Von Frankfurt nach Franken - Im Gleichschritt … Marsch!
Das Vaterland empfing mich mit einer perfekten Organisation. Die Wehrmacht war jüngst erst über Europa gerollt wie einst die römischen Legionen. Etwas von dieser mich faszinierenden Logistik war wieder da. Die Deutschen verstehen etwas vom Organisieren; es ist systematisch bis ins letzte Detail - wie das Denkgebäude jenes Philosophen aus Königsberg, dessen Grab heute von Russen in Ehren gehalten wird. Der empfundene Kontrast konnte nicht größer sein. Wer in einem Land aufwächst, wo nie etwas richtig funktionierte, wer stets und in allem dem Walten des Zufalls ausgeliefert war, dem fällt es auf, wenn alles geregelt ist - und funktioniert!
Auch der Empfang der Neubürger war geregelt und schien zu klappen. An einem der Flughafenausgänge stand ein Omnibus bereit, der meinen Weitertransport nach Franken übernehmen sollte. Karl der Große, mein Namensvetter, hatte Spuren hinterlassen - in Frankfurt und in Franken.
Mit mir waren noch andere Menschen ausgereist, für die ich keine Augen hatte. Tausend neue Eindrücke lenkten mich ab - Impressionen wie in einer Bildergalerie mit immer neuen Farbkonstellationen und Motiven. Auch war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt im Versuch, mein Denken nunmehr zu kanalisieren, zu ordnen.
Endlich fuhr der Bus los und kämpfte sich durch den dichten Verkehr des Ballungsraums. Ungeduld beherrschte mich. Das Neue jagte das Neue. In der Ferne war die Skyline des Finanzzentrums zu sehen mit den Wolkenkratzern der Geldinstitute, deren Größe an der Marktkapitalisierung der Aktiengesellschaften abzulesen war. An Fuß der Glasberge lag wohl auch die Börse, der Puls des Kapitalismus. „Wie stehen die Aktien“, witzelten wir früher beim Zusammentreffen in der Stadt, ohne recht zu wissen, was Aktien sind, wie man an sie herankommt, wie man mit ihnen reich wird - oder, wenn es die falschen sind zur falschen Zeit - wie man, endgültig ruiniert, verzweifelt aus dem Fenster springt. Meine Gedanken schwirrten ab. Geld-Institute … Bankinstitute, das hatte ich bereits im Flughafen gelesen? War die Bezeichnung Institutnicht dem akademischen Sektor vorbehalten, der freien Forschung und Lehre? Nutzten die Banken die euphemistische Umschreibung, um von ihrem unsittlichen Profitstreben abzulenken? Hatte Brecht doch Recht? War es nicht wirklich ein größeres Verbrechen, eine Bank zu gründen oder zu besitzen als eine zu berauben? Anarchische Hirngespinste - so kombinierte ich nun hin und her. Einmal Anarchist - immer Anarchist, einmal Dissident - immer Dissident, einmal Rebell - immer Rebell?
Doch was konnte ich dafür, wenn ich von Freiheit, von Nonkonformismus und von kritischer Auflehnung bestimmt wurde? Immer und überall! Auch im Westen? In der Welt Amerikas, in der Welt der Freiheit. Irgendwann hatte ich aus einem Gefühl heraus A gesagt und immer daran festgehalten. Jetzt musste ich konsequent bleiben, B sagen, zumindest bis zur Gegenprobe, und zunächst voll und ganz zu diesem System stehen, in der Hoffnung, das viel vermisste humane Antlitz einer Gesellschaftwenigstens hier vorzufinden.
Der Bus wurde schneller, fuhr über einen Zubringer auf die Autobahn und entfernte sich mehr und mehr vom Main und von Mainhattanin die Richtung des Ursprungs, hin zur Quelle ins Fränkische. Frankfurt? Das war wohl die amerikanischste der deutschen Städte? Hatten sie die Freiheit hier eingeführt - oder war sie ein endemisches Produkt, das schon früher am Fluss gedieh? War nicht Goethe hier geboren, in der alten Freistadt? Stand hier nicht irgendwo auch die Paulskirche? Das erste deutsche Parlament? Ein erster Hort politischer Freiheitund Demokratie? Bald wollte ich wiederkommen, alles sehen, erfassen, vertiefen …
Kurz darauf gewahrte ich ein großes Schild am Straßenrand mit der Aufschrift Freistaat Bayern: Die Republik in der Republik - fiel mir ein. Vom reichen Wappen Bayerns erkannte ich nur die weißblauen Farben und den bayerischen Löwen. Es war ein schönes Gefühl, in einen Freistaat einzufahren!
Jedes Wort, in dem die Freiheit steckte, klang in meinen Ohren wunderbar wie Mozartsche Musik - und erinnerte an den Geist seiner Zoten, die er in einem Anflug von Überdruss seiner unfreien Zeit entgegenschmetterte. Freiheit und Musik, das passte irgendwie gut zusammen. Viva, viva, la liberta!
Der Bus rollte weiter durch den Spessart; durch einen Märchenwald mit Wirtshäusern und zottigen Räubern. Irgendwo rechts, an einer der zahlreichen Windungen des Mains auf seinem Weg in den großen Strom, nahe Wertheim lag der kleine Ort Urphar mit seinem Wehrkirchlein aus karolingischer Zeit, ein Ort, an dem ich später einmal leben sollte wie in Würzburg, das gerade in Sicht kam.
Auszug aus: Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit
Symphonie der Freiheit
Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur
Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung
in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:
"Symphonie der Freiheit"
bzw.
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band
"Allein in der Revolte".
Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel
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