Freitag, 26. November 2021

Weshalb verehren literarisch gebildete Franzosen Ernst Jünger? War der umstrittene deutsche Schriftsteller ein Unpolitischer, gar ein Amoralist?

 

  Weshalb verehren literarisch gebildete Franzosen Ernst Jünger? War der umstrittene deutsche Schriftsteller ein Unpolitischer, gar ein Amoralist?

In Frankreich besonders verehrt, in Deutschland umstritten: Ernst Jünger, ein Soldat und Naturforscher, der Bücher schrieb, zum Teil erfolgreiche Bücher, von Goebbels angefeindet und bekämpft, von Hitler beschützt, obwohl sich Jünger der NS-Bewegung verweigerte. Ein Unpolitischer[1] soll er gewesen sein, gar ein Amoralist im Gefolge Nietzsches?

Beides ist unhaltbar und durch Leben und Werk hundertfach zu widerlegen.

Noch erinnere ich mich an den Tag, an dem Francois Mitterand nach Deutschland kam, auch von dem Wunsch beseelt, Ernst Jünger zu treffen, ein lebendes Fossil, eine Ikone in Frankreich, in Deutschland isoliert, ausgegrenzt, in eine Ecke gestellt, fast geächtet – und das, obwohl ein wirkungsreiches Oeuvre vorliegt, ein noch wenig erforschtes Werk, das noch erkundet werden will, differenziert und nicht einseitig über einen moralischen Kamm geschoren[2]. Also reiste der Literaturfreund und amtierende Staatspräsident der Grande Nation in Begleitung von Kanzler Helmut Kohl an den Bodensee, um den fast schon Hundertjährigen, der schon im jugendlichen Alter und noch vor dem Abitur Frankreich als Fremdenlegionär gedient hatte, zu treffen, und um diesen – mit dem Ausnahmebesuch – zu würdigen – für die Taten in einem langen Leben, vor allem aber für das Werk, das zwar - naturinspiriert - außermoralische Ausgangspunkte hat, aber moralischer und dahinter auch politischer Natur ist.

Nemo propheta in patria? Ein französischer Staatsmann mit Sinn und Geschmack für besondere Literatur, außedrdem ein Politiker, der von Haus aus kein Konservativer wie Kohl, sondern ein Linker, ein Sozialist war, musste anreisen, und mit dem Gestus des distinguierten Besuches darauf aufmerksam machen, welche literarischen Schätze von Rang Deutschland noch birgt, Zeitzeugen, deren Testimonium man nicht zur Kenntnis nehmen will, weder literarisch, noch faktisch und historisch, während anderseits synthetisch konstruierte Biographien jenseits der historischen Wahrheit und der intellektuellen Wahrhaftigkeit für Nonsens-Literatur hundert Jahre nach Dada einen Nobelpreis erhalten.

Jünger, eine äußerst interessante Figur der Zeitgeschichte, hat seine Zeit aktiv mitgestaltet, als Stoßtruppführer gegen Frankreich im Ersten Weltkrieg, als Besatzungsoffizier im Zweiten Weltkrieg – und er hat, was selten ist, aber von großem dokumentarischem Wert – diese Zeit als Schriftseller beschrieben, fern von ideologischen Scheuklappen, also mehr den Fakten und somit der objektiven, verifizierbaren, historischen Wahrheit verpflichtet als andere, die, im Glauben zu wissen, wer die Guten sind und wer die Bösen, Partei ergriffen, sich festlegten, ethisch, moralisch und politisch.

Jünger aber blieb frei – und bezog – nur seinem Gewissen unterworfen - doch Position, etwa in der Frage der Judendeportation[3], die er, dem die Hände gebunden waren, in Paris hautnah miterleben konnte.



[1] So der Tenor der – etwas einseitigen – Dokumentation des Senders „arte“ über Ernst Jünger, die es dort nicht mehr gibt, aber auf „youtube“ unter dem Titel „In den Gräben der Geschichte“: https://www.youtube.com/watch?v=JLeuL5rB2l4

 

In dem Bericht werden mehrheitlich Stimmen aus der Forschung und Literaturkritik laut, die Jüngers Moralferne hervorheben, wobei die Gefahr besteht, dass das „Außermoralische“ missverstanden und mit dem „Unmoralischen“ verwechselt wird.

Dort im Internet auch: „Ich widerspreche mir nicht - Ernst Jünger" - kompletter Dokumentarfilm aus 1977,

https://www.youtube.com/watch?v=7j67SpT6Rwc

 

[2] Partiell wurde diese Einseitigkeit und Festlegung Jüngers auf einen engen Moralbegriff erkannt und zurückgewiesen, unter anderen Stellen hier:

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/dokumentarfilm-ueber-ernst-juenger-auf-arte-16505162.html

[3] Der Streifen „Die Verfolgten“,

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Verfolgten_(1974)

 über dieses sehr traurige Kapitel der Judenverfolgung in Frankreich unter aktiver Mitwirkung der Exekutive des Kollaborationsregimes Petain, speziell der Gendarmerie und der Justiz, beginnt mit einem Ernst-Jünger-Zitat, das den Ästheten inmitten der Verstrickung zeigt, ohnmächtig der Situation ausgeliefert, also einen Aspekt, den auch Schlöndorff in seinem Film einzufangen suchte: das Individuum im großen Räderwerk, das Opfer ebenso wie der Offizier oder der Gendarm.

 

Vgl. auch:

 

  Selbstkommentare … nach Nietzsche und Jünger

Wer sich selbst kommentiere, begäbe sich unter sein Niveau, meint Ernst Jünger.

Das mag zutreffen bei einem Autor, der noch der gesunden Urteilskraft seiner Leserschaft vertraut, der für ein Volk schreibt, das noch Bildung hat, geistig-philosophische wie Herzensbildung, das zu lesen versteht und das in seinem Geschmack nicht am Gängelband geführt werden muss. Ergo wurde Jünger in Frankreich verstanden, weniger aber in Deutschland, wo die freie Lesekultur dramatisch schwindet und wo auch im wissenschaftlichen Bereich eine nicht ideologisierte Literaturrezeption kaum noch stattfindet.

Begab ich mich also unter mein Niveau, als ich meinem Tausend-Seiten-Opus, der „Symphonie der Freiheit“, 2008, halb verstümmelt wie zerstückelt erschienen, ein langes Nachwort[1] hinterhersandte?

Das Werk, dessen Gattung und Gesamtkonzeption man immer noch nicht begriffen hat, teils angesiedelt in einem europäischen Land, das uns nahe sein müsste und doch so fremd und fern ist, musste „erläutert“ werden, nicht zuletzt deshalb, weil historische Fakten von anderen[2] im Vorfeld - teils in Unkenntnis, teils im Wahn - verzerrt und belletristisch umnebelt, ja, umgedeutet worden waren, zum Nachteil einer korrekten Historiographie, noch mehr aber zum Schaden von allgemein gültigen Prinzipien und Werten in einer Demokratie.

Manchmal sind Selbstkommentare eine faktische wie historische Notwendigkeit, will man nicht, viel Zeit verlierend, ein Werk, das bewusst in die Jetztzeit eingreift, seinem Schicksal überlassen, dem Zufall oder der Gnade jener Auserwählten, die in dieser Zeit zu Kommentatoren berufen sind.

Wie bereits an anderer Stelle immer wieder betont: ich halte es in diesem Punkt mit Nietzsche, überzeugt, dass jeder – bedeutendere – Autor nur ein großes Buch schreibt, während alles andere drum herum, Abhandlungen, Essays, ganze Werke, nur Vorreden, Nachreden, kurz Selbstkommentare sind.



[1] Recht publik geworden erst im zweiten Band des – gegen meinen Willen aufgeteilten – Werkes, das erst fünf Jahre später, 2013, erschien, nachdem der vertragsrechtlich eindeutig geregelte Druck mit anwaltlichem Beistand durchgesetzt worden war.

Wer hatte ein Interesse daran, „Allein in der Revolte“ zu verhindern und somit das Gesamtwerk „Symphonie der Freiheit“ zu schädigen?

 

[2] Speziell von Herta Müller.

 

 

 



 


 

Carl Gibson, 

Natur- und Lebensphilosoph, ethisch ausgerichteter Zeitkritiker,

Naturfotograf, im August 2021





Mehr zu Carl Gibson, Autor,  (Vita, Bibliographie) hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gibson_(Autor)

https://de.zxc.wiki/wiki/Carl_Gibson_(Autor)

(Das Wikipedia-Porträt Carl Gibsons in englischer Sprache)


https://www.worldcat.org/identities/lccn-nr90-12249/

 Bücher von Carl Gibson, zum Teil noch lieferbar.



Copyright: Carl Gibson 2021.

 

 

 

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