Montag, 7. Januar 2013

Aktionsgruppe ohne Aktion! Literarische Dissidenz, Solidarität und Moral im Fall William Totok - Zwischen geistiger Opposition und loyaler Kritik?

Leseprobe, aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit

 

Aktionsgruppe ohne Aktion!

Literarische Dissidenz, Solidarität und Moral im Fall William Totok - 

Zwischen geistiger Opposition und loyaler Kritik?



Das Phänomen ist bekannt. Wenn die Schlachten geschlagen sind und die Sieger feststehen, will jeder auf der Siegerseite sein. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus im Deutschen Reich waren Millionen von NSDAP-Mitgliedern auf einmal nur noch unfreiwillige Mitläufer - und diejenigen, die einst die Straßenseite wechselten, um nicht einen Angehörigen exekutierter Widerstandskämpfer grüßen zu müssen, entpuppten sich selbst als Kombattanten der Alten Ordnung, als redliche Bürger und als Urdemokraten von Anfang an.

In postrevolutionären Rumänien, wo der erste Führer-Lobhudler im Staat postwendend gleich zum ersten Dissidenten in Land avancieren wollte, war es nicht viel anders, nicht weniger grotesk - und genauso heuchlerisch oder, milder ausgedrückt, so allzumenschlich wie sonst wo. Die Feiglinge von heute hatten viel Verständnis für die Feigheiten von gestern. Und weil sie gerne Helden gewesen wären, damals, als es gefährlich war, ein Kämpfer zu sein, wollen sie sich wenigstens heute zu Helden erheben, in vollendeter Selbstmythisierung, wenn es sein muss. Die Welt will betrogen werden! Also helfen wir ihr dabei, den Schein des Scheins aufrecht zu erhalten. Ungeniert wie Păunescu, Tudor und andere ihres Schlages …“

Wer war in Rumänien ein Dissident? Wer opponierte wirklich? Und reicht es schon, einem Anwerbeversuch der Securitate widerstanden zu haben - wie Herta Müller nach eigenen Angaben -um als Widerstandskämpfer zu gelten? Dann hätte es viele Dissidenten gegeben im sozialistischen Rumänien des Diktators Ceauşescu!

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Mit der Lupe hätte man sie suchen können, die Oppositionellen im Land - und wäre kaum fündig geworden. Und die Andersdenkenden unter den Literaten und Künstlern? Da wäre ein Elektronenmikroskop angebracht gewesen, denn so gering war ihre Präsenz im 22 Millionen-Einwohner-Staat!

Als ich seinerzeit im Jahr 1977 in Temeschburg unter den Intellektuellen vor Ort nach geistigen Allianzen suchte, fand ich wenig oppositionelles Potential vor. Und selbst viele Jahre danach, in der analytischen Rückschau, wurde es nicht besser. Wirkliche Dissidenten unter den Kunstschaffenden damals blieben die Ausnahme. Und unter den Kreativen deutscher Zunge war die Situation noch enttäuschender, ja fast nicht existent, wenn man von seltenen Ausnahme-Charakteren absieht, die bekanntlich die Regel bestätigen. Die Details der damaligen Situation, die noch viel Raum für wissenschaftliche Aufarbeitung bietet, beschreibe ich in Gegen den Strom. Die folgenden Kapitel daraus repräsentieren einen essentiellen Auszug, der auch das Verhältnis zu den rumänischsprachigen Autoren und Dissidenten markiert sowie Unterschiede hervorhebt.

Als ich seinerzeit - wie Herakles am Scheideweg angekommen - dabei war, meine künftige Positionsbestimmung vorzunehmen, festigte sich die Gewissheit, dass ich im weitläufigen Bekanntenkreis linksorientierter Literaturschaffender keine politische Heimat würde finden können. Die meisten unter ihnen wollten primär nur Künstler sein, Poeten, Schriftsteller, während ich nach gesellschaftskritischen Charakteren, nach politisch denkenden Oppositionellen und nach potentiellen Widerständlern Ausschau hielt. Darüber hinaus war meine Absetzung von der selbstapostrophierten Avantgarde, die sich aus historischer Sicht und vor allem aus politischer Sicht als nichtrepräsentative Minderheit in einer Minderheit verstand, neben ethischen Kriterien und literaturästhetischen Faktoren von weltanschaulichen Überzeugungen bestimmt, die eindeutig antikommunistischerNatur waren.

Systemimmanente Kritik zu akzeptieren, Anregungsvorschläge aus der Partei, das System selbst zu reformieren, fiel mir 1977/78 sehr schwer, weil ich das kommunistische System selbst weder für verbesserungswürdig, noch für verbesserungsfähig hielt. Der Geschichtsverlauf seit der Oktoberrevolution, in welchem ein totalitäres Regierungssystem in vielen Staaten zum Durchbruch gelangte, sprach dagegen. Im real existierenden Sozialismus sah ich nur die gescheiterte Utopie. Nach meiner damaligen Einschätzung waren die linksorientierten Poeten vor Ort, die, wenn überhaupt, nur sehr zaghaft aufmuckten, keine Dissidentenim eigentlichen Sinne des Wortes - bis auf einen vielleicht. Und nach meinem Empfinden hatten sie bis zu einem gewissen Grad auch moralisch versagt, weil sie den Kommunismus nicht nur als gottgegeben hinnahmen, sondern ihn sogar begrüßten, der Partei zujubelten, sich mit ihr arrangierten und sogar paktierten, um ihre Zwecke, Studium und Publikationen, zu erreichen - und weil sie die verlogene Weltanschauung über ihr Handeln, ja dort, wo es darauf ankam, durch ihr Nichthandeln fast bis zuletzt billigend stützten.

Damals urteilte ich - wie im Fall Berwanger deutlich wurde - aus der radikalisierten, kompromisslosen Sicht des Einzelkämpfers, der konsequent seinen Weg geht, vom Idealismus getragen, geradeaus, auch wenn dieser in den Untergang führen sollte. Für rein existentielles Verhalten hatte noch ich keinen Sinn - bis zu dem Zeitpunkt, wo mir diese Haltung fast zum Verhängnis geworden wäre. Wie gestaltete sich die konkrete und geistige Situation damals in Temeschburg?

Nach mehreren Jahren argwöhnischer Beobachtung hatte der Sicherheitsdienst in der Stadt an der Bega die so genannte Aktionsgruppe Banat 1975 schließlich verboten und aufgelöst - nachdem einige ihrer Mitglieder, unter ihnen auch mein dichtender Nachbar Gerhard Ortinau, zeitweise verhaftet und mehrtägigen Verhören unterzogen worden waren.

Die vermeintlich liberalen Vorgaben des Staates, über alle Themen des täglichen Lebens kritisch berichten zu sollen, von rumänischen Intellektuellen ebenso missverstanden wie von Angehörigen der Minderheiten, waren wohl aus dem Ruder gelaufen und hatten sich selbstständig gemacht. Gegen die verhafteten Linken, die in ihrer Überzeugung und inneren Wahrhaftigkeit vielleicht wirklich linker waren, als es der Staat erlaubte, wurde der plakative Vorwurf erhoben, sie hätten faschistische Literatur verbreitet, nachdem die Securitate bei William Totok ein Exemplar von Hitlers Mein Kampf gefunden hatte, vermutlich ein Propagandarelikt aus der Vorkriegszeit, das die massenhafte Bücherverbrennung im Backofen vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches überstanden hatte.

Im Anschluss an einen einwöchigen Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis der Securitate in Temeschburg mit ausführlichen Vernehmungen waren dann Richard Wagner, der Spiritus rector der Aktionsgruppe, mein poetischer Nachbar Gerhard Ortinauund der landesweit ausgewiesene Literaturkritiker Gerhard Csejka wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Die gegen diese Vierergruppe erhobenen Vorwürfe, unter anderem ein ihnen unterstellter illegaler Grenzübertrittsversuch, die sich als weitgehend absurd erwiesen hatten, waren im Vorfeld fallen gelassen worden.

William Totok hingegen, gegen den anderes Geschütz aufgefahren worden war, blieb weiterhin in Untersuchungshaft, teils im Securitate-Bau, teils im Gefängnis in der Popa Sapca-Straße, ganze acht Monate lang, bis er aufgrund eines aufklärenden Berichtes der französischen Zeitung Le Monde freikam. In dieser Zeit bemühte sich der Securitate-Apparat in Temeschburg darum, William Totok, der einige zeitkritische Gedichte verfasst und in den Westen geschmuggelte hatte, antisozialistische Propaganda vorzuwerfen.

Hauptmann Petru Pele, der Basilisk persönlich, hatte es auf ihn abgesehen, unterstützt von wem? Vom Krokodil natürlich, vom gutmütigen Köppe, der William Totok bereits seit dem Militärdienst im Visier hatte. Der triviale Vorwurf, das Bewusstsein der Leser vergiften zu wollen, der in der gleichen Art schon früher gegen jene fünf Siebenbürger Schriftsteller vor Gericht erhoben worden war, stand nach weiteren sechzehn Jahren sozialistischen Gesellschaftsaufbaus wieder im Raum; zu einem Zeitpunkt, als die scheinbar etwas liberaler gewordene Republik ihr früheres Unrecht bereits eingesehen und die sächsischen Schriftsteller nach mehrjähriger Haft begnadigt und rehabilitiert hatte.

Nach dem gleichen Schema wie damals, als Kollegen gegen Kollegen aussagten, sollten auch diesmal systemloyale Gutachter aus dem akademischen Umfeld der Universität Temeschburg zum subversiven Charakter der Dichtungen Stellung nehmen. Der Staat fürchtete Kritik, selbst die Kritik von links, eben weil er starr und nicht reformierbar war. William Totok, wurde, repräsentativ für die moderaten Kritiker und vielleicht auch zur Abschreckung anderer lyrischer Rebellen, ins Gefängnis geworfen und dort ohne Urteil acht Monate festgehalten, allein auf den Verdacht gestützt, er hätte sozialismusfeindliche Literatur produziert.

Die beiden anderen Studienkollegen, Wagner und Ortinau, aber kamen recht glimpflich davon. Weshalb, fragte man mich damals in der Szene. Wie hatten sie es geschafft, so schnell freizukommen? Wogen ihre literarischen Vergehen weniger schwer als Williams Totoks Poesie?

Das war ein kaum zu durchschauendes Geflecht, eine labyrinthische Angelegenheit, die für Außenstehende damals noch nicht zu entwirren war. Die Securitate, das wusste ich aus eigener Erfahrung, war nicht immer kalkulierbar - und nicht alle ihre Handlungen waren logisch nachvollziehbar. Gerhard hatte mir in unseren nächtlichen Gesprächen zwar einiges angedeutet; doch erst als ich nach vielen Jahren William Totoks Erinnerungen in der Hand hielt, jene Zwänge der Erinnerung, 1988, nach seiner Ausreise, in Deutschland erschienen, sah ich die Dinge etwas klarer.

Selbst heute sind die damaligen Entwicklungen nur zum Teil aufgeklärt, weil immer noch viele Dokumente unter Verschluss stehen und die Securitate – anscheinend unter dem neuen Namen SRI wieder auferstanden und quicklebendig – auch heute noch nach eigenem Ermessen selbst zu bestimmen scheint, wer in ihre früheren Dossiers Einsicht nehmen darf und wer nicht. Einige sonderbare Verhaltensweisen deuten darauf hin, die CNSAS, die dortige Gauck-Behörde, sei eine Institution, die offensichtlich mehr verstecke, als sie offen lege und aufkläre. Nur was war damals wirklich los?

Weshalb musste William Totok, wohl der einzige Poet des Kreises mit einem wirklichen Sinn für politische Veränderung über aktive Opposition und Dissidenz, für alle büßen als armer Sünder am Pranger? Mangelte es im Freundeskreis der Gruppean zwischenmenschlicher und geistiger Solidarität? Hatten die Freunde den in Not geratenen Mitstreiter hängen lassen oder gar belasten müssen? Hatte man sie ausgequetscht, mit Drohungen überhäuft und dann erpresst nach der alten Securitate-Vorgehensweise aus dem stalinistischen Lehrbuch? Oder gab es überhaupt keine Möglichkeit, dem Bedrängten irgendwie zu helfen?

William Totok hatte, wie wir es inzwischen aus Wagners Gesprächen wissen, tatsächlich provokative Lyrik in den Westen geschickt, was allerdings nicht explizit verboten war. Hatte er mit seiner Aktionindividueller und fahrlässiger agiert als andere Mitglieder der Aktions-Gruppe, die sich strenger und präziser an die selbst definierten, mündlich untereinander abgesprochenen Regeln und Statuten gehalten hatten? Und was besagten diese Regeln der Festelegung und Selbstkastration? Wozu noch aktiv als Aktionsgruppe ein Weltverbesserertum anstreben, wenn man sich selbst den Maulkorb anlegt und sich selbst beschneidet? In freiwilliger Selbstzensur! In servilem, vorauseilendem Gehorsam? Aber ja, der Begriff Aktionsgruppe war schließlich von außen an den losen Freundeskreis herangetragen worden – als hermeneutischer Begriff –und war somit nicht Programm!

Wagner hat inzwischen vieles eingesehen, eindeutig Stellung bezogen und etwas reumütig Näheres zu dem unerquicklichen Ereignis von damals ausgesagt. In einem Gespräch mit dem Literaturhistoriker Stefan Sienerth vom IKGS, das dieser in den 1997 erschienenen und gerade neu aufgelegten Band Dass ich in diesen Raum hinein geboren wurde. Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südeuropa aufnahm, betont Wagner im damals schon heißgeliebten, doch kaum praktizierten Klartext: Unsere Entlassung damals nach einer Woche Untersuchungshaft war eine Blamage für die Securitate. Das war der Hauptgrund, warum sie sich auf William Totok konzentrierten, ihn dann wenigstens stellvertretend bestrafen wollten. Dazu muss noch gesagt werden, dass wir, die anderen, ich selber, uns zu unserem Kollegen nicht solidarisch verhalten haben. Wir haben ihn fallenlassen. Wir waren auf die Situation nicht vorbereitet. Totok war angreifbarer als die anderen aus der Gruppe, auch weil er sich nicht an die Grupperegeln gehalten hatte. Hinter formalen Gründen regt sich ein Gewissen.Gruppenregeln? Wie vertragen sich diese Selbstbeschränkungen mit dem freien Willen freier Individuen?

Dann aber formuliert Wagner den essentiellen Satz, der auch für die ideelle Beurteilung und Interpretation seiner Werke aus jener Zeit richtungsweisend sein dürfte: Wir strebten keine Dissidenz an, sondern eine Art loyaler Kritik.

Zuerst kam das Literarische. Das war bei ihm nicht so. Er schickte beispielsweise unveröffentlichte Gedichte in den Westen, wobei es einen gegenteiligen Beschluss in der Gruppe gab. Ich erfuhr davon beim Verhör. Und wollte damit auch nichts zu tun haben. Damit zeigte sich die Befangenheit in der eigenen Perspektive. Ich wollte nicht ausreisen und wollte auch kein verbotener Autor sein. Hätte ich zu Totok gestanden, wäre ich 1975 ein Dissident geworden und wäre mit ein paar Gedichten im Kopf nach Frankfurt am Main gekommen. Wollte ich aber nicht. Soweit Wagner im Rückblick.

Aus meiner Sicht war der Satz: Wir strebten keine Dissidenz an, sondern eine Art loyaler Kritik,dessen ungeistige Botschaft mich leitmotivisch verfolgte wie eine böse Schimäre, eine schlichte Katastrophe! Eine geistig-moralische Bankrotterklärung! Denn dahinter stand die indirekt passive, doch faktische Anerkennung des Status quo und einer illegitim an die Macht gelangten Partei, deren Wesen autoritär, ja sogar totalitär war, selbst nach der finsteren Zeit des Stalinismus!

Viele Mitläufer, Historiker, Literaten, Journalisten, fast alle in irgend einer Führungsposition, haben diese später als verbrecherisch gebrandmarkte und moralisch verurteilte Partei praktisch anerkannt, gebilligt, geduldet, nur um den eigenen Weg des Kompromissesgehen zu können, um Karriere zu machen und im Rahmen des Systems gut zu leben!

Wagners fataler Satz ist ein spätes partielles Schuldeingeständnis und auch eine Selbstapologie. Aber er ist immerhin aufrichtig!

Ähnliches hatte ich nach der verheerenden Wirkung von Niederungen auch aus dem Munde Herta Müllers erwartet, zumal sich ihre Angriffe gegen die übel bedrängten und geschwächten Landsleute richteten - und nicht gegen den Großen Bruder, um dessen Schutz sie sogar noch anhalten sollte! Doch da kam nichts, was auch nur den Hauch von Einsicht, Bedauern oder gar eine Entschuldigung für eigenes Fehlverhalten hätte erkennen lassen!

Die Securitate frohlockte. Kommunikative Missverständnisse untereinander nutzte sie gnadenlos aus. Offenbar war es der Securitate damals gelungen, einen Keil in die Gruppe zu treiben und ihre Mitglieder zu spalten und voneinander zu isolieren. Nur: Wie kann eine Welt der Angst, des Terrors und der omnipotenten und allpräsenten Heuchelei letztendlich mit einer Art loyaler Kritik verändert werden?

Und wie kann man eigentlich politisch denken wollen und zugleich apolitisch schreiben? Ich konnte so etwas nicht! Weder damals noch heute! Heldentum und Märtyrertum waren nicht einzufordern; das wusste ich längst. Doch man hätte auch schweigen können - oder nichts veröffentlichen! So handelte ich damals - dafür galt ich nicht als Dichter!

William Totok, der erst im Jahr 1987 kurz vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in Rumänien nach Westberlin ging, zu einem Zeitpunkt, als alle anderen schon gegangen waren, ist seinen weltanschaulichen Überzeugungen treu geblieben. Als leidenschaftlicher Linker von Anfang an und militanter Antifaschist bemüht er sich auch heute noch, der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Zwischen Deutschland und Rumänien hin und her pendelnd und im kontinuierlichen Dialog mit Zeitzeugen sowie politischen Akteuren der Gegenwart ist Totok bestrebt, dort Aufklärungsarbeit zu leisten, wo sie dringend notwendig ist - als Autor und Publizist hier im Westen und dort im neuen EU-Staat Rumänien, um so den Demokratisierungsprozess im Land seiner Geburt voranzutreiben; und dies im permanenten Kampf gegen neu aufkommende totalitäre und antisemitische Tendenzen gerade in Rumänien! Die nur über individuelle und kollektive Vergangenheitsaufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung zu erarbeitende historische Wahrheit ist die Voraussetzung zur Implementierung demokratischer Strukturen schlechthin.

Weltanschauliche Überzeugungen müssen nicht immer eine unüberwindbare Hürde sein. Wenn Offenheit gegeben ist, ist Weltanschauung sekundär. Geleitet vom gemeinsamen Ziel einer historischen Wahrheit können selbst ideologisch divergierende Ansätze zu guten Ergebnissen führen. Das ahnte ich damals 1977 nur dunkel. Bestätigt fand ich es nach Jahrzehnten in der publizistischen Zusammenarbeit mit William Totok, Johann Böhm und Dieter Schlesak bei der Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte und Literatur, einer neuzeitlichen Publikation, die – mehrsprachig auch über das Internet verbreitet – schnell und unmittelbar über aktuelle Entwicklungen gerade in Rumänien informiert. Wir Dissidenten von einst, geprägt von der Solidarität der Zelle, dachten und fühlten ähnlich. Der Dichter erkennt den Dichter, der Geist den Geist - und der Andersdenkende erkennt den anderen Dissidenten eben weil sie alle - mit Tucholsky - die Freiheit und dahinter die Wahrheit sowie die Gerechtigkeit anders fühlen als die Apologeten des Kompromisses. Totoks Forum ist heute primär das mehrsprachige, auch als Online-Edition verfügbare Blatt Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, kurz HJS, eine Zeitschrift, in welcher auch einige meiner Beiträge zur Geschichte der Oppositionsbewegung in Rumänien erschienen sind, nicht zuletzt - und avant la lettre - ein Vorabdruck aus der Symphonie der Freiheit.

William Totok ist der wohl am besten informierte Journalist im Westen, wenn es um die rumänische Aktualität geht. Die damaligen Ereignisse rund um die Verhaftung der befreundeten Autoren, die Untersuchungshaft und den Gefängnisaufenthalt hat Totok in seiner ausführlichen Zeitbeschreibung dokumentiert und als Buch veröffentlicht. Für sein detailgerechtes, gut recherchiertes und mit vielen Quellen bestücktes Erinnerungswerk, für seine konsequente Haltung über Jahrzehnte und für das engagierte Eintreten für Demokratie hätte er einen besonderen Preis verdient! Vielleicht einen jener Preise, die aus einem groben Missverständnis heraus anderen zugesprochen wurden! Anderen, weil aus Unkenntnis der Materie angenommen wurde, sie hätten opponiert! Dabei profitierten gerade diejenigen Akteure, die das Totalitäre billigten, indem sie es ohne zu widersprechen tolerierten, sich mit ihm arrangierten, ja es sogar öffentlich anerkannten und sanktionierten! Verkehrte Welt!?

Eine um weitere Quellen angereicherte Neufassung der Zwänge der Erinnerung mit Interviews historisch involvierter Personen erschien in rumänischer Sprache unter dem Titel Constrîngerea memoriei im Jahr 2001. William Totok hat in einem mutigen Akt der Vergangenheitsbewältigung, der Rumänien bitter Not tut, einige seiner früheren Peiniger in Zwiegesprächen zur Rede gestellt, unter ihnen einen unmittelbaren Handlanger des Systems, einen Militärstaatsanwalt Burca, der - frech und ungeniert auch heute - seine damalige Arbeit nur aus Liebe zur Wahrheit versehen haben will! Ein Unding - doch typisch für das ganze System! Ebenso interviewte er einen hohen Securitate-Offizier, der Einblicke in die Funktionsweise und in die Hierarchie des Geheimdienstapparates gab sowie einen harmlosen Universitätsdozenten, dem es sehr peinlich war, seinerzeit gedrängt von der Securitate als Gutachter und Interpret der Lyrik Totoks mitgewirkt zu haben - und der heute, nach der Revolution, in die gleiche Situation versetzt, gerne viel mutiger reagieren würde. Letzterer starb nach bevor er Gelegenheit erhielt, Mut zu beweisen!

Alle wurden mit den damaligen Ereignissen rund um seine Verhaftung und Verurteilung konfrontiert. Allein schon die Art, wie die Akteure nach Jahren der Demokratisierung über ihre einstigen Taten sprechen, gibt zu erkennen, wie verlogen das gesamte System damals war; und wie feige der einzelne Bürger. Totok lässt die Fakten sprechen und verzichtet selbst auf Schuldzuweisungen. Dafür wird eine Materie so umfassend aufgeklärt, dass sie auch vom westlichen Leser gut nachvollzogen werden kann.

Der zweite der Totok-Brüder aus Großkomlosch, Gunter, prallte anders mit der Securitate zusammen. Die Freiheit der Rede hatte es ihm angetan, das frei gesprochene Wort auf der Straße. Gelegentlich traf ich Gunter in der Bastei, ohne zunächst zu wissen, dass er ebenfalls von der Securitate politisch verfolgt, verurteilt und durch berüchtigte Gefängnisse gezerrt worden war. Auch vom ihm erfuhr ich damals keine Details über literarische Opposition und Widerstand oder über das weitere Schicksal seines Bruders William. Gunter, von dem ich nicht wusste, ob er sich überhaupt literarisch betätigte, hatte die spleenige Art eines Dandys, der mit halbmisanthropisch verächtlichem, halb elitärem Blick in die Welt schaut. Er war ein schöner Jüngling, eine imposante Gestalt mit langen, blonden Haaren und einem mächtigen ungarischen Schnurrbart, im hellblauen Markenjeansanzug und hohen Wildlederstiefeln und wirkte, wenn er lässig daher trottete, wie ein magyarischer Husar oder ein altgallischer Kämpfer, wie ein Vercingetorix im zwanzigsten Jahrhundert, der als anachronistische Erscheinung aus der Zeit der Völkerwanderung, provozierend in die Welt des Sozialismus hineinragte. Seine äußere Protesthaltung ging sicher noch weit über die meine hinaus. Wenn wir gelegentlich bei einer Tasse Kaffee beisammen saßen, kam er auch auf die Berührungen mit dem Sicherheitsdienst zu sprechen und die Verfolgungen, denen beide Brüder ausgesetzt waren. Er kannte das Terrarium, den Basilisken und das Krokodil - und war nicht gut darauf zu sprechen. Details über frühere Entwicklungen wurden jedoch kaum erörtert und blieben mir auch sonst verborgen, vielleicht, weil wir uns nur oberflächlich kannten. Trotzdem verband uns ein Band gegenseitiger Sympathie, das auf unsichtbaren parapsychologischen Schwingungen zu beruhen schien und auf einem Hauch gemeinsamen Protests. Erst später, als ich Williams Lebensbeschreibung las, erfuhr ich, dass auch Gunter massiv von der Securitate bedrängt worden war. Er war zwei Jahre vor mir verhaftet worden und - unter dem an sich unhaltbaren Vorwurf, er hätte faschistisches Gedankengut verbreitet - wegen ausgeübter antisozialistischer Propaganda zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Sein Leidensweg führte ihn in Ketten in das berüchtigte Gefängnis von Aiud. Er kam erst mit frei, als William, der Dichter und Dissident, auf internationalen Druck hin aus der Haft entlassen wurde.

Mir fehlte seinerzeit der volle Durchblick der Entwicklungen um die Aktionsgruppe, die ich nur gerüchtweise aufnahm. Konkrete Antworten blieben damals aus … Aber sie interessieren auch heute noch, da sie die historische Wahrheit erhellen und damit dem Mythos entgegenwirken. Aufgrund der Unkenntnis der Fakten entzog sich mir die volle Dimension der literarischen Opposition vor Ort, dieses unmittelbar neben mir abrollenden Martyriums weniger Charaktere für freie Meinungsäußerung in Form von Poesie, bis auf die Andeutungen Gerhards, die ich damals nicht alle richtig werten konnte.

Die anderen Literaten, fast alle Germanistik-Studenten an der Universität, wurden zwar auch immer wieder belästigt, doch blieben ihnen besondere Brutalitäten offensichtlich erspart. Ihre Kollision mit der Securitate, die sich etwa bei Herta Müller zunächst akzidentiell gestaltete, später aber, falls ihren fiktiv gestalteten Sujets auch etwas Wahrheit zukommt, nachhaltiger wurde, ergab sich aus dem Umstand - wie der Lyriker Dieter Schlesak es in den oben erwähnten Gesprächen mit Professor Stefan Sienerthvom IKGS einmal treffend formulierte- dass einige aus der Aktionsgruppe die realsozialistische Gesellschaft links überholen wollten, also aus weltanschaulichen Gründen! Und wohl durch den unvermeidlichen Zusammenprall einer idealen sozialistischen Vorstellung mit dem real erlebten Sozialismus in der Gesellschaft.

Aus heutiger Rückschau wird deutlich, dass das Repressionsinstrument des Staates Securitate, die alle oppositionellen Regungen - die linksprogressiven wie die rechtkonservativen- gleichermaßen vehement bekämpfte, unser gemeinsamer Gegner war. Alle oppositionellen Kräfte hätten sich schon damals gegen diesen Leviathan verbünden müssen. Leider war das nicht möglich gewesen - und so blieb es beim singulären Protest einzelner Individuen, bis auf wenige Ausnahmen. Eine davon konstituierte sich in Temeschburg in unserem Dissidentenkreis OTB.





Bürgerrechtler Carl Gibson zur Zeit der UNO-Beschwerde gegen Diktator Nicolae Ceausescu (1981,  Genf)
am Domizil in Rottweil am Neckar


Pestsäule und Dom, Temeschburg,


OTB-Organisator Georg Weber, 1982 in Dortmund




 




Kathedrale, Temeschburg

ZK


Ceausescus Palast


Carl Gibson, Lesung
 
 
Auszug aus: Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit



Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe






Zeitzeuge und Autor Carl Gibson


Philosoph Carl Gibson
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:
"Symphonie der Freiheit"

bzw.
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band

"Allein in der Revolte".
Eine Jugend im Banat




Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel









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