Montag, 21. Januar 2013

Nürnberg - Aus dem Gefängnis ins Lager, Auszug aus: Carl Gibson, Symphonie der Freiheit Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen, Leseprobe


Nürnberg - Aus dem Gefängnis ins Lager



Nachdem wir die Aischgründe passiert hatten, wo Karpfen und andere Fische sich wohl fühlen, bevor sie im weihnachtlichen Kochtopf landen, kündigte sich bereits Nürnberg an- die Stadt Dürers, die Stadt der Reichsparteitage - und die Stadt der Prozesse. Wer so in der Geschichte gefangen war wie ich, konnte sich der historischen Betrachtung nicht entziehen. Die Geschichte, mit deren Interpretation das Hineinschlittern in die oppositionelle Tätigkeit begonnen hatte, war nach wie vor das Thema schlechthin.

Merkwürdig. Nach dem Knast landete ich jetzt - im Land der Freiheit - wieder in einem Lager!? Aus dem Regen in die Traufe? Ein sonderbares Willkommen! Offiziell war der überaus belastete Begriff bereits eliminiert worden, richtig abgeschafft; in den Köpfen der Menschen jedoch hielt er sich weiter: „Wenn du in Deutschland ankommst“,wussten erfahrene Ausgereiste zu berichten „musst du zunächst ins Lager“.

Dieses Aufnahmelager, das amtlich als Durchgangsstelle für Spätaussiedler und Flüchtlinge bezeichnet wurde oder so ähnlich, war nur ein erster Anlaufpunkt für Neuankömmlinge, der nach der Erledigung einiger Formalitäten schon nach wenigen Tagen verlassen werden konnte. Auch das spätere Übergangswohnheim galt als Lager. Es war ein Provisorium, das eigentlich nur solange zur Verfügung stehen sollte, bis die Neubürger eine eigene Wohnung gefunden hatten. In Wirklichkeit aber wurde es von raffsüchtigen Landsleuten über Jahre blockiert; so lange, bis sie ein Grundstück erworben hatten, ein Haus errichtet und in das eigene Heim einziehen konnten. Kaum jemand nahm Anstoß an der makabren Bezeichnung. Das Nachdenken über Sprache und das sprachgemäße Sprechen, das ich früher schon kläglich vermisste, war bei vielen Leuten immer noch nicht angekommen. Aber zumindest ich war da - im Aufnahmelager und gleich mitten im Kreislauf bundesdeutscher Bürokratie, wo ich zunächst einigen deutschen Angestellten überantwortet wurde. Im Gleichschritt … Marsch!?

So lernte ich bald auch diesen Typus Mensch kennen; und nach ihm den noch gründlicheren deutschen Beamten, der in vorauseilendem Gehorsam und mit vorbildlichem Pflichtbewusstsein in meinen Augen noch besser funktionierte als ein schweizerisches Uhrwerk - und dies im schroffen Gegensatz zum rumänischen Funktionär, der stets in Lethargie und Nichtstun versank, ganz im Geist einer langen Tradition, die seit Gontscharows literarischem Wirken als Oblomowereibekannt ist.

Nun durchlief ich jenen Ritus, den schon Millionen anderer Menschen aus dem Osten vor mir durchlaufen hatten: Heimkehrer, Vertriebene, Flüchtlinge und selbst Asylsuchende. Zunächst wurde ich offiziell registriertwie ein Schaf. Nur die Ohrenmarke blieb mir erspart. Während dieses formalen Prozesses, der mir im laxeren Land meiner Vorväter, in England, wo es nicht einmal Personalausweise gab, bestimmt erspart geblieben wäre, durfte ich eine Reihe von persönlichen Fragen beantworten, die zum Teil in einem Registrierschein festgehalten wurden. Ästhetische Komponenten, die, wie es mir auffiel, alle Lebensbereiche des neuen Umfelds durchzogen, spielten bei diesem Dokument keine Rolle. Es war ein eindeutig schäbiges Papier mit der unpersönlichen Note eines Formulars, in welchem einige Details aus meinem Vorleben in einer engen, undifferenzierten Terminologie festgehalten wurden. Das Kästchen, das für die Berufsbezeichnung des Einreisenden vorgesehen war, vermerkte - nach einigem klärenden Hin und Her: Reparaturschlosserhelfer - und verwies damit auf die wortkombinatorische Leistungsfähigkeit der deutschen Sprache. Worte wie Obertsturmbanngruppenführerhatten schon in der frühen Kindheit unsere Phantasie beflügelt, wenn sie als unübersetzbare Untertitel über den Bildschirm huschten und uns motivierten, über verdichtete Sprache und monströse Wortzusammensetzungen nachzudenken. Hugo von Hofmannsthals Essay über den Wert unddie Ehre deutscher Sprache kam mir dabei in den Sinn, speziell der dort exemplifizierte Aspekt der sprachlichen Verwahrlosung und Sprachverhunzung, zu der nicht nur Dichter und schlechte Literaten fähig sind, sondern auch unreflektierte Sprachanwender wie jene, die ich vor mir hatte.

Da ich aus einem Raum kam, wo ein anderes Deutsch gesprochen wurde, ein Deutsch, das eine Weile stagniert hatte wie das Französisch in Quebec, bemühte ich mich um ein möglichst korrektes Deutsch, wobei die individuelle Sprachmelodie, die sogar mit dem Bildungsniveau des Vaterhauses zusammenhängen konnte, nicht ganz zu verdecken war. Doch je deutlicher mein Bemühen wurde, desto krasser fiel mir der sorglose Umgang mit Sprache bei anderen Personen auf. Der Genitiv, den ich eindeutig favorisierte und recht häufig gebrauchte, kam in der vernommenen Sprache kaum noch vor. Er wurde mit komischen Dativkonstruktionen umschrieben -und wenn er in seltenen Augenblicken doch noch auftrat wie ein rar gewordner Vogel, kam er gleich in doppelter Form. Und das bei Personen, die, ausgehend von ihrer Stellung, einen höheren, bisweilen sogar einen akademischen Bildungsabschluss aufzuweisen hatten. War das ein Hinweis auf die Qualität des deutschen Schulsystems, auf die Wertschätzung, die der deutschen Sprache allgemein entgegengebracht wurde?

Als ich auf die Zeit der Haft zu sprechen kam, fragte mich jene steife Dame mit dem überschminkten Gesicht und den strahlend lackierten Fingernägeln, die meine Aussagen protokollierte und diese auf einer laut ratternden, mechanischen Schreibmaschine nieder schrieb recht forsch: „Aus welchem Grund sind Sie überhaupt in Rumänien verurteilt worden?“

„Wegen Anarchie“, gab ich prompt zurück. „Dieses Urteil hier verweist auf die Gründung einer antisozialistischen Vereinigung mit anarchistischem Charakter“, fügte ich leicht ironisch hinzu, annehmend, der müde Sarkasmus würde verstanden und kramte dabei nach dem sonderbaren Dokument. „Oooh!“ entgegnete die Dame etwas verunsichert, und fast schon entsetzt: „Auch hier in der Bundesrepublik werden Anarchisten verurteilt!“

So? Wunderte ich mich empfindlich berührt. Welch eine Gleichsetzung! Wir bekämpften ein totalitäres System, andere wollten eine parlamentarische Demokratie abschaffen. War da nicht irgendwo ein kleiner Unterschied, der selbst von bescheidener Warte aus hätte gesehen werden müssen? Und gab es da nicht noch ein paar Anwälte und Blätter, die Terroristen und Mörder stützten und deren Sache ideell und formaljuristisch verteidigten? Bei diesen Gedanken unterließ ich das Kramen nach dem Urteil und versuchte den Kloß im Hals unauffällig hinunterzuwürgen. Das Unverständnis schockierte. Ich war getroffen und betroffen. So viel Unwissenheit über die tatsächliche Situation hinter dem Eisernen Vorhang hatte ich nicht erwartet, schon gar nicht hier, an der Mündung des Menschenstromes aus dem Osten, wo täglich bestimmt auch Opfer der totalitären Verhältnisse einreisten und ihre Vita offenlegten wie Frauen ihren Körper im Stripteaselokal. Gerade hier an der Pforte zur künftigen Freiheit hatte ich mit einem anderen Erfahrungshintergrund gerechnet. War das eine erste Desillusion, eine frühe Destruktion des hohen Ideals?

War das kein böses Omen? Wenn ich hier, am Eingangstor zur neuen Gesellschaft, schon mit soviel Unverständnis konfrontiert wurde, reflektierte ich, was würde erst bei einer Konfrontation mit den vielen Ahnungslosen, mit den noch weniger und undifferenzierter informierten Bürgern auf mich zukommen? Es war ein erster Hinweis darauf, dass ich die offenen Ohren für die freiheitliche Sache der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang künftig nicht in der erwarteten Art antreffen würde.

Nachdem ich den Initiationsritus zum Bundesbürger aufgenommen und einige Vorkammern dieser angenehmeren Hölle passiert hatte, stand ein kurzes Tête-à-Tête mit dem Repräsentanten der Geheimdienste bevor, der wissen wollte, ob in meiner Person ein gedrillter Perspektivagent anreist, ein Schläfer und Saboteur, der jederzeit aktiviert werden konnte wie der Held jenes Spionagethrillers mit Charles Bronson: „Hat der rumänische Geheimdienst versucht, Sie anzuwerben?“fragte der Beauftragte direkt. Ob der unscheinbare Herr für den Bundesnachrichtendienst tätig war, für den Verfassungsschutz oder für einen noch geheimeren Dienst, blieb mir verborgen. Ich war zunächst irritiert. Was für ihn Pflicht war, erschien mir als Ungeheuerlichkeit. Von der Securitate angeworben wurden eher junge, angehende Schriftstellerinnen, die der Partei nahe standen und ihre Führungskraft anerkannten, nicht notorische Antikommunisten von Anfang an.

„Nein!“antwortete ich deshalb ebenso direkt wie resolut und ergänzte entrüstet: „Aber die Securitate hat mir gedroht, wie sie jedem droht, der nach langer politischer Opposition das Land für immer verlässt und von dem anzunehmen ist, dass er auch im Westen politisch aktiv bleiben wird.“

Verkehrte Welten? Wo war ich gelandet? Die routinehaft gestellte Frage nach einem möglichen Auftrag seitens der Kommunisten galt der Absicherung des Rechtsstaates und war als solche notwendig. Das leuchtete ein. Trotzdem befremdete sie mich sehr, da ich davon ausgegangen war, dass die bundesdeutschen Geheimdienste- über die Botschaften und das Auswärtige Amt - aber auch über andere Quellen, etwa durch das Auswerten von Berichten und Veröffentlichungen ausgereister Dissidenten, von unseren jahrelangen, existenzbedrohenden Auseinandersetzungen mit dem totalitären Regime wissen mussten. Ob es so war? Das konnte es nie wirklich herauskriegen. Jedenfalls sah der Beamte in mir keine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik - und der Verfassungsschützer aus Stuttgart, der später kam, auch nicht. Der Rotschopf mit dem Sommersprossengesicht drückte mir seinen Stempel in das entsprechende Kästchen auf den Laufzettel und überließ mich dem Eintritt in die freie Welt. Dieser wurde dann auch von Stunde zu Stunde angenehmer.

Es folgte als typisches Merkmal des Wohlfahrtsstaates, der an alles denkt, ein Antrittsbesuch in der Kleiderkammer. Es war eine karitative Einrichtung, eine Klamottenkiste der Wohlstandsgesellschaft, wo sich Bedürftige aus den Fernen Sibiriens oder sonst woher einige Kleidungsstücke aussuchen konnten; wohl noch ein Relikt aus der bitterarmen Nachkriegszeit, als jede Wollhose und jeder warme Pullover überlebenswichtig waren. Im Kapitalismus wird niemandem etwas geschenkt, pflegten die Ideologen des Marxismus laut zu verkünden. Jetzt stand ich vor einer textilen Schatzkammer und konnte frei wählen - unter Jacken und Hosen.

Vorsichtig klopfte ich an wie einer, der seit Jahren immer wieder anklopft, dann die Tür öffnet und halb verunsichert, halb servil auf das Unbekannte blickt: „Kommen Sie ruhig näher“, begrüßte mich eine ältere Dame mit natürlicher Freundlichkeit. Sie verwaltete die Kleiderspenden. Während ich noch ein paar Schritte auf sie zuging und dann abwartete, was nun folgen würde, sah sie mich an wie unser Dorfschneider, wenn er Maß nahm, um einen Anzug anzufertigen; sie überflog mein Äußeres, den grauen Anzug, das steif gebügelte, immer noch frisch wirkende weiße Hemd, dem man den Angstschweiß der Ausreise noch nicht ansah; sie sah die silberne Krawatte mit glitzernder Krawattennadel und meine tadellos blank glänzenden, schwarzen Lederschuhe, die meine Mutter noch vor der Ausreise nach alter Sitte gewichst hatte; schließlich blickte sie mich einen Augenblicke lang an, um dann festzustellen: „Wie Sie aussehen, können Sie wohl kaum etwas von dem gebrauchen, was ich hier anzubieten habe. Ich glaube Sie sind hier im falschen Raum.“

Eine realitätsbewusste Frau - Temeschburg im Banat war kein Sibirien. Zwar sah ich ausgemergelt aus, kam aber nicht aus dem Gulag, sondern aus einer Zivilisation jenseits von Sodom. Auch war ich weit davon entfernt, mich mit Plunder zu beladen und Kram oder Güter anzuhäufen. Nach wie vor reiste ich mit leichtem Gepäck, das Kapital in der Denketage verstaut; und so sollte es auch bleiben. Artig bedankte ich mich und ging mit Genugtuung.

Meine Physis schreckte nicht ab. Und dies, obwohl alles Körperliche noch angeschlagen wirkte und ich nahezu kahl geschoren und bis auf die Knochen abgemagert dastand. So war ich auch salonfähig, um in die Stadt zu gehen. Keine üble Idee. Nachdem im Röntgenraum festegestellt worden war, dass die offene Tuberkulose einiger Zellgenossen nicht auch meine Lungen kolonisiert hatte, hielt mich nichts mehr zurück.

Neugierig die berühmte Stadt zu sehen, ließ ich die Baracke hinter mir, ging los und sah mich um, die Bilder des zu Ruinen zerbombten Nürnberg aus dem Gedächtnis aktivierend. Neunzig Prozent der Innenstadt waren seinerzeit im Bombenhagel und in der Feuersbrunst zerstört worden. Davon war jetzt kaum noch etwas zu erkennen. Lücken verwiesen auf das verflogene Inferno und deplatzierte Zweckbauten, die in den Jahren des Wiederaufbaus schnell und billig errichtet worden waren.

Wissbegierig ging ich quer durch die Straßen der Altstadt, ohne genaues Ziel, an der Burg vorbei und an den Resten mittelalterlichen Fachwerks, das die Flammen überdauert hatte, bis hin zu jenem ausgedehnten Gelände, wo einst - zum Schrecken der Welt - SA und SS mit Standarten und Fahnen aufmarschiert waren; wo der Führer, seinen makaber-dämonischen Kult der Selbstverherrlichung und des Todes zelebriert hatte. Ein weites, weites Feld … In Gedanken versunken ging ich auf und ab … Und dachte, die Paraden vor den Augen und das Grollen des Führers im Ohr, wie so oft in den letzten Jahren, an Größenwahn und Hybris, an menschliche Bosheit, an vielfachen Terror und Leid, an Tod und Vernichtung, an Geschichte, an die Vergänglichkeit der Dinge und an das Zerfallen ganzer Weltreiche. Immer hatte ich an einem geschichtsträchtigen Ort leben wollen, in der Aura des Geistes früherer Jahrhunderte. Jetzt war ich an einer solchen Stätte: In Nürnberg, in der einst freien wie wohlhabenden Handelsstadt, im späteren roten Nürnberg, das die Nationalsozialisten um jeden Preis hatten umkrempeln wollen, um ihm eine neue Identität, eine braune Identität, zu geben - und dies auch schafften.

Die Nürnberger Gesetze waren hier verabschiedet worden, die Rassengesetze, juristische Vorstufen der Wannsee-Beschlüsse, die Nürnberger Prozesse waren hier abgerollt, vor den Augen der Welt. Jetzt war ich an einem Ort - mit fast schon zuviel historischer Schwere. Hier befand ich mich an einem Ort deutscher Vergangenheit, den man in der Welt besonders gut kannte und in dessen Namen sich die jüngste deutsche Geschichte noch eindeutiger verdichtete als in der Hauptstadt Berlin. Deutschland … Schweres Schicksal - Jetzt war ich ein Teil von ihm. Und bereit, es mitzutragen.




Auszug aus: Carl Gibson,
Symphonie der Freiheit


Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur
Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe






Zeitzeuge und Autor Carl Gibson


Philosoph Carl Gibson
Mehr zum "Testimonium" von Carl Gibson in seinem Hauptwerk in zwei Bänden,
in:
"Symphonie der Freiheit"

bzw.
in dem jüngst (Februar 2013) erschienenen zweiten Band

"Allein in der Revolte".
Eine Jugend im Banat




Copyright: Carl Gibson (Alle Rechte liegen beim Autor.)
Fotos: Monika Nickel








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