Pension verleben, wird zur Hetzjagd auf ein leichtes Opfer geblasen. Der Angriff wird auf einen toten Dichter gelenkt - und kaum einer merkt etwas davon. Fast alle folgen der moralischen Fährte und gehen dabei den Gerissenen auf den Leim.

Es ist unbegreifbar, wie viel politische Naivität immer noch möglich ist. Nicht ein verzweifelter Dichter ist das Problem der neuen, nach Europa ausgerichteten Gesellschaft, ein hochsensibler Künstler, der nach Jahren psychischer Folter und Grausamkeiten aller Art nicht mehr konnte und zusammenbrach - nicht über sein moralisches Versagen gilt es zu richten.

Das Problem sind die immer schon verbrecherischen Verbrecher, die immer schon unmoralischen Speichelecker, Lobhudler und Hofdichter, Leute wie Vadim Tudor, der heute die Großrumänien Partei anführt und mit Leidenschaft gegen Juden, Zigeuner, Intellektuelle und andere Minderheiten hetzt und dabei von Millionen Rumänen gewählt und von Europas Politikern akzeptiert wird. Es ist der gleiche Vadim Tudor, der in einer nie gekannten Unterwürfigkeit Ceauşescu über den grünen Klee lobte, in der Hoffnung, so zum einzigen Hofdichter aufzusteigen, der, um Karriere zu machen, durch das eigene Tun nicht nur die Dichtung pervertierte, sondern als Denunziant auch noch die wahren Dichter in Misskredit brachte. Dieser Tudor, der selbst ein Ultrarechter Antisemit ist, ein Produkt des kommunistischen Regimes, wie man heute weiß, denunzierte Ion Caraion wie den Dissidenten Dorin Tudoran bei der Securitate als rechtsextreme Elemente, und verwies die Securitate auf den feindlichen Gehaltvon Caraions Poesie.

Ist das der neue Mann für Europa? Das sind die Fragen, die nicht nur die Rumänen beantworten sollten, sondern auch die Verantwortlichen in der EU. Manch einer aus der Reihe der plötzlich moralisch wertenden Zeitgenossen, die nie eine Gefängniszelle von innen gesehen haben, sieht heute in Caraion vorschnell den Verräter, den Ängstlichen und Feigen, der andere ans Messer lieferte, um selbst zu überleben. Und nur wenige Stimmen, darunter kaum Exilautoritäten, verteidigen Caraion als das tragische Opfer eines möglichen Komplotts, einer revanchistischen Verschwörung alter Kräfte, die sich gegen alle antikommunistischen Widerständler richtet, doch mit schwacher Stimme. Ganze Materialsammlungen wie die Sipos-Dokumentation, in denen dargelegt wird, mit welchen Maßnahmen die Securitate den Dichter im Exil unter Druck setzte, ihn kompromittierte, diskreditierte und Fakten, die für Caraion sprechen, fallen dabei unter den Tisch. Das Resultat davon ist, dass die Gesamtsituation, die eigentlich klar offen legt, wie ein exponiertes Individuum aufgrund makropolitischer Konstellationen instrumentalisiert und zum tragischen Opfer reduziert werden kann, vorerst ambivalent bleibt wie auch ihre endgültige Bewertung.




Regierungssitz in Bukarest







Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur



Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe

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