Samstag, 24. September 2022

Von Hitler zu Putin: Volk und Führer, Widerstandskämpfer und Deserteure – damals im Dritten Reich, heute in Russland

 

 

 Carl Gibsons Warnung vor Putin vom 31. August 2014 ist inzwischen Realität:

 

 http://carl-gibson-werke.blogspot.com/2014/08/putins-nicht-erklarter-krieg-im-osten.html

Von Hitler zu Putin: Volk und Führer, Widerstandskämpfer und Deserteure – damals im Dritten Reich, heute in Russland

Das Phänomen ist bekannt: das Volk schart sich um seinen Führer, auch wenn dieser ein Verbrecher ist und einen verbrecherischen Angriffskrieg führt, einen Vernichtungskrieg mit den Zielen, andere Völker auszurotten, um, wie schon im Alten Testament vielfach belegt und beschrieben, das eroberte Territorium an sich zu reißen.

Die Deutschen hatten damals ihren Hitler – die Russen haben heute ihren Putin.

Die Deutschen waren damals ein „gedemütigtes Volk“ mit amputierten Territorien und einem zurechtgestutzten Staat – und die Russen sind es heute ebenso, faktisch wie gefühlsmäßig: was der „Versailler Vertrag“, der überhaupt erst Hitlers Aufstieg ermöglichte, seinerzeit besiegelte, leistete der Zerfall der Sowjetunion in Russland, das sich – nach dem „schwachen Gorbatschow“ und dem ewig besoffenen Jelzin nach einem „starken Mann“ sehnte, nah einer Führer-Figur, die in der Lage ist, die nationale Ehre und Größe wiederherzustellen.

Zum staunen der Welt, der zivilisierten Welt der Kulturvölker, konnte seinerzeit der kleine, schäbige Gefreite und Putschist, der von Anfang ein – vom politischen Mord (an Rähm) nicht zurückschreckender – Verbrecher war, ein Machtpolitiker aus Leidenschaft mit Charisma, doch ohne Augenmaß, die politische Macht an sich reißen und zum Kanzler des Deutschen Reiches aufsteigen, ohne von der Mehrheit des deutschen Volkes gewählt worden zu sein.

So auch im Fall des kleinen KGB-Agenten Putin, dem das Erbe Russland undemokratisch zufiel, weil er zugesagt hatte, die materiellen Errungenschaften des Jelzins-Clans zu beschützen und zu bewahren.

Dann aber wurde der kleine Mann, der angetreten war, um Banditen zu bekämpfen, selbst zum starken Mann und zum Banditen, der andere Verbrecher und Schwerverbrecher aus den Gefängnissen rekrutieren lässt, um für ihn und obskure imperialistische Zielsetzungen zu kämpfen.

Die Parallelen Hitler – Putin sind erdrückend. Kleine Leute aus dem Volk steigen auf bis zum Diktator und führen ihre Völker in den Abgrund, während die Völker, nibelungentreu und dem Schicksal ergeben, marschieren, sich selbst opfern wie Opferlämmer auf dem Weg zum Schafott.

Getragen von der Woge einer nationalen Empörung gegen die zersetzenden Bestimmungen des „Versailler Vertrages“ war es dem Demagogen Hitler gelungen, sein Volk, das Volk der deutschen, zu verführen, auf einen historischen Irrweg zu führen, in einen weltanschaulich motivierten, an sich aber sinnlosen Eroberungs- und Ausrottungsfeldzug zu führen, was heute bei - dem nicht weniger demagogisch agierenden – Putin ähnlich ist.

Doch Hitler wurde auch mit Widerstand konfrontiert, aus den eigenen Reihen und auf höchster militärischer Ebene, als die Erfolge des Blitzkrieges ausblieben und die verbrecherische Kriegsführung im Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion bekannt wurden. Der Fall der Geschwister Scholl und der Widerstandskreis „Die weiße Rose“ zeugen davon, viel früher aber der Fall Georg Elser, der Hitler aus der Welt schaffen wollte, noch bevor der Führer das Unheil anrichtete, das er später tatsächlich angerichtet hat, indem er Tod und Verderben über Völker und über die eigene Nation brachte.

Einige aus den Reihen der Deutschen kämpften an, gegen den Diktator und die Diktatur, andere warfen die Flinten weg und liefen davon, weil ihr christliches Gewissen oder ihre humanistische Gesinnung gegen das sinnlose Morden im Krieg und in Uniform rebellierte.

Das Gros des deutschen Volkes aber mied beide Verhaltensweisen – die Rebellen, die Widerstandskämpfer, die Attentäter ebenso wie die Deserteure, überzeugt davon, dass diese Akteure unpatriotisch handelten und dem großen, weisen Führer in den Rücken fielen und somit Verrat an der Sache des Vaterlandes begingen.

Diese Stimmung herrscht heute auch in Russland, wo das Gros der Russen Putins glaubt, vertraut, während einige, die nicht kämpfen wollen, desertieren, davonlaufen, ins Ausland fliehen, auf das Vaterland und Putin pfeifen, aber das eigene Leben retten.

Wird es den Fliehenden und Schutzsuchenden besser ergehen als den aufrechten Deutschen damals, in Hitlers Reich, das die „innere Emigration“ der Intellektuellen ebenso gekannt hat wie die „äußere Emigration“ vieler Geistesgrößen auch aus dem deutschen Judentum?

Deutsche wechselten damals die Straßenseite in Ulm, als ihnen ein Angehöriger der der Scholl- Geschwister entgegenkam. Widerstandskämpfer wurden ausgegrenzt, stigmatisiert. Die Deutschen haben bereut und sind zur Besinnung gekommen, stehen heute geläutert da und wehren sich, imperialistische Machtpolitik und Menschenvernichtung gutzuheißen und mitzumachen bei Verbrechen gegen die Menschheit.

Darüber sollten die Russen nachdenken, die noch Putin folgen, dem Führer und dem Führer, der auf einen gefügigen Apparat zurückgreift. Die Scholls und Stauffenbergs heißen heute Nawalny und Muratow, während ein Medwedew und ein Schoigu verbrecherisch mitstricken wie einst Göring und Goebbels in Lawrow und Peskow ihre Entsprechung finden. Die Dinge gleichen sich wie die Phänomene der Volksverführung in einer Diktatur.

Möge das Ende gnädiger ausfallen als damals, als der Reichstag zu Berlin in Trümmern lag und der rote Diktator Stalin auf der Kreml-Mauer triumphierte!

 

 

 

 

 

Fuga[1] – wer nicht an die Ukraine-Front will, läuft davon, jetzt auch viele junge Russen, die ins Ausland fliehen, statt daheim gegen Diktator Putin aufzustehen und für ein freies Russland zu kämpfen!

Das Phänomen ist bekannt und war immer schon dort präsent, wo der Einzelne nicht zu seinem Staat stand, die Werte ablehnend, die dort verkündet und durchgesetzt wurden. Doch erfolgte die Absetzung nicht etwa aus mangelndem Patriotismus, sondern aus humanistischen Überlegungen, weil der Einzelne, aufrecht und ehrenhaft, Zielsetzungen und Kriegsziele nicht mittragen und ausfechten wollte, die von Diktatoren vorgegeben worden waren. So war es bei Hitler und bei Stalin.

Während die Masse der Soldaten sich dem Auftrag beugten, marschierten, zu Angriffskriegen und Mördern wurden in einen ungerechten Krieg, entzogen sich andere Rekruten oder Reservisten dem Mordauftrag durch Flucht[2], wurden Deserteure, also „Verräter“ an der Sache des Vaterlandes, andere nahmen den Kampf nach innen auf und bekämpften das mörderische System und die Kriegsführung des Tyrannen sowie den Diktator selbst, im Versuch, ihn von der Macht zu entfernen.

Wie halten es nun die jungen Russen, die nun doch noch an die Front müssen?

Sie laufen davon, fliehen in hellen Scharen, ganz nach dem Motto „rette sich, wer kann“, ganz egal, was es kostet[3], Hauptsache man rettet das eigene Leben!

So denkt und handelt der Mensch, wenn es existenziell wird! Für Putins kranke Visionen sterben – das wollen viele junge Russen, die noch nicht ganz verblödet werden konnten, nicht mehr, nicht nach Hitler und Stalin, vor allem aber auch deshalb nicht, weil sie in der Zeit seit und nach Gorbatschow etwas von den Freiheiten erschnuppern und erfahren konnten, die den Sowjetmenschen lange vorenthalten worden waren.

Als Putins „verbrecherischer Angriffskrieg“ [4]ausbrach und schon am ersten Kriegstag feststand, wie die angebliche „Spezialoperation“ in der Ukraine verlaufen und was dieser Krieg noch anrichten würde, war zu erwarten, dass einige aufrichtige, standhafte Russen den Kampf nach innen aufnehmen würden, neben Putin-Kritiker Nawalny, der im ohnmächtig im Gefängnis sitzt und dessen Haftbedingungen man noch zusätzlich verschärft hat, und neben dem mutigen Friedensnobelpreisträger Muratow, den man mundtot gemacht hat und der nun schweigen muss.

Wer opponierte bisher gegen Putins Angriffskrieg?

Ein Großmütterchen in St. Petersburg? Eine junge, blonde Journalistin, auch mit einem Plakat?

Inzwischen wagen sich einige Regionalabgeordnete hervor und fordern die Absetzung Putins, gar eine Anklage wegen Hochverrats! Das Gros der Russen aber schweigt, toleriert das Morden in der Ukraine, während die jungen Russen jetzt ihr Heil in der Flucht suchen!

Sie fliehen, statt daheim gegen die Diktatur eines Putin zu kämpfen!

Gnädig und verständnisvoll aufnehmen wird man die Fliehenden im Ausland nicht. Auch wenn sie in Georgien, Armenien, in der Türkei, in den Baltischen Staaten vorerst eine Duldung finden – es sind doch Russen, die nicht kämpfen wollen; es sind keine tapferen Russen, sondern feige Russen, die das Unrecht, das seit einem halben Jahr vor den Augen der Welt in der Ukraine anläuft, duckmäuserisch tolerierten, billigten, nur, um selbst keine Nachteile zu erleiden.

Das ist schäbig, wenn auch allzu menschlich – und somit verständlich.[5]

15 Jahre Haft für jede Form der Opposition – mit diesem Terror nach innen und über die verbreitete Angst hat der dem KGB erwachsene Diktator Putin seine gesamte Nation eingeschüchtert.

So funktionieren alle Diktaturen der Welt.

 

Was jetzt noch fehlt, aber noch kommen kann: Putin macht die Grenzen dicht. Keiner kann mehr raus aus Russland. Dann ist es wieder wie in der Sowjetunion, nur noch schrecklicher, nur noch brutaler.

Die Sowjetunion schlug die Volksaufstände in Berlin, Budapest und Prag nieder; marschierte in Afghanistan ein, blieb dort zehn Jahre und zog sich wieder zurück. Putin aber, der den Eisernen Vorhang neu errichtet, will die ganze Ukraine ohne Ukrainer!

Das gilt es zu verhindern! Die zivilisierte Welt, die Hitler bekämpfte, muss auch diesen verrückt gewordenen Diktator Putin stoppen!


[1] Das ist mein Vorwurf an die Adresse der Rumänen, die die Politik des Diktators Ceausescu auch noch duldeten, als es nach 1982 im Land kaum noch etwas zu essen gab.

 

Vgl. dazu auch das Kapitel „Fuga“ aus meinem Werk „Symphonie der Freiheit“, 2008.

[2] „Fuga-i rusinoasa, dar sanataosa“ – (Die Flucht ist schamvoll, aber gesund!), sagte der Rumäne, der in den Türken-Kriegen oft davonlief und sich in den Bergen versteckte, aber auch aus der Allianz mit Hitler-Deutschland ausscherte, am 23. August 1944, die Fronten wechselte und das Land den Kommunisten überließ.

 

[3] Doch nicht alle haben das Geld für die inzwischen überteuerten und de facto ausverkauften Flugtickets nach Tiflis, Erewan, Ankara oder in andere Staaten, wo kein Visum benötigt wird.

Aber auch Ukrainer fliehen, etwa nach Rumänien, über die grüne Grenze, um nicht im Krieg gegen eine Übermacht kämpfen zu müssen.

 

 

[4] Das ist inzwischen auch die Terminologie des deutschen Kanzlers Olaf Scholz, der weiß, wovon er spricht.

[5] Vgl. dazu meinen Beitrag „Wenn ein ganzes Volk mitmacht“.

 

 

 

Wenn ein ganzes Volk mitmacht,

dann haben das, was wir heute in Russland haben:

eine Diktatur der ganz brutalen Art, ein System der Macht, das alles unterdrückt, was dem Tyrannen an der Spitze nicht gefällt, ihm gefährlich werden könnte, das jede Freiheit, jedes Menschenrecht abwürgt und den fast schon souveränen Bürger wieder zum niederen Sklaven macht.

Das hatte ich schon einmal, damals, in der Ceausescu-Diktatur, als zwanzig Millionen Rumänen, dem folgten, was ihr großer „Führer[1] vorgab, ohne aufzumucken, ohne Protest, ohne Erhebung, fügsam und geduldig nach dem Motto aus der mehrhundertjährigen Unterdrückungszeit durch das Osmanische Reich: Das gebeugte Haupt bleibt vom Schwert verschont![2]

So hielt sich der Schusterlehrling, der Kleinkarierte, der nur ein schäbiger Diktator war, lange Zeit und selbst noch in der Hungersnot, weil ein ganzes Volk diese Weisheit verinnerlicht hatte, durchdrungen von dem Willen zu überleben.

Die Deutschen, die fast alle Hitler folgten, sahen die Dinge ähnlich und machten auch noch mit, als dieser deutsche Führer längst zum Verbrecher geworden war und sein Volk über Angriffs- und Vernichtungskriege dem Abgrund entgegenführte.

So ist das heute in Kim Jong-uns kommunistischem Nordkorea, wo die Menschen Gras essen, während große Führer Cognac[3] der Marke „Paradies“ á 5000 Euro pro Flasche trinkt, und von wo aus die gesamte Menschheit atomar bedroht wird.

Am gefährlichsten für alle aber ist Putins Russland, wo das Volk der Russen es zulässt, dass eine Person, ein kranker Diktator - die halbe Welt herausfordernd - die Zukunft der Nation aufs Spiel setzt, um die Russen für lange Jahre aus dem Kreis der zivilisierten Kulturvölker auszuschließen.

Putin kann nur walten, wie er waltet, weil sein Volk es zulässt, weil seine Russen, gebeugt wie einst die Rumänen und immer noch die Nordkoreaner, mitmachen[4].

Putin verstrickt die Verführten in die Schuld und raubt ihnen den letzten Hauch von Würde.



[1] Rumänisch „Conducator“ – wie der italienische „Duce“.

 

[2] In Rumänisch: „Capul aplecat sabia nu-l taie“. Volkweisheit aus den Türkenkriegen.

 

[3] Das war der Vater des gegenwärtigen Diktators.

[4] Deshalb will man es in vielen Staaten des Westens nicht hinnehmen, dass diese „mitschuldigen“ Russen unbeschwert als Touristen durch die Welt reisen, während Putins Truppen in der Ukraine Tausende Zivilisten ermorden und ein aufstrebendes Land zur Wüste machen.

 

 

  


Carl Gibson, 

Natur- und Lebensphilosoph, ethisch ausgerichteter Zeitkritiker, politischer Essayist,

Naturfotograf, im März 2022



Mehr zu Carl Gibson, Autor,  (Vita, Bibliographie) hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)

https://de.zxc.wiki/wiki/Carl_Gibson_(Autor)

(Das Wikipedia-Porträt Carl Gibsons in englischer Sprache)


https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/

 Bücher von Carl Gibson, zum Teil noch lieferbar.



Copyright: Carl Gibson 2022.

 

 

 

Vgl. auch:

Auszug aus dem Werk: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur. 2008.



Hommage 

 

dem deutschen Widerstand 

 

 

gegen die Hitler-Diktatur -


 

In memoriam 20. Juli 1944

 

Neuzeitliches Requiem – 

 

Sprech-Drama mit Trauermusik,



http://de.wikipedia.org/wiki/Gedenkst%C3%A4tte_Pl%C3%B6tzensee


Krematorium im ehemaligen KZ Buchenwald bei Weimar -
zuerst wurden im "Land der Dichter und Denker" Bücher" verbrannt ...
und dann ...
verbrannten "Richter und Henker"
Menschen.

Memento!

Foto: Carl Gibson



                                                                       Es lebe die Freiheit! Hans Scholl

Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist für seine Überzeugung sein Leben hin zu geben.
Henning von Tresckow am 21. Juli 1944.


Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg

http://de.wikipedia.org/wiki/Attentat_vom_20._Juli_1944



Es gibt Orte, wohin man nicht gerne geht, weil einem das eigene schlechte Gewissen im Wege steht; Orte des Grauens, vor denen man zurückschreckt, wenn man sich den Terror vergegenwärtigt, der von ihnen ausging.
Vergessen wird dabei, dass es auch Orte sind, wo die Würde des Menschen, der Anstand und die sittliche Haltung am greifbarsten werden, trotz des Schreckens. Ein solcher Ort ist die Gedenkstätte Plötzensee; ein ehemaliges Gestapo-Gefängnis, in welchem in ganz kurzer Zeit nahezu dreitausend Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und die Hitlerdiktatur in menschenverachtender Weise hingerichtet wurden, darunter illustre Charaktere, die heute das Gewissen der Nation verkörpern und das bessere Deutschland repräsentieren.
Dorthin wollte ich allein gehen. Es wurde ein individueller, ein aufwühlender Gang, denn das eigene Gehirn hatte vieles noch nicht bewältigt. Als ich nach Deutschland kam, kam ich aus einer langen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Sie hatte meinen Werdegang deutlich mitgeprägt. Und ich kam aus einer Widerstandsbewegung gegen ein totalitäres System. Nur bewältigt war noch gar nichts. Dafür waren die historischen Abläufe zu vielschichtig und zu komplex. Mir fehlte die geistige Durchdringung der Gesamtmaterie und noch mancher historische Baustein, um die Abläufe im deutschen Widerstand gegen Hitler bis hin zum Attentat am 20. Juli ganz zu verstehen. Einiges hatte ich mir bereits erarbeitet.
Mit unbestimmtem Grauen betrat ich die Anlage - als ein Eingeweihter in Sachen Menschenvernichtung. Sie hatte etwas von einer Schlachtbank, die an den Großen Terror während der Endtage der Französischen Revolution erinnerte. Die Guillotine, deren Anschaffung Hitler persönlich angeregt hatte, um das systematische Abschlachten von Menschen in industrieller Weise zu ermöglichen, war nicht mehr zu sehen. Sie war entfernt worden, um die Empfindungen der Nachwelt zu schonen. Nur die Haken waren noch da an einem Stahlträger – wie in einer Metzgerei – an denen die edelsten Köpfe der Nation aufgehängt worden waren, beim Kerzenschein und selbst in der Nacht, während draußen Bomben fielen.
Nun stand ich stand da, nach Jahrzehnten, und schaute in einen Raum, in dem es nichts zu sehen gab bis auf wenige Symbole des Schreckens, die zum Nachdenken anregen sollten, erfüllt von Bitterkeit und Grausen. Biographien einiger der Opfer rollten vor mir ab, individuelle Leidensgeschichten, Einzeltragödien mit Namen, deren Wohlklang ich schon im fernen Temeschburg vernommen hatte, ohne Details zu kennen; Namen aus dem Umfeld des Kreisauer Kreises und aus dem militärischen Widerstand gegen Hitler. Während ich starr da stand und stumm ins Leere blickte, drängten sich mir spärliche Bilder auf, verschwommene, vom Gehirn künstlich zusammengefügte Szenen aus dem Leben jener Charaktere, die hier hingemordet worden waren, nachdem sie ein perverses Polittribunal unter Rechtsbeugung im Schnellverfahren zum Tode verurteilt hatte.
Berthold Graf von Stauffenberg war in diesem Hinrichtungsschuppen würdelos erhängt worden; und mit ihm Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder, nachdem der so genannte Volksgerichtshof ihnen einen schnellen Prozess gemacht und sie abgeurteilt hatte.
Ein kurzer Prozess? Leider wusste ich, was das war – den ich hatte selbst einen erleben müssen, mit glücklicherem Ausgang! Kein echter Vergleich – aber eine Ahnung davon.
Claus Schenk von Stauffenberg war bereits am 20. Juli – nach dem Scheitern des Attentats auf den Diktator Hitler – von einem Erschießungskommando in Berlin erschossen wurden. Mit ihm starben auf die gleiche Weise seine Mitverschwörer Albrecht Mertz von Quirnheim, Friedrich Olbricht und Hans-Bernd Haeften. Viele weitere Widerstandskämpfer folgten. Bevor Claus von Stauffenberg erschossen worden war, hatte er noch ausrufen können: Es lebe das geheiligte Deutschland!
Jetzt stand ich an der Stelle, wo Ströme Blut geflossen waren – so lange, bis die Guillotine versagte.
Dann wurde gehängt, makaber im Schein der Fackel.
Im Licht der Bombenfeuer und im Kampfgetöse des Zusammenbruchs waren die aufrichtigsten und wahrhaftigsten eines Volkes einfach aufgeknüpft worden wie Strolche und Tagediebe im rechtsfreien Raum!
Viele Unbeteiligte ahnten nichts davon. Viele Informierte blickten weg. Manche sahen zu. Und manche agierten, blind, fanatisiert oder aus reiner Bosheit heraus. Dass sich immer Menschen fanden, die bereit waren, andere Menschen umzubringen, einfach hinzumorden … Der Mensch – die Krone der Schöpfung? Und das im Volk der Dichter und Denker?
Wie dünn war das kulturelle Substrat wirklich? Wann wurde der Mensch zur Bestie? Auch darüber hatte ich bis zum Exzess, bis zur Grenze der Verzweiflung räsoniert, ohne eine Antwort zu finden.
In meiner Rückschau sah ich Helmuth James Graf von Moltke, den aufgeklärten Urgroßneffen des preußischen Feldherrn, der auf seinem Gut in Schlesien den Kreisauer Kreis begründet und am Leben gehalten hatte. Sein Tun war auf ein demokratisches Deutschland nach Hitler gerichtet. Und er handelte, vom Gewissen getrieben. An einem dieser Haken vor mir musste er unwürdig sterben.
Dann  sah ich Adam von Trott zu Solz, den Spross einer alten Diplomatenfamilie, der bereits 1939 im Widerstand agierte und als Diplomat in London und New York um Kontakte zu den dortigen Regierungen bemüht war, aber überhört wurde. Weder in England, das, wie man heute weiß, damals vor der Münchner Konferenz den Krieg noch hätte verhindern können, wenn es Hitler mit einer Kriegsandrohung Einhalt geboten hätte, noch in Amerika war er ernst genommen worden. Vielleicht, weil er sehr früh opponierte. Aber verhöhnt wurde er und zynisch abgewiesen, als die Logik des Krieges ihrer Autodynamik verfiel. Also flog er auf und musste hängen, weil das Unrechtssystem der Braunen Diktatur es so befahl.
Und ich sah Peter Graf Yorck von Wartenburg und Hans von Dohnanyi, zwei andere konservative Intellektuelle, Widerstandskämpfer frühester Stunde, die sterben mussten, damit ein kranker Diktator weiter leben und im Endkampf nochmals Millionen Menschen in den Tod schicken konnte.
Weiter sah ich vor meinem geistige Auge Carl Friedrich Goerdeler, den aufrechten konservativen Politiker und Widerständler, gedemütigt vor dem Volksgericht stehen, einem schreienden Richter Freisler ausgeliefert, der mit der gleichen Dämonie schrie wie Hitler geiferte.
Goerdeler sollte nach Hitlers Sturz der künftige Reichskanzler sein. Da, wo ich jetzt stand, wurde er enthauptet, nachdem seine schon angefertigten Minister-Listen den Schlächtern weitere Opfer ans Messer geliefert hatten. Wie gut, dass unsere Liste nicht gefunden worden war. Listen, das sind oft Todeslisten ….
Die Reihe der aufrechten Charaktere, die nur an dieser Stelle von Verbrechern hingemordet wurden, fern von Recht und Gesetz, fern von Gnade, wollte kein Ende nehmen. Es gab doch aufrechte Deutsche, die, ihrem Gewissen folgend, in schwerer Zeit das Richtige taten. Manche von Anfang an; andere wie die Hitlerattentäter Henning von Tresckow und Claus von Stauffenberg später, nachdem die Menschheitsverbrechen, die aus der Logik des Krieges resultieren, die verbrecherischen Führerbefehle aus dem Bunker und der befohlene Mord an Frauen und Kindern nicht mehr zu rechtfertigen waren. Aber sie handelten aus höherer Einsicht und von wahrer Verantwortung für Volk und Vaterland getrieben!
Die Tat Stauffenbergs hatte mich immer schon beschäftigt; schon damals, als unser kleiner Widerstandskreis sich formierte, in den Tagen der Untersuchungshaft und in den langen Nächten des Gefängnisaufenthalts.
Jetzt war ich hier am Ufer der Spree in Plötzensee, am Ort des Geschehens. Hier war, Stunden nach dem Attentat, die Operation Walküre angelaufen, der Auftakt zu einem Staatsstreich, der ein demokratisches und freies Deutschland begründen sollte. Eine Reihe ungünstiger Zufälle und befehlsblinde Offiziere - wie der von Hitler zum Generalmajor beförderte Ernst Otto Remer, dem ich bald darauf unter anderen Umständen begegnete - führten zum Scheitern des letzten großen Aufbegehrens für Freiheit und Gerechtigkeit. Während Revisionisten wie Remer, der die Widerstandskämpfer um Graf von Stauffenberg öffentlich als Vaterlandsverräter bezeichnet hatte, Hetze und Hass verbreitend weiterlebten und bis ins hohe Alter hin der weltanschaulichen Haltung ihrer persönlichen Glanzzeit treu blieben, mussten die eigentlichen Widerstandskämpfer und mit ihnen ungezählte andere aufrichtige Deutsche, die an dem politischen Umsturz mitgewirkt hatten, ihr Leben lassen, während ihre Familien in Sippenhaft genommen und lange diskriminiert wurden. War das gerecht? Nach Remers Putschvereitelung forderten die kommenden Monate des fortgesetzten Krieges an allen Fronten mehr deutsche Opfer als die Kriegsjahre seit dem Ausbruch.
Etwas von dieser schier unbegreiflichen Tragik rollte in meinem Gedächtnis ab, nach Szenen, die ich aus Büchern kannte, aus Dokumentationen und vom Bildschirm. Viel Mut war bewiesen worden in einem Aufstand des Gewissens gegen massives Unrecht: Ich sah Trott zu Solz’ entschlossene Selbstbehauptung gegenüber dem Scheusal Freisler, und sah, wie Erwin von Witzleben von derselben Bestie in Robe niedergeschrieen wurde.
Das Bildnis Dietrich Bonhoeffers einsam in der Zelle sitzend, drängte sich mir auf, ein Christ vor Gott, in Gebete, in Verse vertieft, Zeilen eines geistigen Vermächtnisses aufsetzend, den Blick voller Zuversicht zum Himmel erhoben.
Miserere domine!
Und dann hörte ich erneut, klar wie die Posaunen von Jericho, die leitmotivische Mahnung des Claus von Stauffenberg:
Es lebe das geheiligte Deutschland!
An diesem Ort verblutete das andere Deutschland; seine Edelsten und Besten ließen hier ihr Leben im bewussten Opfergang für das gesamte deutsche Volk, um ihm, dem geopferten Phönix, nach dem Zusammenbruch eine Reinwaschung zu ermöglichen von den Menschheitsverbrechen, in die es der dämonische Diktator Hitler gestürzt hatte und ein österliches Wiederauferstehen.
Doch war Stauffenbergs Tat repräsentativ für den deutschen Widerstand gegen Hitler kein letztes müdes Aufbäumen kurz vor dem Untergang, als das Gewissen gegen das maßlose Unrecht und Leid aufbegehrte, sondern eine bewusste Gegnerschaft, ein luzider Widerstand gegen ein totalitäres System, der von frühester Stunde an da war und konsequent durch gehalten wurde – bis in den Tod.



Foto: Carl Gibson

Die Dichter und Denker blicken oft weg, wenn Urecht geschieht - damals ...
 und heute?


Es entspricht nicht der historischen Wahrheit, wie vor allem im Osten Europas immer wieder behauptet worden war, das gesamte deutsche Volk hätte geschlossen hinter Hitler gestanden, es hätte seine Aggressionspolitik mitgetragen, sein Hegemoniestreben, seinen Imperialismus; und es hätte seine Verbrechen gedeckt.
Richtig ist, dass es aus dem deutschen Volk heraus einen höchst beachtlichen Widerstand gegen Hitler gab – und dies von Anfang an aus Prinzip, lange noch bevor die schlimmen Wahrheiten bekannt wurden.
Wie vom Teufel persönlich beschützt, überlebte der Führer vierzig Anschläge! Eine makabre Groteske des Zufalls, eine Undenkbarkeit! Und Ceauşescu, dem wir kleine Dissidenten nichts entgegen zu setzen hatten, was mit der Operation Walküre vergleichbar gewesen wäre? Keinen!
Doch vom systematischen Kampf gegen Hitler wusste selbst ich, der historisch interessierte Europäer, der westliche Medien auswertete, wenn sie erreichbar waren, im fernen Banat fast nichts.
Erst späte westliche Quellen und die intensive Beschäftigung mit der Materie über Jahre erschlossen mir die volle Dimension des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, der von allen Teilen der Bevölkerung getragen wurde, vom einfachen Mann aus den Volk wie Georg Elser im Münchner Bierkeller bis in die Spitzen der Wehrmacht zu Persönlichkeiten wie General Ludwig Beck, dem Gehirn des versuchten Staatsstreichs vom 20. Juli.
General Beck durchschaute die kriminellen Machenschaften Hitlers schon sehr früh und setzte seit 1938, also noch vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei, alles daran, den Widerstand gegen Hitler zu fördern, um den Diktator von der Macht zu entfernen. Die Generalität unterstützte ihn – nur England zögerte, als um Mitwirkung angesucht wurde. Wenn wir euch gegenüber so aufrichtig gewesen wären wir ihr im Gespräch mit uns, dann hätten Hitlers imperialistische Expansion, der Zweite Weltkrieg und mit ihm 55 Millionen Opfer vermieden werden können, bekennen die Briten heute offenherzig. Sie haben ihre moralischen Hausaufgaben inzwischen fast erledigt und einiges zur Vergangenheitsbewältigung beigetragen.
Auf andere kommt dieser Komplex noch zu – auch auf die Rumänen!
An dieser matten Stelle in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin starben für ihr Vaterland – aus einer ethischen Überzeugung und tiefer protestantischer Gesinnung heraus – innerhalb von Monaten fast dreitausend Menschen. Unter den Opfern waren auch herausragende Repräsentanten der militärischen Elite: Erwin von Witzleben und Karl Heinrich von Stülpnagel. Sie opferten ihr Leben für höhere Werte, für Gerechtigkeit, politische Freiheit und Vaterlandsliebe.
Erwin von Witzleben war als Generalfeldmarschall der ranghöchste Soldat, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde, nachdem sie auch ihn, den General der noch vor Jahren als erster jene verhängnisvolle Vereidigung der Wehrmacht auf den Führer durchgeführt hatte, öffentlich degradiert, vor den Volksgerichtshof gezerrt und in einem schäbigen Schauprozess, ohne Hosenriemen der Lächerlichkeit preisgegeben, entwürdigt, beleidigt und gedemütigt hatten.


Foto: Carl Gibson

Das KZ-Gelände von Buchenwald - Locus terribilis, 
Ort des Grauens,
Ort des Schreckens,
ort des Verbrechens,
die Diktaturen mahnen. 

Erwin von Witzleben, dessen Stammbaum bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, ging bereits 1934 auf Distanz zu Hitler. Die Ermordung Ernst Röhms auf Befehl Hitlers, wobei Teile der Wehrmacht mit involviert und somit instrumentalisiert wurden, sowie die ebenfalls von Hitler angeordneten und öffentlich im Reichstag verteidigten Ermordungen der Generale von Schleicher und von Bredow bei krasser Hinwegsetzung über die geltenden Gesetze hatten ausgereicht, um diese Haltung, die er mit General Beck, General von Stülpnagel, mit Henning von Tresckow und anderen oppositionellen Militärs teilte, herbei zu führen.
Erwin von Witzlebens Plan, den Usurpator Hitler bereits 1938, also zu einem Zeitpunkt von der Macht zu entfernen, als Europa noch nicht an allen Ecken brannte, scheiterte an einem dummen Zufall der Geschichte – an der Beschwichtigungspolitik der Engländer, am Appeasement Chaimberlains und dem verhängnisvollen Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei dem Diktator auslieferte und ihn mit diesem - so genannten diplomatischen - Erfolg nach innen hin stärkte; der Opposition hingegen jeden Wind aus den Segeln nahm. General Halder und von Witzleben konnten bei entsprechender politischer Kulisse ihren Plan, Hitler verhaften zu lassen nicht durchsetzen. Die späteren Blitzkriegerfolge in Polen und Frankreich erzielten den gleichen Effekt und zementierten noch den Mythos der Unfehlbarkeit.
Auch der gemeinsame Plan General von Stülpnagels, damals Oberkommandierender der Wehrmacht in Frankreich, und von Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der die Abwehrmaßnahmen einer drohenden Invasion am Kanal koordinierte, Hitler zu einer Besichtigung der Wehranlagen nach Westfrankreich zu locken, um ihn dort durch loyale Truppen der Wehrmacht verhaften zu lassen, scheiterte an einem dummen Zufall. Hitler, der bis dahin immer wieder Gründe finden konnte, nicht nach Frankreich zu reisen, blieb endgültig fern, nachdem eine nach England gelenkte V 1 versehentlich im Abwehrgebiet einschlug.


Foto: Carl Gibson

Hier ermordeten NS-Schergen der Kommunist Ernst Thälmann.

Nach dem gescheiterten Staatsstreich von 20. Juli nahmen sich General von Beck, Generalfeldmarschall Rommel, Henning von Tresckow und andere Mitverschwörer selbst das Leben, nicht zuletzt, um keine anderen Mitwisser in drohenden Verhören zu belasten. 
Heinrich Karl von Stülpnagel richtete seine Pistole an die Schläfe und schoss sich durch den Kopf. Er überlebte schwer verwundet – und wurde wahrscheinlich noch von der Gestapo gefoltert bevor er in dieser Halle an diesem Haken wie ein Strauchdieb erhängt wurde.
Wie er starb hier, wo meine Füße ruhten, der andere aufrechte Soldat, der nach einem Umsturz die Führung der Wehrmacht übernommen hätte: Erwin von Witzleben.

Wie viel menschliche Größe war hier verrauscht, hier vor mir?
Wie konnte ich alle würdigen und die Erinnerung an ihre altruistischen Taten wach halten? Und das große Aufbegehren jedes einzelnen Opponenten, jedes offenen Regimekritikers ins rechte Licht rücken? Die Taten von Tausenden, die gegen das Unrecht aufstanden und ihr Leben hingaben, um es zu beseitigen?
Wo war jetzt die heitere Gelassenheit eines Dietrich Bonhoeffer, der mit Gottvertrauen zuversichtlich in den Tod ging, in der Hoffnung auf das wahre Leben? Tragische Betroffenheit überkam mich – und ein spätes Schaudern vor der Dämonie des Bösen, auf die ich keine Antwort fand.

Wie viele einfältige Leute hatte ich über das Böse plaudern hören, philosophisch abstrakt und ironisch wie Mephisto in Faust. Das Böse der Geschichte war echt und immer noch real. Gleichzeitig spürte ich aber auch etwas von der Macht des Ethos, das über Jahre aufrechterhalten und von ganz unterschiedlichren Charakteren vorgelebt wurde.
An solchen Taten verblasste das eigene Tun.
Doch die Botschaft der Geschichte ist eindeutig – der Mensch muss in jeder Situation am Humanum festhalten und alles menschenmögliche tun, um es zu beschützen. Die Würde des Menschen, Freiheit und Gerechtigkeit sind Grundwerte, die über allem positiven Recht angesiedelt sein müssen – auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Die Verfassung der Bundesrepublik ist eine nationale Antwort darauf – die Charta der Vereinten Nationen die Antwort der Völkergemeinschaft.
Wir hatten auch einiges erlebt in unserer Auseinandersetzung mit dem repressiven System einer Diktatur. Doch was waren unsere Erlebnisse gemessen an der Tragik, die an dieser Stelle kulminierte und im Vergleich mit dem Grauen in den Konzentrationslagern mit dem millionenfachen Tod, Leid und Schrecken, der sich im Anonymen und Namenlosen vollzog?
Das Böse hatte wieder einmal über das Gute und Gerechte triumphiert. Und das Feige über Mut und Tapferkeit! Die gesamte Weltordnung schien für alle Zeiten erschüttert. Wie schwer war es doch, in kritischer Zeit aufrecht zu gehen?
Vor dem schweren Gang an den Unort hatte ich mir eine Liste besorgt – schon wieder eine Liste - mit den Namen der Beteiligten des nationalen Aufstandes vom 20. Juli 1944, die für die Sache der Freiheit ihr Leben hingegeben hatten. Darunter waren viele illustre Persönlichkeiten bis hin zu legendären Gestalten wie Feldmarschall Erwin Rommel. Jede von ihnen wirkte als Vorbild. Und jede von ihnen verdient eine würdige Auseinandersetzung. Denn hinter jedem individuellen Einsatz für Freiheit und Demokratie bei Preisgabe des eigenen Lebens steht eine schwere Gewissensentscheidung, ein Golgotha-Erlebnis, zu dem in schwerer Zeit nur die wenigsten Menschen fähig waren.
Noch einmal sah ich zu den Haken hin und erkannte dort die Gnade meines Schicksals durch die späte Geburt. Wäre das Baumeln dort am Haken mein Los gewesen, wenn ich einige Jahrzehnte früher gelebt hätte? Wie hätte ich mich entschieden? Hätten mein Patriotismus und mein Ethos ausgereicht, um dort zu hängen?
Berechtigte Zweifel kamen auf … Wir hatten es einfacher! Wir wussten, wo wir zu stehen hatten und wo wir standen! Dafür musste ich dankbar sein. Die Zweifel an der eigenen Festigkeit wurden deutlicher, je mehr ich über die innere Entscheidungssituation der Widerständler nachdachte. An ihrer Entschlossenheit verblasste die meine. Als ich ging, ging ich in tiefer Betroffenheit, doch unerfüllt über den Verlauf der Geschichte.

Auszug aus dem Werk: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceausescu-Diktatur. 2008.


Foto: Monika Nickel

Auf den braunen Totalitarismus folgte der rote - Reste der "Berliner Mauer", 
entdeckt: 
1000 Kilometer südlich der deutschen Hauptstadt
irgendwo in Südbaden - sie erinnern und mahnen.

Die Opfer der beiden Diktaturen auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert sollen nicht umsonst gewesen sein. 


Dort, wo die Würde des Menschen bedroht wird, ist Widerstand angesagt - überall, weltweit.



Mehr zum Thema Kommunismus hier:

Carl Gibsons neues Buch

zur kommunistischen Diktatur in Rumänien -

über individuellen Widerstand in einem totalitären System.





Allein in der Revolte -

im Februar 2013 erschienen.

Das Oeuvre ist nunmehr komplett.
Alle Rechte für das Gesamtwerk liegen bei Carl Gibson.

Eine Neuauflage des Gesamtwerks wird angestrebt.


Carl Gibson

Buchrückseite





Fotos von Carl Gibson: Monika Nickel

©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.

  

 

Nikolaus Lenau


Welke Rose

In einem Buche blätternd, fand
ich eine Rose welk, zerdrückt,
und weiß auch nicht mehr, wessen Hand
sie einst für mich gepflückt.

Ach, mehr und mehr im Abendhauch
verweht Erinnerung; bald zerstiebt
mein Erdenlos, dann weiß ich auch
nicht mehr, wer mich geliebt.





Unter Rosen

Manchmal machte ich im Rosarium Station, in jenem beschaulichen Rosengarten mitten in der Stadt, wo alte Menschen die letzten Sonnenstrahlen genossen und wo junge Verliebte eng umschlungen ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Der Rosengarten war der rechte Ort, um Einkehr zu halten, um die Stille zu genießen, um durchzuatmen und dem Gang der Gedanken folgen; auch um zu lesen oder um nur allein zu sein und um selbstvergessen vor sich hin sinnend manche kontemplative Stunde zu verbringen. Das Rosarium, ein gartenähnlicher Park mit unzähligen Rosen, das man auch aus anderen Rosenstädten kennt, aus Eltville am Rhein, aus Weltbädern wie Baden-Baden, Bad Kissingen oder Bad Mergentheim, war bereits in der Vorkriegszeit angelegt worden – mit mehr als tausend Rosenarten. Etwas von der früheren Pracht war immer noch da und erinnerte an rosigere Zeiten.
Eigentlich war ich unter Rosen aufgewachsen, wenn auch nicht auf Rosen gebettet. Wir hatten viele daheim im Vorgarten, wilde Feldrosen ebenso wie edelste Hybride aus England. Sie waren immer schon da und wurden gehegt und gepflegt – purpurne und samtrote, mehrfarbige und weiße Rosen, auch Strauchrosen und Heckenrosen, die im Konkurrenzkampf mit den ebenfalls sich hinauf schlingenden Reben, bis zum Dach emporkletterten und einen Teil des Hauses in ihrem grün-roten Teppich verhüllten. Die Rosen waren ein natürlicher Teil unseres Lebens und wurden, wie jeder zur Selbstverständlichkeit gewordene Wert, gerade von uns jungen Menschen nicht angemessen gewürdigt. Nie hatte ich daheim über Rosen nachgedacht und übersah sie, wie ich vieles andere von Wert auch übersehen hatte. Rosen sollten nicht nur wahrgenommen werden. Es gilt vielmehr, sie zu entdecken. Sie in ihrer Wesenheit im Bewusstsein aufzunehmen, in ihrer ästhetischen Vollkommenheit mit ihrem Duft, der ihr Wesen mit bestimmt. Erst im Rosengarten fand ich die Zeit und Muße, diese besonderen Pflanzen zu betrachten, ihr Bild zu erfassen und ihr Sinnbild. Die Rosen vor meinen Augen waren schön; sie verströmten ein mildes Parfüm – und sie waren zart und zerbrechlich wie alle Rosen.
Rosen blühten auf und welkten schnell dahin. Am gleichen Strauch sprossen sie und starben. Sie verglühten im Strahl der Sonne. Wie wir. Wie wir am Leben zerbrachen, ohne es voll ausgekostet zu haben. Rosen sind das Sinnbild unseres Lebens! Welcher Dichter hatte sie nicht besungen? Welcher Denker hatte nicht über sie nachgedacht? Welche Kultur hatte sich der Rose verschlossen? Könige hatten sich ihrer erfreut und Kaiser! Zu allen Zeiten wurden üppige Rosengärten angelegt. Rosen prägten das Bild der Städte und den Hof auf dem Land. Wie die Reben standen sie für Kultur. Auch im Banat. Ob es auch Orte gab, wo keine Rosen blühten? Orte, wo ihr Duft noch unbekannt war und der Reiz ihrer milden Feinheit? Lieder kündeten von ihr auch als Symbol, selbst als Symbol der Heimat. Gelegentlich hatte ich Vater dabei beobachtet, wie er, der Gärtner aus Leidenschaft, mit den zarten Pflanzen umging, mit den Schönheiten, die auch Dornen hatten. Dann merkte ich, mit wie viel Liebe er diese Blumen umhegte, die ihm mehr zu bedeuten schienen als manche Menschen. Er kultivierte seinen Rosengarten wie Candide, nachdem er seine existenziellen Erfahrungen gemacht hatte, in stiller Kontemplation wie ein Mönch seinen Kräutergarten.
War dies die Quintessenz seiner Existenz, nach den Erfahrungen der fünfjährigen Deportation als deutscher Volkszugehöriger? Auch der meinen? Oder der Existenz überhaupt? Was bleibt übrig, wenn alle Erfahrungen gemacht, alle Leiden durchlitten und alle materiellen Werte verloren sind? Der liebevolle Umgang mit dem Schönen – die reine Anschauung? Doch war das Leben in der Pflanze wirklich besser aufgehoben als auf der höheren Entwicklungsstufe, im Menschen? Hatte es sich in die falsche Richtung entwickelt? Von Reflexionen verleitet, schlenderte ich durch den Rosenpark, durch ein Meer von duftenden Rosen; schneeweiße, rosenrote, gelbe und gestreifte Rosen, ganze Rosensträucher wie bei Dornröschen boten sich dar, verschwenderisch wie ein Luxus der Natur – erst hier, wo ich die Muße fand, mich betrachtend in die Natur zu vertiefen, ohne von den Wirren der wilden Außenwelt abgelenkt zu sein, entdeckte ich die wahre Rose: die Idee der Rose, von der schon Platon sprach – und hinter ihr die Emanation aus der Idee: die Symbolkraft der Rose.
War es ein Zufall, dass sich die mich immer schon faszinierenden vier Elemente, die ich nie aus dem Bewusstsein verlieren wollte, gerade in der Rose harmonisch vereinten, im alchemistisch mystischen Prozess, wie ihn die Begründer des Rosenkreuzertums empfanden? Neben dem Kreuz wurde die Rose zu einem vielschichtigen Sinnbild, das mich durch die Jahre der Opposition und durch das Leben begleitete, ohne dass ich damals etwas von den naturphilosophischen Schauungen jener Mystiker geahnt hätte. Als Repräsentant der aufgeklärten Zeit und der Naturwissenschaft scheute ich damals jede dunkle Mystik, jede Form der Geheimnistuerei und Geheimbündlerei, selbst das Freimaurertum, weil es noch geheimer war als frei. Im Rosarium erkannte ich vielmehr den schönen Ort, der angenehm und zugleich verschwiegen war. „Sub rosa dictum“ – das galt hier an diesem stillen Ort, wo der eigene Genius regierte und wo manches Gespräch geführt wurde, nur bis zu einem gewissen Grad. Wir waren zwar immer noch belauscht – mit „Ohr und Blick“. Doch unsere Gespräche, die vielleicht konspirativ anmuteten, waren im Grunde weltoffen und konkret sozialkritisch ausgerichtet. Die Pracht des Angenehmen und Nützlichen signalisierte auch Weltoffenheit. Die Rose stand, über die Verschwiegenheit, Keuschheit und Reinheit hinaus, für Licht und Leben, für Optimismus und Aufbruch. Sie war deshalb auch das Symbol einer neuen Zeit; des „wahren Sozialismus“, der eigentlichen Humanität, von welcher auch die Freimaurer träumten.
Die Assoziationen, die Rosen in meinem Gedächtnis wachriefen, je tiefer ich ihrer Symbolik auf den Grund gehen wollte, waren vielfältig und chaotisch wie der Wandel der Sinnbildlichkeit in der Zeit und reichten zurück bis in die Welt frühkindlicher Wahrnehmung, bis in die Bereiche des Unbewussten. Düfte waren ebenso tief verwurzelt wie Farben, viel tiefer als Begriffe.
Als Kind hatte ich einst ein blutrünstiges Spektakel am Bildschirm verfolgt, ein Szenario von erhabener Schönheit und nackter Brutalität in der Serie: „Der Krieg der Rosen.“ Dargestellt wurde dort in bester Theatralik ein authentischer Machtkampf im alten England, ein langwieriger und vernichtender Krieg zwischen den Häusern York und Lancaster im Namen und unter dem Emblem der „Roten Rose“ und der „Weißen Rose“ – mit einer Handlung, von der mir bald nur noch das Bild rollender Köpfe im Gedächtnis haften blieb und ein unendlicher Strom von Blut, dessen rote Farbe ich so deutlich sah wie die Leuchtkraft der Rosen, obwohl das damalige Medium noch keine Farben wiedergeben konnte.


In Memoriam „Weiße Rose“


Und dann … waren da nicht noch ganz andere Köpfe, die rollen mussten?
Im fernen Berlin?
Weil der Führer es befohlen hatte?
Köpfe von Friedfertigen, von reinen Pazifisten, die gegen Krieg und Vernichtung aufstanden und für eine Idee: für die Idee der Freiheit? Und für die Vorstellung von einem „freien, ehrenhaften, würdevollen Deutschland“?
War da nicht eine ganz andere „Weiße Rose“?
Ein Symbol des Kampfes gegen übelste Tyrannis!
Ein Symbol des Widerstands! Des Aufbegehrens des Gewissens, des aufrechten Bürgers gegen maßloses Unrecht!
Ein Sinnbild des Widerstands gegen den mit Abstand größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte, gegen Hitler, und gegen das System des Nationalsozialismus in Deutschland?
Was wusste ich von den Geschwistern Scholl aus Forchtenberg am Kocher? Von Hans und Sophie? Von ihren geistigen Mistreitern Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell. Von ihren zahlreichen Unterstützern aus München?
Es waren junge Leute in meinem Alter, die aufgestanden waren und vom Gewissen getrieben friedlich gegen ihr totalitäres Regime opponierten, nachdem sie dessen verbrecherische Politik und Kriegsführung teilweise aus eigenen Anschauungen an der Front kennengelernt hatten. Der verbrecherische Vernichtungskrieg im Osten hatte sie veranlasst, andere Mitbürger aufzuklären und zum „Widerstand gegen Hitler und seine Handlanger“ aufzurufen. Ihr Schlüsselwort war Freiheit! Sie war ihr moralischer Antrieb und der Motor ihres Gewissens!
Nachdenklich saß ich auf einer Bank und blickte konsterniert in die Zeit … Noch wusste ich nicht viel über den „Widerstand gegen Hitler“. Nur das Wenige, was ich den Nachrichtenmagazinen entnommen hatte. Noch spärlicher waren meine Informationen über die anderen Attentatsversuche auf den zynisch diabolischen Diktator, von Elser bis zu Claus von Stauffenberg; vom Kreisauer Kreis bis hin zu Heros Erwin Rommel und der zwielichtigen Gestalt von Admiral Canaris. Doch war mir bewusst, dass „unzählige andere anständige Deutsche“ mit aufgestanden waren, um auf ihre Weise früher oder später zu handeln; und dass sie als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und gegen die Hitlerdiktatur im Dritten Reich verfolgt, abgeurteilt und ermordet worden waren. Das genügte mir, um an eigene Aktionen zu denken. Nur war ich noch weit davon entfernt, die Tragweite der Handlungen des „Widerstands“ zu erfassen. Damals sah ich die deutsche Widerstandsbewegung im Chor der vielen Freiheitskämpfer aller Zeiten, ohne den besonderen Charakter der Taten zu erkennen. Die Reife der Durchdringung und ein ausdifferenziertes, vertieftes Geschichtsbild fehlten mir noch. Doch die Vorbildfunktion der Widerstandshelden stand fest. Deshalb wollte ich nicht zurückstehen.
Auch wir lebten in einer Diktatur, deren selbstgefälliges Walten so nicht hingenommen werden musste. Die Freiheit war ein Wert, der einem nicht so einfach zufiel wie eine reife Frucht vom Baum. Sie war fern wie ein Edelweiß an steiler Felswand und versteckt hinter spitzen Dornen. Sie zu erlangen erforderte Leidensfähigkeit und Mut – Aktion und Passion. Hatte ich diese Eigenschaften?




Das Kreuz und die Rose

Sachte näherte ich mich einem Rosenstrauch aus Purpur und sah dem Wachstum zu. Es ist erhaben zu sehen, wie etwas wächst, wie erste zarte Blätter ausgeformt werden, nach dem Plan, den die Natur vorgegeben hat; wie sich Knospen bilden und aufbrechen; wie sich die Blüte öffnet und ihr Parfüm verströmt, ihren natürlichen Duft, den kein noch so meisterhafter Parfümeur nachahmen kann. Wachstum hat etwas Erhebendes, in der Pflanze wie im höheren Leben.
Wehmütig bückte ich mich leicht hinab und sog den Duft einer gerade sich öffnenden Knospe ein, lange und tief wie etwas, was man aufnimmt, um es nie wieder preiszugeben. Die Süße drang in mich wie Ambrosia, wie eine Speise der Götter, die Geistiges nährt. Das war etwas, was noch intakt war in einer kaputten Welt.
Ja, die Rose war immer schon etwas ganz Besonderes … Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, sagt Benn. Hier war ich allein. An einem „Locus amoenus“, an einem lieblichen Ort, unter Rosen, um mich der „Genius Loci“. Allein mit meinen Gedanken umgeben von dem karminroten Samt einer Heckenrose mit unzähligen Blüten in allen Entwicklungsstufen. Ich pflückte eine davon, die gerade dabei war, zu vergehen, und zerrieb ihre tiefroten Blütenblätter in den Fingern. Sie verfärbten sich blutig und erinnerten an anderes Blut, das geflossen war, vom Kreuz herab und vielfach unter dem Zeichen des Kreuzes bis hin zum Hakenkreuz.
Wo stand ich?
An der Seite der Kreuzritter?
Oder im Lager der Rosenkreuzer?
Oder allein?
Allein in der Revolte – und bald auch im offenen Widerstand?
Die einen kämpften für die Idee des Christentums gegen Juden und Moslems und gegen die eigenen Glaubensbrüder, um eine bestimmte Vorstellung vom Christentum durchzusetzen; mit Mitteln, die in der Zeit lagen und damals legitim schienen, mit dem Schwert wie schon Karl der Große.
Die anderen kämpften an einer anderen Front, im Verborgenen gegen den starren Geist ihrer Zeit, im Geheimen, den stillen Kampf des Verstandes, dessen Taten nicht gleich offensichtlich wurden. Viele Denker, die ich bewunderte, wurden zu ihnen gerechnet. Francis Bacon, Giordano Bruno, René Descartes, Johannes Kepler und Baruch Spinoza waren nur einige illustre Namen von Hunderten, die sich unter „das Kreuz und die Rose“ scharten, um in diesen Zeichen mit der Kraft des Geistes ihr humanistisches Werk zu vollenden. Es waren allesamt frühe Aufklärer, Reformatoren ihrer Zeit, die die gespaltene Welt am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges zum Positiven hin verändern wollten. Es waren freigeistige, antiklerikale Denker, die der institutionalisierten Kirche und dem Papsttum ebenso kritisch begegneten wie der Reformator Martin Luther.
Antiklerikalismus unterm Kreuz?
Das war kein Widerspruch! Auch mein Protest hatte sich unter das Kreuz geflüchtet. Das fühlte auch ich. Die Wege unterm Kreuz waren so vielfältig wie das Ringen um die Ideale des Kreuzes. Was assoziierten die Rosenkreuzer mit dem goldenen Kreuz und der roten Rose?
Das Kreuz symbolisiert den Menschen, der aufgerufen ist, sich in seiner Wesenheit zu überprüfen und so zu hinterfragen, dass er sich von der niederen, unedlen Stufe zu einem aufrechten, höher stehenden edlen Menschen entwickelt.
Spätere Freimaurer wie Haydn, Mozart, Lessing und universale Geister wie Goethe bis hin zu Thomas Mann haben diesen Weg zum „Humanum“ hin in dieser Tradition gesehen. Die Rose hingegen symbolisiert die Seelenessenz, bei der die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft im Einklang stehen. Ich sah die Dinge nüchterner in intuitiver Ablehnung des Esoterischen und Okkulten und erkannte in den beiden Symbolen lediglich sehr „alte Sinnbilder der Menschheit“, die ihre Geschichte durch die Jahrtausende bestimmt hatten.
In Lenaus Lyrik hatte ich Spuren einer Rosenkreuzerrezeption gefunden, die vermutlich auf den Umgang mit dem Theosophen Franz von Baader zurückzuführen waren und gedanklich zu Rudolf Steiner hinführten, zu Steiner der über das „Kreuz und die Rose“ geschrieben und eine „Philosophie der Freiheit“ verfasst hat. Mir genügte jedoch seinerzeit die allgemein verständliche philosophische Botschaft der beiden Symbole, die mir persönlich in meiner gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine wertvolle Orientierung boten.
Für mich avancierte das Kreuz zum Kampfsymbol im weitesten Sinne, ohne es vollständig vom Religiösen zu lösen, während die Rose den Rückzug in das eigentliche Menschsein, in Schönheit, Liebe und Humanität, darstellte. „Freudig kämpfen und entsagen“ – ein Motto, das die angebetete Geliebte dem liebend leidenden Lenau vorgegeben hatte. Also war auch ich bereit, meinen Kampf zu kämpfen: für die Kunst und die Welt dahinter. Das „Rosarium“ wurde zum Rückzugsort und gleichzeitig zum Ort vielfältiger Gespräche, zum Ort der Muße, der Muse und des Dialogs – und die Rose blieb mein Symbol der Hoffnung.

Leseprobe/ Auszug aus: Carl Gibson: Allein in der Revolte




Heckenrose in voller Blüte
















































Rose im wilden Garten

Nikolaus Lenau

Welke Rose

In einem Buche blätternd, fand
ich eine Rose welk, zerdrückt,
und weiß auch nicht mehr, wessen Hand
sie einst für mich gepflückt.

Ach, mehr und mehr im Abendhauch
verweht Erinnerung; bald zerstiebt
mein Erdenlos, dann weiß ich auch
nicht mehr, wer mich geliebt.


































Zum Thema Rosen und Politik:



Kapitel-Auszug (MS) aus:
Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit:


In Genf – oder: Kann die UNO einen Diktator zur Rechenschaft ziehen?


         Frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht. Präambel der Schweizer Verfassung

An den Bahnhof der Stadt kann ich mich heute nur noch vage erinnern. Als Wanderer zwischen den Welten, als interkultureller Emissair, habe ich in all den Jahren so viele Bahnhöfe erlebt, gewaltige und kleine, historische und profane, architektonisch herausgeputzte und verkommene, freundlich heitere und trostlos trübsinnige, dass mein Gedächtnis sie nicht mehr genau auseinander halten kann. Ein Bahnhof hat oft mehr von Abschied als von Willkommen und ist nicht selten verknüpft mit unfreiwilligen Transporten und Reisen ins Ungewisse, mit Trauer und Melancholie. Aber ein Bahnhof ist auch eine Stätte der Beweglichkeit, ein guter Ort, um dem bunten Treiben zu folgen, um nachzudenken. Menschen strömen auf und ab, und Züge fahren hin und her. Auch auf Bahnhöfen ist alles im Fluss, selbst die Gedanken.
Bevor ich auf den brieflich vereinbarten Treffpunkt zusteuerte, wo mein Gastgeber bestimmt schon meiner harrte, ging ich wie gewöhnlich in den ersten Blumenladen in der Vorhalle, um einen Strauß zu besorgen. Bisher hatte ich es immer so gehalten, wenn ich besuche abstattete und wusste, dass eine Dame das Haus führt. Blumen öffnen das Herz und machen Menschen empfänglich.
„Was darf es sein, mein Herr?“ sprach mich ein junges Fräulein an.
„Rosen“ erwiderte ich wie einer, der weiß, was er will. „Fünf weiße Rosen, bitte!“ Die Frau sah mich etwas erstaunt an, denn weiße Rosen wurden wohl nicht oft verlangt, und brachte mir dann fünf kräftige Rosen, die aber nicht richtig weiß waren, sondern eierschalenweiß mit einer leichten Tendenz ins Grünliche. Als ich sie entgegen nahm, verspürte ich sogleich einen leichten Hauch von dem schwachen, süßlichmilden Duft, den sie verströmten. Ja, diese Rosen dufteten noch. Sie sahen makellos aus und so frisch, als wären sie kaum erst geschnitten worden – und sie dufteten. Noch einmal sog ich mit einem tiefen Zug das zarte Parfüm ein, bezahlte großzügig, bedankte mich und ging dann zum Treffpunkt am Hauptausgang.
Diesmal wurde ich warm empfangen. Der Herr im besten Alter, der mich dort schon nervös entgegenfieberte, war von hagerer Statur, hatte dunkle Haare und einen markant ernsten, doch freundlichen Blick. Halb verunsichert kam er auf mich zu, begrüßte mich dann aber mit einer Herzlichkeit, die nur Menschen zusteht, die man seit langem gut kennt. Die gemeinsame Sache einte uns. Er schien vor Tatendrang zu sprühen und wirkte auf mich wie ein hektischer Enthusiast, der die ganze Welt mit einem Ruck aus den Angeln heben will. Man sah es ihm gleich an, dass er ein geradliniger und pflichtbewusster Charakter war, ein Mensch für den, im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitgenossen, der höhere Zweck mehr zählte als die Bestreitung des trivialen Alltags. Er hieß Ganea. Sein Vorname war Ion. Viele Rumänen führen diesen Vornamen. Wie hätte er denn sonst heißen sollen? Ion entspricht dem deutschen Namen Johann oder kurz Hans, der als Taufnamen bei den Deutschstämmigen im Banat genauso häufig herhalten musste wie Ion bei den Rumänen. Stammte ich nicht selbst aus einer Sippe, die mütterlicherseits seit fünf Generationen diesen Vornamen kultivierte, so als ob keine weiteren Namen auffindbar gewesen wären. Mein Urgroßvater, ein k.u. k. Soldat, der bereits 1922 an den Folgen des Kriegseinsatzes starb, hieß Johann oder populär Hans. Sein Sohn, mein Großvater hieß Hans. Und dessen jüngerer Bruder, streng nach dem Namen des Paten getauft, wurde auch Hans gerufen; ebenso wie sein Sohn Hans hieß. Gott sei Dank, bekam mein Bruder den viel verbreiteten Vornamen Jahre vor mir ab – wie das halbe Dorf - und bewahrte mich davor. Das war die Gnade der späten Geburt, die auch noch andere Vorteile mit sich bringen sollte. Mehr zufällig als gezielt erhielt ich einen königlichen Namen, der mir imponierte, weil er nobel klang und weil er dort selten und damit unverwechselbar war. Später hörte ich selbst noch die Namen Hans Hans und Ion Ion als ultimative Steigerung und Gipfel der nominellen Phantasielosigkeit. Dahinter stand die Macht der Tradition, die so einfach nicht zu durchbrechen war. Durfte ich mich da wundern?
Als 1990, wenige Monate nach der Revolution, in Rumänien erstmals wieder freiere Wahlen abgehalten werden konnten, forderte Ion Ratiu, ein Exilpolitiker, der von London ausgewirkt hatte, den Postkommunisten Ion Iliescu heraus. Und Stelian Diaconescu, ein Dichter von europäischem Format, entschied sich für das Pseudonym Ion Caraion, was genau in meinen Ohren genau so witzig klang wie Ilie Pintilie, ein heute etwas vergessener Revolutionär aus dem Geschichtsbuch. Ion ist ein archaischer Allerweltsname, dessen Ursprünge auf den Evangelisten zurückgehen und in das orthodoxe Griechentum hineinreichen. Wohl deshalb führt die halbe Nation der Rumänen diesen Namen. Die anderen tragen mit Vorliebe die Namen berühmter Urahnen, die teils von bedeutenden Cäsaren abgeleitet sind wie: Traian, Adrian, Claudiu, Tiberiu, Marcu, Marius, Cesar oder aus denen römische Geistergrößen hervorleuchten wie Virgil, Liviu, Ovidiu, Cicerone und andere mehr, um so, nach Ion Luca Caragiale, als waschechte Rumänen zu gelten und auf die antike Herkunft der an sich noch jungen Nation zu verweisen. Dahinter verbirgt sich eine Art historischer Komplex der Spätgeborenen, der die Zeiten überspringen und die spät geformte nationale Identität durch eine edle, über zwei Jahrtausende zurückreichende Herkunft kompensieren will. Nach Decebalus, ihrem geto-dakischen Ahnherrn, oder nach Burebistas, der das Dakerreich vom Pontus bis nach Makedonien ausdehnte, wurde merkwürdigerweise kaum jemand benannt; auch nicht nach Caligula und Nero oder nach dem noch edlen Diktator Sulla Felix, der in Mozarts Oper Sila heißt. Gerade nationalistisch orientierte Rumänen akzentuieren in der Nachfolge ihres historiographischen Übervaters Nicolae Iorga immer wieder ihre romanische Herkunft und ignorieren dabei gern die Tatsache, dass ihre gegenwärtige Hochsprache erst im 19. Jahrhundert auf der Grundlage des Französischen und des Italienischen durch das Einfügen zahlreicher Wörter erweitert und reformiert wurde, ohne dabei etwa ein Drittel des alten Wortschatzes slawischen Ursprungs verleugnen und ausmerzen zu können.
Wie ich bald feststellen sollte, spielten bei Ion Ganea nationalistische Überlegungen keine übergeordnete Rolle. Er war ein politisch denkender, engagierter Emigrant, der sich als Liberaler verstand. Als solcher hatte er seinerzeit in Bukarest gewirkt, bevor die einzige Partei des Landes, die Kommunisten, nach einem erfolgreich durchgeführten Staatsstreich unter der Regie Moskaus das politische Monopol für sich reklamierten, um die Alleingestaltung der Volksrepublik und später der Sozialistischen Republik zu übernehmen. Jetzt kam es ihm darauf an, Mittel und Wege zu finden, um von Genf aus die Respektierung der Menschenrechte in seinem Heimatland durchzusetzen. Die 1975 in der finnischen Hauptsstadt Helsinki abgehaltene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz KSZE, an welcher seinerzeit auch die Ostblockstaaten teilnahmen und sogar gewisse Verpflichtungen eingegangen waren, hatte diese Weichenstellung theoretisch ermöglicht. Die praktische Umsetzung gewisser Liberalisierungsbestrebungen jenseits des Eisernen Vorhangs jedoch war nach wie vor reine Illusion. Trotzdem war Ion nicht davon abzuhalten, für eine gute, ihm und anderen wichtig erscheinende Sache aktiv zu werden. Er war zweifellos ein Idealist alter Schule – und die Rechtfertigung seiner Existenz bestand im konkreten Einstehen und Handeln für einen höheren Wert. Das Eintreten für ein Ideal, für eine ethische Zielsetzung, für Menschenrechte, für die Ideale der Französischen Revolution, die besonders im Ostblock von den politischen Akteuren zynisch verachtet wurden, verband uns intuitiv. Obwohl es nie ausführlichere Wertediskussionen gegeben hatte, verstanden wir uns auf Anhieb. Damals war ich zwar noch recht jung an Jahren, brachte aber eine natürliche Autorität ein, die auf dem Faktischen beruhte und auf meine mehrjährige, sehr intensive Oppositionstätigkeit zurückging, die für sich sprach. Das individuelle Handeln unter Repressionsbedingungen und der Gestus des weiteren antitotalitären Wirkens auch im Westen zählten mehr als die Person dahinter. Mein oppositionelles Agieren im Land wurde allgemein anerkannt; nicht zuletzt von Ion, mit dem ich seit Monaten über die anstehende Aktion, deren geistiger Urheber er war, korrespondierte und häufig telefonierte. Ion bestach mehr durch eine fast naive Geradlinigkeit, die ihm generell Glaubwürdigkeit verlieh, als durch intellektuelle Prägnanz. Wir kannten uns also schon etwas. Sein Geld verdiente der Liberale, wie manch anderer geschickte Kunsthandwerker in der Schweiz, als Uhrmacher in einer traditionellen Werkstatt. Unmittelbar nach meiner Ankunft bestiegen wir seinen Wagen und fuhren in ein nahe gelegenes Wohnviertel, wo er mit seiner Gattin ein kleines Appartement bewohnte. Kinder hatten sie keine.
Während wir die viel befahrenen Hauptalleen der City entlang fuhren, hatte ich genügend Zeit, die ersten Eindrücke dieser an sich recht kleinen, von ihrem Format her aber wahren Weltstadt aufzunehmen und diese auf mich wirken zu lassen. Nach einem doch etwa stürmisch rasanten Aufstieg aus dem unscheinbaren Provinznest Sackelhausen hatte ich zunächst die nahe Universitätsstadt Temeschburg ausgelotet; dann erlebte ich die erste kleine Metropole Europas, die Hauptstadt des Staates, Bukarest; das gigantische London hatte ich bereits gesehen, die Boulevards von Paris, selbst die Prachtstraßen Amsterdams und einige deutsche Großstädte, darunter München und Westberlin – doch Genf war anders, ganz anders. Es erinnerte mich zwar leicht an Paris und Bukarest wie eine zweite Tochter derselben Mutter - doch Genf hatte etwas eigenes, etwas calvinistisch Kühles, das ich nicht greifen konnte und das sich mir entzog. Die Eisigkeit sagte mir, dass ich hier nicht heimisch werden konnte.
Die Dämmerung wich bereits dem Dunkel der Nacht, die sich langsam über der Stadt ausbreitete. Mir bot sich ein gewaltiges Panorama. Glaspaläste, repräsentative Bauten, Brunnen, Fontänen, von Parks umgebene Villen der Superreichen. Alles war in strahlendes Licht getaucht und verlieh dem Ganzen etwas märchenhaft Romantisches. Die scheinbare Irrealität der Illumination beeindruckte mich wie die poetisch entrückte Welt eines Algabal. Plötzlich riss Ion mich etwas unsanft aus den Träumereien, indem er mir signalisierte, in der unmittelbaren Umgebung von Versoix, wohne der abgedankte König Michael von Rumänien und führe hier am See eine fast bürgerliche Existenz. Seit der erzwungenen Abdankung nach dem Zweiten Weltkrieg lebe König Michael aus dem Hause Hohenzollern im Schweizer Exil. Auch er sei an unseren Aktivitäten interessiert; und höchstwahrscheinlich werde er uns alsbald zu einem Gespräch empfangen. Die Hoffnung auf eine Revision der politischen Verhältnisse in Osteuropa und die Institution einer konstitutionellen parlamentarischen Monarchie in seiner Heimat habe er noch nicht ganz aufgegeben. Interessiert folgte ich Ion Ausführungen, war aber doch recht skeptisch, was die hehren Ziele anging, denn Entwicklungen dieser Art erschienen mir im Jahr 1981 doch sehr unrealistisch.
Deutschland, mein altes Vaterland und neue Heimat, wurde damals von der sozial-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt und Vize Hans Dietrich Genscher regiert. Beide setzten in ihrer Außenpolitik, besonders aber im Verhältnis zu Osteuropa und der Sowjetunion, auf Entspannung, auf Verständigung und auf Wandel durch Handel. Die von Bundeskanzler Willy Brandt begründeten Ost-West-Beziehungen waren nach wie vor ein zartes Pflänzchen, das es zu pflegen galt und das nicht durch übereilte Aktionen zertreten werden sollte. Deshalb fand ich unmittelbar nach meiner Einreise in die Bundesrepublik bei den damals politisch Verantwortlichen weder Echo noch Gehör für die Sache der inzwischen unterdrückten Freien Gewerkschaft SLOMR, nicht einmal beim Deutschen Gewerkschaftsbund. In Großbritannien bestimmte die Eiserne Lady die Richtlinien von Downing Street Nr. 10 und im Weißen Haus war der ehemalige Hollywoodschauspieler Ronald Reagan gerade dabei, den Baptistenprediger Jimmy Carter als Präsident der Vereinigten Staaten abzulösen. Amerika litt seinerzeit unter der so genannten Malaise Carters und war außenpolitisch angeschlagen. Trotzdem war Amerika auf dem Gebiet der Menschenrechte immer noch die paradigmatische Leitnation der Freiheit, zu der die Geknechteten aus allen Teilen der Welt aufblickten. Amerika hatte damals noch eine moralische Stellung inne, die es, kaum zwei Jahrzehnte danach durch das alles andere als weitsichtige Wirken eines einzigen Präsidenten und durch die Verabschiedung vom Völkerrecht vielleicht für immer einbüßen sollte. In der Sowjetunion ging die Ära Breschnew ihrem Ende entgegen. Es folgten aus der Reihe der starren Altherrenriege des Kreml Tschernenko, Andropow und schließlich Gorbatschow. In Rumänien hingegen behauptete sich nunmehr seit 1965 eine Person als Staatschef, Nicolae Ceausescu, ohne dass eine potentielle Personalveränderung denkbar erschien. Der Status quo war unverrückbar starr und erschien für alle Zeiten zementiert zu sein. Der konservativ ausgerichtete Westen setzte weitgehend auf Konfrontation und Tot-Rüsten. Der Osten, inklusiv China, das seine kommende Weltmachtrolle schon vorbereitete, setzte auf Selbstbehauptung. In dieser Konstellation war es nicht einfach zu opponieren und auf Veränderungen zu hoffen. Trotzdem musste es sein, denn es gab keine alternative Perspektive. Vielleicht konnte im Kleinen etwas bewegt werden, was irgendwann große Wirkungen haben konnte. Wenn der ehemalige König Michael noch daran glaubte, das Eis könne brechen, dann wollten wir nicht daran zweifeln, sondern weiterhin aktiv vorgehen und durch unser Tun etwas bewirken.
Ion bewohnte mit seiner liebenswerten Ehefrau, die ich gleich kennen lernen durfte, eine gut bürgerliche Wohnung in einem auffällig sauberen, ruhigen Stadtteil von Genf. Auch die Dame des Hauses empfing mich mit natürlicher Freundlichkeit und Warmherzigkeit, die ich auch noch bei anderen Rumänen angetroffen habe. Ich hingegen verhielt mich zunächst etwas verkrampft, nicht zuletzt deshalb, weil ich unbewusst noch in einem einst exzessiv gelebten Deutschtum gefangen war, das tiefer verwurzelt war als der intellektuelle Humanismus. Leicht gehemmt überreichte ich ihr die Blumen.
„Rosen? Weiße Rosen?“ wunderte sie sich und grinste verschmitzt wie wenn ich rote gebracht hätte. Auch weiße Rosen verwiesen auf Leidenschaft, aber auch auf Reinheit, Trauer und Entsagung.
„Ja, Rosen! Madame!“ antwortete ich mit einem Hauch von Ironie. „Rosen sind ganz besondere Blumen, Madame! Ich habe ein spezielles Verhältnis zu diesen Pflanzen! Sie müssen wissen, dass ich unter Rosen aufgewachsen bin und dass sie mich durch mein ganzes Leben begeleitet haben. Viel Ideelles ist in ihnen und viel vom Schönen dieser Welt!“
„Es sind die Blumen der Liebe!“
„Im weitesten Sinne, Madame. Bei uns in Deutschland assoziiert man noch ganz andere Dinge mit Rosen, mit weißen Rosen… Für manche Leute stehen sie für Anstand, für den aufrechten Gang …und seltener selbst für ein reines Gewissen!“
Wir vertieften die Materie nicht. Die Gastgeberin griff routinehaft nach einer Kristallvase, füllte sie mit Leitungswasser, schnitt die Stiele kürzer und stellte sie in das frische Nass. Dann stellte sie die Vase auf eine furnierte Kommode aus Eiche unweit der Tafel, an der wir bald Platz nahmen. Als wir später beim Abendessen zusammen saßen und bei einem Jurakäse und einem Chasselas aus der Region etwas von den kulinarischen Köstlichkeiten genossen, die die Schweiz zu bieten hat, fiel mein Blick auf die mitgebrachten Rosen, aus deren Hintergrund ein lackiertes Holzkreuz hervor strahlte. Das Kreuz und die Rose durchdrangen sich und verschmolzen zu einer symbolischen Einheit, die mir noch in der Nacht zu denken gab und die Erinnerungen wach rief, Erinnerungen, die tief in die Vergangenheit reichten. Mir wurde ein komfortables Gästezimmer zugewiesen, wo ich in den nächsten Tagen auch meine freien Stunden verbringen konnte. Auch mein leibliches Wohl kam nicht zu kurz. Die Dame des Hauses, die selbst keine Kinder hatte, bemühte sich fast mit mütterlicher Umsorgung darum, dass alles stimmte. Sie war vor allem bestrebt, möglichst gepflegt zu kochen, damit wir auch vornehm tafeln konnten. Etwas savoir vivre war stets dabei – als Hinweis auf die kleinen Freuden des Lebens, die es lebenswert machen. Bei späteren Besuchen, die bis zum Abschluss der Klagevorbereitungen noch erforderlich werden sollten, erlebte ich immer wieder die gleiche, natürlich unmittelbare Gastfreundschaft dieser Menschen. Während dieses mehrtägigen Aufenthalts in Genf lernte ich eine Reihe weiterer Personen kennen, die in der Schweiz oder überwiegend in Frankreich lebten und sich in der Regel als Exilpolitiker betätigten. Sie alle hatten eigene Vorstellungen, wie das politische Wirken im Westen zu gestalten und zu koordinieren sei. Partiell verfolgten sie eigene Interessen - und manche von ihnen sahen sich schon als künftige Mitglieder eines Schattenkabinetts, das nach einem politischen Umsturz in Bukarest seine Arbeit unverzüglich aufgenommen hätte. Für unsere Sache waren diese zahlreichen Politakteure weniger wichtig, mit der Ausnahme einiger weniger Persönlichkeiten, die tatsächlich Einfluss hatten und unserer Mission in der Öffentlichkeit dienlich sein konnten. Unter ihnen war eine etwas ältere Dame, die sich als Autorin und Journalistin betätigte und zahlreiche gute Kontakte unterhielt.
„Ich bin Nicolette Franck“, stellte sie sich mir vor. Sie sprach dann noch über ihre Kindheit und Jugend im Großrumänien der Vorkriegszeit. Sie stammte aus dem jüdischen Zentrum Tschernowitz, in der Bukowina, dessen kulturgeschichtlicher Hintergrund erst mit der breit rezipierten Lyrik Paul Celans, der aus der gleichen Gegend stammte, bekannt wurde. Sie hatte ihre aktive Zeit als Journalistin in Jassy verbracht, in einer Stadt an der nordöstlichen Grenze zur Sowjetunion, wo mein noch in Rumänien weilender Mitstreiter Erwin seinen Militärdienst absolviert hatte. Mehr als vierzigtausend Juden hatte das Jassy der Vorkriegszeit eine Heimat geboten, bevor unter Antonescu Pogrome möglich wurden, die vielen von ihnen das Leben kosteten. Nicolette Franck verkehrte regelmäßig im Haus des ehemaligen Königs Michael. Den Umständen seiner Abdankung hatte sie eine historische Abhandlung gewidmet. In dem seinerzeit taufrisch in Paris erschienenen Buch La Roumanie dans l’ Engrenage; dessen mögliche Edition ich in ihrem Auftrag auch Deutschland ausloten sollte, beschrieb sie auf Informationen aus erster Hand gestützt, wie Michael I., König von Rumänien, von inländischen Stalinisten mit vorgehaltener Pistole gezwungen wurde, das Ausscheiden Rumäniens aus der mehr als vier Jahre andauernden Allianz mit Hitler-Deutschland und der Wehrmacht zu unterschreiben; also nach außen hin einen unfreiwilligen königlichen Putsch zu vollziehen, in welchem auch der bald darauf verurteilte und exekutierte Marschall Antonescu entmachtet wurde. In der deutschen Historiographie, mehr noch im Bewusstsein der weniger genau informierten Allgemeinheit, ist dieser Akt der Kapitulation eher als Verrat interpretiert und empfunden worden – nicht zuletzt von den Volksdeutschen aus dem Banat und Siebenbürgen, die die daraus erwachsenden Konsequenzen bis zum Exodus hin auszubaden hatten. Aus dem abrupten Abfall des Bündnispartners erwuchs möglicherweise ein gewisses Ressentiment, aus welchem das spätere Desinteresse Deutschlands an dem politischen Schicksal Rumäniens zu erklären wäre. Es ist mir aus zeitlichen Gründen leider nicht gelungen, diese Diskussion, die mich auch als Historiker faszinierte, weiter zu verfolgen. Gleichzeitig wirkte Nicolette Franck als Genfer Korrespondentin der Brüsseler Tageszeitung La Libre Belgique. In dieser Eigenschaft sorgte sie dann auch dafür, dass unsere ausführlich geplante und gut vorbereitete Aktion, die rumänische Regierung auf internationaler Ebene zur Verantwortung zu ziehen und zu verklagen, angemessen in der Brüsseler Zeitung veröffentlicht wurde. Da ich der einzige Repräsentant der 1979 in Rumänien gegründeten Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger, kurz SLOMR, war, der im Westen lebte, kam mir die Aufgabe zu, als so genannter porte parole, als Sprecher dieser inzwischen unterdrückten Vereinigung, aufzutreten und die Sache in der westlichen Öffentlichkeit zu vertreten. Dazu war ich geistig wie politisch in der Lage, da ich die Protestbewegung – zumindest in Temeschburg – selbst konzipiert und organisiert hatte. Selbst hatte ich mir die mit vielen persönlichen Risiken behaftete Aufgabe, als anklagender Zeitzeuge aufzutreten, die von einem genuinen Rumänen vielleicht besser hätte wahrgenommen werden können, nicht ausgesucht, sondern ich nahm sie aus einer moralischen Verpflichtung heraus an, wie ich gebraucht wurde – und weil es zu meiner person keine Alternative gab. Flankiert werden sollte ich bei der Klageaktion von Menschenrechtsorganisationen, speziell von der rumänischen Liga für Menschrechte aus Paris, und von Exilgruppierungen demokratischer Rumänen vorwiegend aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Auf der Grundlage meiner authentischen Aussagen über den Ablauf der Gewerkschaftsgründung in Banat sollte ein Dossier erarbeitet werden, eine Akte, in welcher die wichtigsten Menschenrechtverletzungen in Rumänien seit der Verabschiedung der gemeinsamen Charta der KSZE-Konferenz von Helsinki festgehalten wurden, unter besonderer Berücksichtung der Gründung einer freien Werktätigengewerkschaft SLOMR in Rumänien, Monate vor den turbulenten Ereignissen in Polen. Die Gründung von Solidarnosc in Polen, die Ausweitung der Bewegung in Millionen-Mitglieder-Dimensionen und die letztendliche Verhängung des Kriegsrechts unter General Jaruzelski, die gerade in der Realität abliefen, bildeten den geistigen wie politischen Hintergrund dazu.

Mehr zur Thematik auch unter:

http://books.google.de/books?id=ykTjXDg8uycC&pg=PA313&lpg=PA313&dq=carl+gibson+rhapsodie&source=bl&ots=uk12-BovDD&sig=fdvi9QpWohkt8VKvssgupZbLSUA&hl=de&ei=jBZqTrOVHonSsgaKntnmBA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CB0Q6AEwAA#v=onepage&q&f=false





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