Sonntag, 20. Januar 2013

Gesichter der Freiheit - Ein Blick über die Mauer in die Todeszone, Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen, Leseprobe


Gesichter der Freiheit - 

 

Ein Blick über die Mauer in die Todeszone



Zusammen ging es an den Kurfürstendamm, an die Schlagader Berlins, zum Pflichtprogramm in die Gedächtniskirche. Sie ermahnte äußerlich alle diejenigen, die wohl nie den Weg nach Plötzensee finden würden, als dauernder Pfahl im Fleisch. Weitere Sehenswürdigkeiten der deutschen Metropole wie der museal erscheinende Reichstag oder die Siegessäule konnten nur im Vorbeigehen gestreift werden. Danach folgte der für mich obligatorische, ja höchst symbolträchtige Gang zur Mauer. Auf diesen Moment hatte ich lange hingearbeitet. Wenn es einen modernen Ausdruck des Schreckens gab, dann war es diese nahezu unüberwindbare Mauer mit dem Todesstreifen, dieser antiimperialistische Schutzwall, der dieFreiheit begrenzte und Leben beendete.

Da die Mauer überall war, musste nicht lange gesucht werden. Unweit des Brandenburger Tores bestiegen wir beide eine der dort errichteten Aussichtsplattformen und blickten vom Turm aus in die Deutsche Demokratische Republik - und wir sahen erstmals von außen aus hinein in den unfreien Osten des Landes, in das bessere und neue Deutschland, das demokratisch zu sein vorgab, das sich aber selbstheuchlerisch hinter einen so genannten antifaschistischen Schutzwall verschanzte musste, weil im die Bürger sonst davonliefen! Ein uns bekanntes Phänomen! Wir blickten über den Eisernen Vorhang hinaus und in ein großes Gefängnis hinein, das sich um den halben Erdball zog und bis nach Wladiwostok reichte.

Einen Teil davon, den Machtbereich des Diktatorenehepaars Ceauşescu, in dem wir zwei Jahrzehnte lang unfreiwillig ausharren mussten, hatten wir beide erlebt, doch höchst unterschiedlich. Wir starrten über die Mauer, über Sperrzäune, Stacheldraht und Selbstschussanlagen hinweg hinter den imaginären Eisernen Vorhang, tief in den Gulag hinein, der nur ein Steinwurf entfernt war. Der Zynismus einer Weltanschauung war unverkennbar.

Was wohl in Gerhards Kopf vorging? Im Kopf eines Dichters, der noch unlängst ein Weltverbesserer sein wollte? Schon früher war er in die bessere Welt eingetaucht und hatte die andere Seite als Gaststudent erlebt. Meine Sehnsucht, Ostberlin zu erkunden, hielt sich seit je her in Grenzen. Dafür war ich heilfroh, inzwischen auf der richtigen Seite stehen zu dürfen, um von der freiheitlichen Perspektive aus rundum zu sehen und die ganze Welt betrachten zu dürfen.

Vor unseren Augen jenseits der Mauer entfaltete sich ein Alptraum in einer Welt der Heuchelei, die von Emporkömmlingen aus der Arbeiterschaft nach diktatorischen Richtlinien verwaltet wurde, von Leuten wie Honecker, Stoph, Mielke, Krenz und dem späteren freien SchriftstellerMarkus Wolf.

Wir schrieben mittlerweile das Jahr 1981. Und unter uns drohte ein Musterstaat des Sozialismus, der deutsche Bruderstaat der Sowjetunion, eingehüllt in Stacheldraht, umsäumt von Minen, Sperren und Selbstschussanlagen, umgeben von einer kaum überwindbaren Riesenmauer - als Bollwerk und Schutzwall gegen die Heimsuchungen und Anfeindungen westlicher Imperialisten. Die Heilslehre des Weltkommunismus hatte noch nicht resigniert. Der gesamte Ostblock strotzte vor Waffen. Russische Panzer rollten durch Afghanistan - und Castro kämpfte in Afrika für die Sache des Sozialismus.

Angesichts solcher Realitäten vor uns und weit von uns entfernt, fragte mich wieder, ob die linkssozialistischen Überzeugungen der Temeschburger Idealisten aus Gerhards Umfeld noch zeitgemäß waren oder ob sich ihre weltanschaulichen Überzeugungen inzwischen bereits etwas verschoben hatten, nach rechts! Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die gerade erfassbaren Realitäten - dieser unmittelbar erlebbare Todesstreifen vor unseren Augen - jedes linke Weltbild und die damit verbundenen Überzeugungen erschütterten und zurückdrängen mussten. Konnte man nach einem bewussten Anblick solcher Bilder noch am Ideal des Kommunismus festhalten? An der großen Lüge von Anfang an?

Demagogische Diktatoren wie Honecker, Ceauşescu und Castro, die logen, wenn sie die Lippen bewegten und die alles verraten und gebrochen hatten, was ihren Völker einst großtuerisch vorgegaukelt worden war, konnten es. Die Lüge, die ich so oft selbst erleben musste, hatte System - ostblockweit!

Auch ich war gegen Manchesterkapitalismus und gegen alle Formen der Armut auf der Welt, doch Kommunismus? Nein! Hier, wo Ost und West aufeinander prallten, wo jederzeit ein menscheitsvernichtender Weltkrieg ausgelöst werden konnte, kam es nicht mehr auf die Auseinandersetzung mit der Welt der Spießgesellen an. Die Welt, ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte, hatte andere Probleme. Nach dem Mauerschock, den ich etwas bübisch triumphierend genoss und als besonders wohltuend empfand, weil er die einst als nichtintellektuell gebrandmarkte weltanschauliche Ausrichtung meiner letzten Jahre bestätigte, ging es zurück zur Flaniermeile am Kurfürstendamm, in die Welt der Litfasssäulen und der Leuchtreklame, wo der Westen greller leuchtete als sonst wo.

Es dämmerte schon. Mein Cicerone machte seine Sache gut. Am Gehsteig standen ein paar herausgeputzte Damen herum und lächelten wie schon vor tausend Jahren. Doch die Atmosphäre von Döblins Berlin Alexanderplatz, von Werner Fassbinder gerade monumental verfilmt, war verfolgen. In einem obskuren Winkel, wo nur das älteste Gewerbe der Welt zu expandieren schien, glaubte Gerhard, mich mit einer besonderen Einrichtung der kapitalistischen Gesellschaft bekanntmachen zu müssen- einer Peepshow. Spendabel griff er nach einer Mark und drängte mich förmlich zu einer jener ominösen Kabinen hin, wo ich durch ein gefängsnisartiges Guckloch für eine paar Minuten ein halb entkleidetes und bald splitternacktes Frauenzimmer bestaunen durfte, sich rekelnd und schlängelnd wie eine Boa im Baum. Ein Frauenzimmer? Wo mir noch das Ideal des Ewig Weiblichen vorschwebte, sprach Gerhard barock verbrämt vom Frauenzimmer! Wohl nur, weil er nicht Weib sagen wollte! Was war pejorativ, was euphemistisch, was konventionell oder was frei und individuell? Bereits am Sprachgebrauch schieden sich die Geister!

Nackte Tatsachen überall - an der Mauer wie in der Stadt. Das war also die Berliner Freizügigkeit ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Fin du Siècle und der Belle Epoque; die Zeit nach Berlin Alexanderplatz!

Mein Enthusiasmus für die Reize des Schönen Scheins hielt sich in Grenzen. Sichtlich wirkte ich weniger beeindruckt, als es Gerhard vielleicht erwartet hatte. Nur woher sollte er davon wissen, dass ich bereits ein paar Tage am Place Pigalle logiert und das Moulin Rouge bestaunt hatte. Dagegen war das Nachtleben von Berlin nur ein schwacher Abglanz.



Auszug aus: Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit



Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe






Zeitzeuge und Autor Carl Gibson


Philosoph Carl Gibson
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:
"Symphonie der Freiheit"

bzw.
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band

"Allein in der Revolte".
Eine Jugend im Banat




Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel








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