Sonntag, 20. Januar 2013

Humor und Galgenhumor, Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen, Leseprobe


Humor und Galgenhumor



Die äußere Freiheit des Geistes ist der Humor, er ist immer souverän. Ludwig Börne


Diese Entscheidung sollte ich nicht bereuen. Nachdem ich mir nachmittags etwas von der belebten Innenstadt ansehen konnte, vom Regierungsviertel und vom St. James Park unweit der Queen-Residenz, hockten wir uns am Abend wieder vor das Feuer im Kamin. Diesmal nahm ich in einem alten Ohrensessel Platz, während Nyula sich mit einem spartanischen Holzstuhl begnügte. Der Terrier Timm tänzelte herum und schnupperte heute an meinen Socken herum, die wohl mehr nach Appenzeller dufteten als nach dem Pflaster der City. Ein bescheidener Weinbrand stand bereit und einige Toastsandwiches vom Inder, teils mit Schinken, teils mit Gurke belegt. Das beruhigte. Beherzt griff ich zu und aß ein paar Schnitten mit Appetit, heilfroh keine Pastete, keine Pommes frites-Brötchen oder öltriefenden Kabeljau in Zeitungspapierverpackung verzehren zu müssen. Andere Länder, andere Sitten!

Doch die Herzlichkeit stimmte. Nyula, die ich von Anfang an duzen musste, weil es nicht anders ging, schlürfte genüsslich ihren Scotch. Und dies obwohl sie, eine gebürtige Irin von der anderen grünen Insel, wie sie mir bald offenbarte, die Schotten ebenso wenig mochte wie die Waliser, aber alle immer noch lieber hatte als die Engländer. Die arroganten Engländer, die einst die Schotten unterworfen hatten und die Iren, die ihr Volk aushungerten, um es schließlich übers Meer zu treiben und in alle Winde zu zerstreuen, jene Eroberer, die vor, neben und nach der Versklavung der Iren fast die ganze Welt unterjochten - waren in ihren Augen wohl die letzte unter den großen Nationen. Nur in mir, dem bereits verwaschenen Angelsachen von vorgestern, sah sie vorerst eine seltene Ausnahme - und wie ich mit Verblüffung vernahm - allways a gentleman! Wie schön Schmeicheleien klingen, wenn sie ernst gemeint sind! Auch in Nyula wirkte die tragische Geschichte fort - der Glanz und die Gloria Englands, was in ihren Augen nur nackter Imperialismus und zugleich die Leidensgeschichte ihres Volkes war.

„Die Armut führte mich nach England“ gestand sie mir nach ein paar Gläsern Schnaps, als die Verkrampfungen der Seele sich Schluck für Schluck zu lösen begannen. Dann kam die ursprüngliche Gesinnung durch, irische Patriotismus - und mit ihm die zweifache Passion. Deutlich spürte ich etwas von ihrem Unbehagen, fast arm im reichen Grimstead leben zu müssen, statt geborgen zwischen Druiden und Katholiken auf dem noch grüneren Eiland. Sie vermisste ihre Heimat sehr, ihr irisches Umfeld, ihre Großfamilie, die zwischen Seattle und Sydney verstreut lebte. Bruder Cyrill lebte in Dublin und war als Anwalt sehr erfolgreich. Doch eine Rückkehr dorthin schied für sie aus; ihr fehlten dort sowohl das Umfeld wie auch ein Auskommen. Also blieb sie einsam im Greater London und lebte im Grunde im Exil. Waren alle um mich herum Exilierte? Ihr Herz und ihre Gedanken aber blieben Irland, bei ihren Landsleuten, die anders waren und anders fühlten als die Engländer vor der Tür. Es war schmerzvoll, fern der eigentlichen Heimat zu leben. Wehmut und sogar etwas Verbitterung kamen durch, als wir darüber sprachen, wie einzelne Engländer immer noch mit Iren umgingen, getragen von der Arroganz und dem Ungeist der Geschichte. Religiöse Spaltung hielt den Brandherd in Nordirland wach, jenes Fleckchen Erde, das für sie Heimat war; das besetzt war und das, ungeachtet aller europäischen Einigungsversuche, noch besetzt bleiben sollte und im Krieg, im schlimmsten aller Kriege, im Bürgerkrieg. Auch in Nordirland ging es um Menschenrechte, um elementare Bürgerrechte für Iren, die Premier Thatcher nicht wahrhaben wollte - und die gerade jetzt über todbringende Hungerstreiks vieler Gesinnungshäftlinge aus den Reihen der militanten IRA durchgesetzt werden mussten. Das massive Unrecht, von fanatisierten Protestanten geschürt und von der Downing Street gefördert, rüttelte sie auf. Und ich, der ich tief im Osten Europas ähnlich prinzipienlose Abläufe erlebt hatte, fühlte mit ihr und ihrem Protest. Freiheit - galt dieses Prinzip nicht auch für Nordiren und Basken, für Kurden und Palästinenser, für Tschetschenen und für andere hundert Völker, deren Namen kaum einer kennt?

Aber es blieb auch noch Zeit für schönere und angenehmere Themen, für solche, die allgemeines Wohlgefallen auslösten. Also redeten wir über erregende und aufregende Poesie, über irre Dichter und dichtende Iren, über Yeats und Joyce, über einen meiner Lieblingsdichter im Englischen, über Oscar Wilde, der zufällig auch ein Ire war und nun vertrieben und verbannt in Pariser Erde ruhte; und wir streiften Heinrich Bölls Wirken auf der grünen Insel, der er in dem ihr gewidmeten Tagebuch ein deutsches Denkmal gesetzt hatte.

Über die Volksmusik der Iren mit ihren Klagen kamen wir auf Humor Galgenhumor. Als das Gespräch über Lebensart auch den Bereich des Lukullischen tangierte, konnte ich es nicht unterdrücken, sie nach jenem siebengängigen Menu zu fragen, welches angeblich kein Ire gerne verschmäht: Ein Sechser-Pack Bier - und eine Kartoffel! Nyula musste herzhaft lachen. Für Sekunden verflog die Bitterkeit. Doch sie kam wieder. Die fehlende Kartoffel hatte Millionen Opfer gefordert. Der mir attestierte englische Humor war ihr irgendwo noch sympathischer als meine Herkunft. Solange ich diesen behalte, sei noch nichts verloren, meinte sie scherzhaft.Der Humor, vor allem der rabenschwarze Galgenhumor, hilft gerade Menschen und Völkern, die in Ohnmacht leben müssen, ihren Alltag seelisch zu bewältigen. In der Zelle, wo kaum Zeit für Muße oder Späße war, hatte ich diese Erfahrung gemacht; und im weiteren Kreis der Hölle, im großen sozialistischen Gefängnis ebenso. Humor half oft dabei, über die Tristesse hinweg zu kommen, ja selbst beim Bewältigen von Katastrophen. Nach den schweren Überschwemmungen, nach Sintflut in Rumänen und nach dem noch verheerenderen Erbeben wurden hochkomische Witze fabriziert. Das war hier in London nicht anders. Nur waren es hier andere Feindbilder, die mit Wertvorstellungen wie nationale Identität und Heimat kollidierten.

Als ich schließlich von Nyula schied, waren wir fast schon Freunde geworden. Wir telefonierten noch oft miteinander und intensivierten die Beziehung über Jahre - bis ihr Telefon eines Tages nicht mehr klingelte. Vermutlich war sie in letzter Einsamkeit verstorben. Hoffentlich mit dem tröstenden Glas in den Fingern und einem aufwühlenden Bolero im Ohr!

Am nächsten Vormittag nach der Verabschiedung hatte ich noch ausreichend Zeit, um wenigstens etwas vom kulturellen London zu sehen. Schnell lief ich durch die National Gallery, wo alles aushing, was die Malerei seit der Renaissance an Berühmtem hervorgebracht hatte und ging anschließend in das British Museum, das auf meiner Agenda genauso hoch angesiedelt war wie der Louvre. Doch ging ich nicht hin, um den Urtext des Kommunistischen Manifestes zu bestaunen, der dort angeblich gelagert wird, sondern ich widmete mich einem anderen Fossil und studierte kurz eine Sache, mit der ich noch keine Erfahrung hatte: ein riesiges Dinosaurierskelett, das darauf verwies, dass selbst das Größte und Mächtigste dem Zahn der Zeit unterworfen und vergänglich ist. Die Anatomy of Melancholy - auch hier? Die Dinosaurier waren alle längst tot. Nur ihre fernen Verwandten, die Chamäleons und Warane, lebten noch und pflanzten sich munter fort. Inzwischen hatten die großen und die kleinen Drachen aus Madagaskar und von der fernen Osterinsel London bevölkert, die Regierungsgebäude, die Glaspaläste der Banken und die Handelszentren in den Docklands. Und mit ihnen kam auch die neuköpfige Hydra zurück, die bereits Bukarest, die Metropolen an der Isar, an der Seine und sicher auch schon jene an der Spree eingenommen hatte. Und sie kam mächtiger als je zuvor, so als ob dagegen immer noch kein Kraut gewachsen schien. Leicht deprimiert reiste ich ab; überzeugt, von den Briten werde auch in fernerer Zukunft keine große Hilfe zu erwarten sein. Rule, Britannia! rule the waves, Britons never shall be slaves! Wohlan! Nur galt der kategorische Imperativ auch für Völker?

Im Flugzeug über den Wolken, wo auch das Grübeln manchmal grenzenlos ausufert, kam alles wieder hoch wie im Bolero. Der Tiefschlag war noch nicht überwunden. Die Organisation erschien mir im Rückblick wie ein Häufchen Bürokraten, die selbstgefällig eine Alibiveranstaltung inszenieren. Die Amnesty International-Begeisterung Nicks konnte ich jetzt überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Ursprünglicher Idealismus schien in profaner Realpolitik zu verrauschen. Die Bastionen der Freiheit schwanden sichtbar. Die Statue der Freiheit stand woanders. Trotzdem nahm ich mir vor, mit der deutschen Koordinationsgruppe von Amnesty International aus Rehden-Diepholz bei Bremen, die Kontakt zu mir aufgenommen hatten, weiter zusammenzuarbeiten; ahnte aber, dass dies kaum weit führen konnte, wenn die formalen Vorgaben aus London alles einschränkten.

Das militante Eintreten für Freiheitunter den Bedingungen einer Diktatur und in permanenter Auseinandersetzung mit einem repressiven System war nie einfach. Aber es hatte idealistische Ressourcen mobilisiert und dem Individuum bewiesen, wer es wirklich ist und was es aus seinem Innersten heraus zu leisten vermag. Allmählich fühlte ich mich wie ein Handlungsreisender, aus dem ein Handlanger zu werden droht, wie ein Versicherungsvertreter, der, nach rhetorischem Aufwand, keinen Abschluss getätigt hat. Merklich schwand die Lust an dieser Form der fortgeführten Dissidenz im Westen. Gegen eine Klagemauer anrennen, war das nicht hochgradig absurd?

Mit dieser Reise hatte ich das den Verfolgten gegebene Wort gehalten - ich hielt es auch gegenüber der Hilfsorganisation in der kommenden Zeit. Parallel zu meinen künftigen Aktivitäten musste ich jedoch feststellen, dass meine in London formulierten Befürchtungen zutrafen und alle, die sich im Inland und Ausland für die Durchsetzung von Freiheiten und Menschenrechte im Ostblock einsetzten, von Bukarest aus weiterhin systematisch kriminalisiert, stigmatisiert und diffamiert wurden. Langsam zerrieselten meine Vorstellungen von den hehren Idealen in einer Welt der Freiheit wie der Sand zwischen den Fingern am Strand. Mein Kerbholz der Freiheit, das bei der Ankunft in Frankfurt noch so unbefleckt jungfräulich gewesen war, erhielt nach einer ersten, leichten Ritze der Desillusion in München, eine schwere Kerbe. Das Ideal begann zunehmend zu bröckeln.




Auszug aus: Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit



Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe






Zeitzeuge und Autor Carl Gibson


Philosoph Carl Gibson
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:
"Symphonie der Freiheit"

bzw.
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band

"Allein in der Revolte".
Eine Jugend im Banat




Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel








 

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